9.10.

Die elektrische Geladenheit des innerstädtischen Lebens, der Buzz, von Diane Charlemagne besungen, aber halt auch und mir noch lieber von Petula Clark, und von Epic Soundtracks, haut nach ein paar Tagen und Nächten extremen Landlebens freilich noch einmal ganz anders rein, beinahe schon so wie beim ersten Mal, wenn man, wie ich selbst, eigentlich vom Land kommt und für den Buzz dementsprechend empfänglich geblieben ist, weil man nicht allmählich ins Stadtleben in seiner Alltäglichkeit hineingewachsen ist, sondern blitzartig an irgendeinem Tag in früher Kindheit davon getroffen wurde. Das funktioniert ja auch andersherum: Stadtmenschen berichten dann von einem Naturflash, wenn sie nach Jahren zum ersten Mal auf eine Wiese in der Uckermark sich abgeworfen fühlen wie ein Carepaket, und rings um sie herum ist nichts mehr, was sie an den Buzz erinnert, noch nicht einmal mehr Hochspannungsleitungen oder Asphaltiertes – auch dieser Landissimo-Effekt ist besungen worden. In Naturträne von Nina Hagen.

Um mich zu akklimatisieren, war ich aus der S1 Unter den Linden ausgestiegen, um vor dem Niveahaus maulwurfshaft eine Weile vor mich hinzublinzeln. Das Niveahaus ist ein guter Ort, um sich zu akklimatisieren: vertraute Düfte, ein tröstendes Blau und der Schriftzug, mit dem ich ausschließlich angenehme Erinnerungen verbinde. Aktuell gibt es dort eine Aktion, für die Kunden sich an einem Stand im Niveahaus fotografieren lassen können, idealerweise zu zweit, denn die Botschaft aus dem Hause Beiersdorf lautet: sich gegenseitig öfter mal eincremen. »Hautpflege als Herzensangelegenheit«. Noch schöner ist die Kampagne in Frankreich, da lautet der Slogan schlicht »Le Soin«. In die Fotos wird dann die klassische Wortmarke der Creme montiert und die Fotografierten können eine mit ihrem Foto auf dem Deckel bedruckte Dose mit nach Hause nehmen. Das Customizing kostet inklusive Creme 4 Euro 90.

Gibt es auf dem Land alles nicht. Da gibt’s noch nicht einmal richtige Supermärkte, geschweige denn ein Niveahaus. Aber Selfies natürlich. Doch anderswo produzierte Bilddateien darf man nicht einschicken und per Mailauftrag auf die Dosen drucken lassen. Wahrscheinlich fürchtet man sich im Niveahaus zurecht vor Nacktbildern, Snaps et cetera.

Mit meinem leichten Gepäck, da halte ich es stets mit Astrud Gilberto, spazierte ich dann noch ein paar Meter den Boulevard hinauf, um am Potsdamer Platz meine Heimfahrt fortsetzen zu können. Geriet aber unvorhergeseherweise vor dem Brandenburger Tor in eine Demonstration der Deutschen Kommunistischen Partei. Ich wusste gar nicht, dass die noch existiert. Ich hatte geglaubt, die sei schon längst von der Linken absorbiert worden. Aber na gut, ich hatte ja auch geglaubt, dass es Frauen verboten war, sich zur Bundespräsidentin wählen zu lassen, bloß weil die antiquierte Sprache des Gesetzestextes mich das glaubend gemacht hatte. Und der Fall Gesine Schwan. Jedenfalls (ist der Kopf dicker als der Hals, wie meine Mutter zu solchen Gelegenheiten zu sagen pflegte) trottete eher denn marschierte ein Fähnlein alt gewordener Wackersdorfveteranen auf die US-Botschaft zu. Es waren Frauen und Männer im Verhältnis fifty-fifty, es gab Spruchtafeln, die mit grünem Edding auf gelber Pappe beschriftet waren, in einer Handschrift, die einen akkuraten Eindruck auf mich machte, aber auch etwas Zittriges hatte: »Schutz vor Terroranschlägen: Andere Völker in Frieden leben lassen und Rohstoffe fair handeln«, stand da auf einem. Zwei jüngere Männer schwangen Fahnen mit der weißen Taube auf blauem Grund. Eine Fahne, die ich gerne mag. Dazu schrie aber einer mit deutlich dickerem Kopf als Hals in ein Megafon. Die Leute kamen also nicht in rein friedlicher Absicht, so die Message. Es wird ja rätselhafterweise immer unverständlicher als ohne, wenn erst einer durch ein Megafon spricht oder brüllt. Der angebliche Stimmverstärker ist seines hypertrophen Brandings zum Trotz eine krasse Fehlentwicklung wie das Festnetztelefon Gigaset, trotzdem finden beide Geräte noch immer treue Anhänger. Warum noch niemand etwas besseres als die batteriebetriebene Flüstertüte erfunden hat? Vermutlich ist die Nachfrage auf dem Sektor Protestbedarf eher gering. Deshalb werden die Plakate ja auch noch immer handbemalt und nicht etwa bedruckt verkauft.

Na ja, dann wurde ein über und über mit den Karikaturen des US-amerikanischen Gesellschaftslebens tapezierter VW-Bus auf den Pariser Platz gefahren. Der hatte Lautsprecher, aus denen spielte zunächst Rammstein vom Band »Coca Cola wunderbar«, dann kam ein Lied mit Flöten von, ich glaube, Zupfgeigenhansel, dessen Refrain alle Demonstranten mitsangen. Der ging einfach so: »Go Home Ami, Ami Go Home«.

Währenddessen hatte es angefangen zu regnen. Viele deutsche Polizeibeamte ohne riot gear hatten sich vor dem Gebäude der amerikanischen Botschaft postiert. Und gegenüber vor derjenigen Frankreichs. Es fing dann noch eine Rede an ohne Megafon. Die Stimmung blieb friedlich, schulstreiksmäßig und angesichts des Scheißwetters gut.

Angekommen, wie es heißt, und dem heimischen Bahnhof entstiegen, zeigte sich der See mit stürmischen Wogen und von einer einzigen steingrauen Wolke in Form eines Bügeleisens gekrönt. Der aus dem zweiunddreißigsten Stockwerk in den Innenhof geworfene Einkaufswagen setzte sich von selbst wieder zusammen und flog unter der Zeitlupe wieder dorthin zurück, von wo er einst gekommen war. Auch ein Buzz, es gibt deren unterschiedliche, wie es mir scheint.