9.12.

Dieses herrliche Einkaufszentrum! Gestern, eigentlich hatte ich bloß Glühbirnen kaufen wollen, war ich dort schon um kurz nach neun. Um dann aber festzustellen, dass die Geschäfte erst ab zehn geöffnet werden würden. Ohne leider und zu müssen, übrigens. Es gibt keinen mir bekannten Ort in Deutschland, der von Menschen gemacht wurde, und der eine vergleichbare Anmut besitzt wie dieses Einkaufszentrum eine halbe Stunde vor der Ladenöffnungszeit. (Apropos: Stellen Sie, liebe Leser, sich doch bitte vor, gerade jetzt, da Sie diese Zeile mit der Anmut und dem Einkaufszentrum lesen, schöbe sich von oben her ein tannengrünes Schild ins Bild, auf dem dann nach einem einleitenden »Entschuldigen Sie die Störung« die Redaktion waahr um Spenden bitten würde. Ist mir eben genau so auf Wikipedia passiert, als ich kurz nachschauen musste, wie der Terminus technicus für die Öffnungszeiten für Geschäfte, Läden u.ä. lautet. Also ich finde das aufdringlich. Unangenehm. Zumal ich nicht unbedingt auf Wikipedia hatte nachschauen wollen, ich gab das Suchwort Ladenöffnungszeit bei Google ein. Wusste es eigentlich eh schon vorher et cetera.)

Der Grundriss des Gebäudes ist dem Ausschnitt aus der Silhouette einer kurzen, dafür extrem breiten Schlange nachempfunden, die sich gerade voranschlängelt. Darauf bauen sich zwei Stockwerke auf, in denen – das weiß ich seit gestern; es wurde mir mitgeteilt in jenem magischen Moment, den ich hier mit seinen Facetten zu beschreiben versuche – 170 Geschäfte untergebracht sind. Snackbars, Nailbars, Saturn, Turnschuhe, Rewe, dm, alles. Sogar eine Filiale des von mir so extrem geschätzten schwedischen Dekoladens Flying Tiger (wenn auch mit einem, im Vergleich zu dem in Schöneberg, empfindlich reduzierten Sortiment). Ein zentral im Erdgeschoss (das hier weltmännisch Grundebene sich heißt) aufgestellter Geldautomat, gibt die Scheine wahlweise in Schweizer Franken, US-Dollar oder eben Euro aus. Es ist dort, vor Beginn der Ladenöffnungszeit, still. Nur wenige Männer sitzen in den Wartezonen auf kurzen, mit genarbtem Kunstleder bezogenen Polsterbänken. Sie warten jeweils vor den mit eisernen Rollgardinen (ich schaue jetzt n i c h t mehr nach, weil ich nichts spenden w i l l !!!) verhängten Eingängen zu den Geschäften, die vor Beginn der Ladenöffnungszeit (damit hat sich jetzt meine Spende amortisiert) noch geschlossen haben. Ihre wenigen Besitztümer: Schlüsselbund (werden auch immer dürrer, seit es Codekarten und Systemschließanlagen gibt), Smartphone, Riesenkaffeebecher breiten sie auf dem Polster neben sich aus. Die Jacke lassen sie an. Den Schal auch um, obwohl es vor der magischen Stunde schon angenehm temperiert ist in den Gängen des Einkaufszentrums. Männer mögen keine Handtaschen. Viele lehnen sogar die offizielle Alternative Umhängetasche ab. Die meisten Männer haben sich aber gleichwohl von der althergebrachten Aktentasche abgewendet. Männer sind halt nicht nur in Bezug auf ihre Haltung den Taschen gegenüber wie traurige Geheimagenten, da hatte und hat Clemens J. Setz halt recht. Ob dem so sein wird?

Kunsthistoriker werden in dreitausend Jahren anhand der Ruine des Einkaufszentrums einen klugen Vergleich ziehen wollen hinsichtlich dem Grundriss (Schlangen dann vermutlich ausgerottet und, wie von Philip K. Dick prophezeit, allenfalls als verbesserte Nachbauten erhältlich; Sünde demnach auch bloß noch mimetisch empfunden – aber was heißt schon bloß noch; wer weiß, wie das dann kicken wird) und Hogarths Line of Beauty and Grace. Momentan befinden wir uns noch zu nah dran am 17. Jahrhundert (Die Lebensdaten Hogarths weiß ich ungefähr auswendig. Was mir größere Schwierigkeiten macht, ist die Umrechnung von Viererkombinationen in Jahrhunderte: 1856 beispielsweise: welches Jahrhundert? Bin dann immer versucht, 18. zu sagen, weil eine 18 die Kombination einleitet), um die Schönheit des Einkaufszentrums nüchtern sehen zu können, ungetrübt von den letzten zweihundert Jahren Malerei und Skulptur. Von daher kommt es uns mit seinen geschwungenen Gängen, den vogelnestartig über die armierten Brüstungen hängenden Sitzblasen, den Skeuomorphismen allerorten, den von innen nicht etwa traditionell ausgemalten oder blattvergoldeten, sondern violett verspiegelten Kuppeln und den Ausblicken hier und da auf getönte Stadtlandschaften und himmelhohe Türme einfach nur postmodern vor. Das ist momentan noch der einzige Begriff, den wir uns dafür gegeben haben. Aber in dreitausend Jahren! Da wird diese Epoche exakt und sehr fein in ihre Phasen zerlegt und beschrieben sein, dass es eine Lust sein wird, uns zu studieren.

Es war dann so, dass zu der Zeit, da die magische Stunde in dem Einkaufzentrum kurz zuvor stand, sich an dem Stand mit der Überschrift »Deluxe Döner« drei frisch aufgesteckte Dönerspieße sich vor keinem Publikum, und kein Tresenangestellter weit und breit zu sehen, nur für sich alleine drehten. Geräuschlos. Ein mechanisches Ballett. Wie einst von Sven Väth, dem großen Schamanen, Sohn der Stadt Frankfurt, in deren Mitte dieses Einkaufszentrum mehr gelandet schien als errichtet, prophezeit, als er sein den Techno zugleich beendendes und neuschaffendes Album nach diesem Moment of Beauty und Grace, dieser drei grazienhaft sich um sich drehenden Dönerspieße im menschenleeren Einkaufszentrum, schon so benannt hatte: The Harlekin, The Robot, The Balletdancer. Auch hier schon: Entwicklung. Auch hier: Zukunftsoptimismus. Auch hier, letztendlich: A Line of Schönheit und Anmut. Und dann: Eine sirihaft weibliche Stimme ertönt. Es gibt keine Schluckgeräusche, keine Atempausen mehr. Sie heißt die Besucher des Skyline Plaza Centers willkommen: »Alle 170 Geschäfte sind ab sofort für Sie geöffnet«. Und währenddessen heben sich mehr oder minder geräuschlos, aber synchron, sämtliche der eisernen Rolltore und geben den Blick auf die dahinter sich formierenden Verkäuferinnen frei. Die Wartenden erheben sich von ihren Bänken. Die Stimme aus den zahllosen Lautsprechern auf den bis eben noch menschenleeren Fluren des Einkaufszentrums wünscht einen schönen Tag. Im Anschluss läuft Lana Del Rey.