9.11.

Künstliche Träume, also solche, deren Bilderwelt aus einem Gemälde entstanden sind, gibt es auch, da waren Lorenz und ich uns einig. Er war nachschauen gekommen, ob es die Schnecken wirklich gibt. Zum letzten Mal waren wir uns im Frühling gegenüber gesessen. Damals noch an jedem Werktag in der Redaktion der Frauenzeitschrift, die zuerst er, dann ich verlassen musste. Nun saßen wir uns im beinahe schon wieder dämmrigen Licht mit Ausblick auf den kalten, großen und provozierend nutzlosen See gegenüber. Die Schnecken schliefen, eine jede für sich in ihrem Haus; die eine auf, die andere unter einem braun verwelkten Kirschenblatt.

Ich hatte Lorenz das Motiv einer Postkarte gezeigt, die Friederike mir vor ihrer Abreise nach Nepal geschickt hatte: Darauf war dieses Bild von Salvador Dalí zu sehen mit dem Titel, der so lang ist, dass die deutsche und englische Übersetzung der VG Bildkunst auf der Rückseite einfach halbiert abgedruckt worden waren, so als änderte das nichts Wesentliches daran, was die Biene ansonsten noch vorhatte, außer irgendwann einmal des Meisters Traum gestört zu haben. Lorenz nickte, auch er hatte schon einmal etwas aus diesem Gemälde Entstandenes geträumt. Allerdings sei damals die brennende Giraffe auf dem Altar unter den anderen gegrillt worden – also im Grunde flambiert. Möglich auch, dass unter der Einwirkung der Hitze des Giraffengrills damals seine Traumarmbanduhr angefangen habe zu schmelzen, jedenfalls sei er aufgewacht mit dem brennenden Gefühl, es sei bereits viel zu spät. Bezeichnenderweise konnte sich Lorenz aber nicht mehr daran erinnern, wann er diesen Traum geträumt hatte. Noch nicht einmal mehr in welchem Jahr.

Ich hatte mich beim Erhalt dieser Karte an einen Jugendfreund erinnert, Thomas Hirschhorn aus der Bahnarbeitersiedlung Kornwestheims, der als Stipendiat in die Klasse von Markus Lüpertz in Karlsruhe aufgenommen worden war. Der (also Hirschhorn) konnte damals schon extrem gut malen, geradezu georgecondohaft altmeisterlich, und hatte sein Kunststudium mit Auftragsarbeiten finanziert. Die Gegend strotzte ja außerhalb der Bahnarbeitersiedlung nur so von Leuten mit viel Geld und noch weniger Geschmack. Einigen von diesen wohlhabenden Mittelständlern verlangte es nach repräsentativer Kunst in Form handgemalter Unikate. Die lieferte ihnen Hirschhorn auf Kommando (Methode Kippenberger). Und ich erinnerte mich noch ganz genau, so als hätte ich das wiederum nur geträumt, dass es einen Auftrag gab, da verlangte einer von Hirschhorns Auftraggebern exakt jenes Motiv von Dalí, bloß dass die Tiere über der Nackten eben aus einer Coladose herausfliegen sollten und nicht aus dem Maul eines Knurrhahns. Und zwar, ich bin mir ziemlich sicher, dass ich das nicht nur geträumt hatte oder es einer künstlichen Erinnerung entspringt: weil dieser mittelständische Unternehmer eben exakt dies geträumt hatte. Woraufhin ihm Thomas Hirschhorn gerne und gegen gute Bezahlung diesen persönlichen Traum malte.

Wäre freilich interessant, später die Kinder und die Ehefrau dieses Auftraggebers befragt zu haben, in welchen individuellen Modifikationen sie den Traum Salvador Dalís später fortgeträumt hatten.

Am Morgen, heute 7 Uhr, nach einer Nacht, in der ich nach bildlosem Träumen um 5 Uhr 11 lächelnd kurz erwacht war: ein grandioser Sonnenaufgang vor beschlagenen Scheiben. In der kleinen Wasserschale auf der Brüstung war eine dünne Schicht Eis. Wie Milchhaut. Da mit der Spitze des Zeigefingers rein.