9.9.

Dieser September! Anruf von Joachim Lottmann (mit einer Nummer, die ich noch nicht kannte): Offenbar hält er sich in Berlin auf, angeblich ist es ihm sogar gelungen, den legendären Wartburg wieder zu reaktivieren. Er bittet um ein klandestines Treffen, am Apparat ist von einem unveröffentlichten Manuskript die Rede, das er mir zeigen möchte. Er könnte sich gut vorstellen, dass es für Waahr interessant ist.

Zuvor traf ich mich mit Erik und Heiko am Birdhouse, um dann nach einer Einsatzbesprechung in Heikos Baustellenfahrzeug die seiner Einschätzung nach kritischen Punkte im Berliner Straßenverkehr abzufahren. Das Gute an diesem Einsatzfahrzeug ist, dass man es aufgrund einer Sondergenehmigung überall abstellen darf. Der bullige Jeep ist mit Seilwinden und sogar mit einem schwenkbaren Arm eines kleinen Krans ausgestattet. Es sieht hochoffiziell aus, beinahe ein bisschen bedrohlich. Vor allem klebt auf dem Dach eine orangefarbene Warnleuchte, die Heiko auf mein Bitten hin auch einschaltet.

Mir war nicht klar gewesen, wieviel Freude mir das Zählen von Radfahrern bereiten könnte. Immense! Als Heiko dann noch enthüllt, mit welchen Summen er diese simple Freuden bereitende Tätigkeit bei seinen Auftraggebern abrechnen könnte, sehe ich eine glanzvolle Zukunft vor mir. Solange ich das Zählen im Sommer durchführen dürfte. Es ist so warm, dass ich den ganzen Tag barfuß herumgehen kann, was erstaunlicherweise immer wieder für Aufsehen unter den Passanten sorgt. Manche fühlen sich durch meine unbedeckten Füße etwas provoziert. Als Erik einen auf dem Radweg fahrenden Motorrollerfahrer bittet, auf die Straße zu wechseln, droht einen Moment lang die Eskalation des ansonsten friedvollen Nachmittages. Aber dann schaut er sich Eriks Statur etwas genauer an, zusätzlich hatte ich ihn bereits auf die Warnleuchte auf unserem auf dem Radweg abgestellten Einsatzfahrzeuges hingewiesen. Vernünftigerweise fügt er sich und rollt ohne ein weiteres Schimpfwort dahin.

Der Ausblick auf die spektakuläre Autobahnkreuzung in der Innenstadt von Schöneberg, der uns versprochen worden war, erweist sich allerdings und leider als Ente: Unter den angegebenen Koordinaten landen wir im Hinterhof einer Hochhaussiedlung aus den Fünfzigerjahren. Den Verkehr auf dem Autobahnkreuz können wir von dort aus zwar hören, aber nicht sehen.

Barfuß mache ich mich auf den Weg zu meinem Treffen mit Lottmann. Er trifft ohne den Wartburg vor dem Souterrain ein. Aus einer Sporttasche überreicht er mit eine Klarsichthülle, in der sich zwanzig eng mit einer elektrischen Schreibmaschine bedruckte Seiten befinden. Meiner Vermutung, er habe eine IBM Kugelkopf benutzt, widerspricht er jedoch: Anscheinend hatte die in der DDR hergestellte Robotron allerdings deren klassisches Schriftbild platt kopiert. Es gibt keinen Abzug, auch kein zweites Exemplar. Joachim Lottmann weiß diese Aura des Kostbaren noch weiter zu steigern, in dem er jede einzelne Seite des Manuskriptes mit seinem iPhone abfotografiert (»Falls Du auf dem Heimweg stirbst«), bevor ich sie ihm vorlesen darf. Es handelt sich tatsächlich um jenen sagenhaft gewordenen Text, den er einst über Martin Kippenberger verfasst hatte. Ein geradezu unverschämtes Jubelporträt, das zeitgleich, also 1988, mit einem ebenfalls von Lottmann verfassten Totalverriss Kippenbergers publiziert werden sollte. Erschienen war damals aber, bedingt durch eine unselige Verkettung unglücklicher Umstände, lediglich der Totalverriss, was in Folge für einen zehn Jahre tiefen Knick in der Karriere Joachim Lottmanns wie es heißt: sorgen sollte.

Der Text ist, vorsichtig ausgedrückt: eine Sensation. Ich verspreche, gut auf ihn aufzupassen. Dann reden wir noch ein wenig über die Freuden des Alters, über das Altern, Altwerden vor alledem, über die richtige Lebensweise im Alter, die Rolle des Alterswerkes und über das Gefühl der Souveränität über das eigene Leben im Alter. Dann war die Sonne untergegangen und wir gingen beide, ein jeder für sich, er auf dem weißen Damenfahrrad und ich mittlerweile doch wieder in Schuhen, nach Hause.