Disco Devil

Unter sich bezeichnen die Schweizer unser Land als den Grossen Kanton. Noch niemals zuvor in meinem Erwachsenenleben war ich so lange in der Schweiz gewesen. Vor allem hatte ich noch nie zuvor so viele Tage als Gastarbeiter für sie arbeiten dürfen. Das mit dem Kanton war nur ein Teil vom Geheimwissen, ich hatte über die zwei Wochen noch einiges mehr davon ansammeln können. Denn mit einem Mal, ich kann den Moment der Öffnung präzise benennen mit dem Abend, da ich zu dem Buffet eingeladen worden war, hatten sich selbst diejenigen von ihnen, die ich, beispielsweise Beda, schon länger nun als zwanzig Jahre kannte, sich mir als zutraulich gezeigt. Und das, wie es mir Jan einst über die Funktion des Geschlechtsverkehrs für Beziehungen beigebracht hatte: veränderte alles.

So weiß ich nun, analysiert anhand eines zwar kleinen, jedoch für mich repräsentativen Samples von Schweizern aus Zürich, dass deren abhaltende Haltung aus dem Hineingeborensein in ein Volk von Tourismusbetreibern sich verstehen läßt: »Lass ja niemanden, der bei dir zu Gast ist, in dein Herz, denn du wirst ihn verabschieden müssen; und wahrscheinlich nie mehr wiedersehen dürfen.«

Nach alldem, was wir danach noch miteinander erlebt hatten, ging mir dieser Spruch nicht mehr weg. Ich sah sie, meine schweizer Freunde, von da an in einem neuen Licht. Verbunden damit, sie nie an meinem Verlustigwerden leiden lassen zu wollen.

In der Bahn dann, wir hatten soeben die Grenze auf badisches Gebiet überquert, schaute ich durch die Fenster auf die Spargelplantagen. Auf grünende Bäume. Und allzu bald änderte sich auch in dem ununterbrochen dahinfahrenden Zuge der Ton, so dass ich mich nun endlich zuhause angekommen fühlen musste. Doch fühlte ich einen inneren Abstossungsprozess. Ich hatte, ganz klar, im Paradies gelebt für zwei Wochen. Was mich jetzt erwartete war die Heimat, war Deutschland, es war der Grosse Kanton, aber: warum bloß konnte ich diese Heimkehr nicht als eine solche empfinden? Warum war mir, innerlich, eher zumute nach einem einzigen, heillosen Saubannerzug?

Bei der Einfahrt nach Esseda spürte ich die Frühlingsluft. Und Friederike eröffnete mir, dass die Mume gestorben war — vermutlich, denn sie hatte am Morgen eines der uns wohlbekannten Kopftücher im Container für Plastikabfälle gefunden (und zum Beweis fotographiert.)

Immerhin also sachgerecht entsorgt. Wir fragten uns natürlich, ob es jetzt spektakuläre Trauerrituale dort in der unter uns gelegenen Wohnung geben würde, die ich mitschreiben könnte. Ihre uns vertrauten Plüschpantoffeln standen allerdings wie eh und je vor der mumischen Wohnungstür.

Es schlossen sich daran an die herrlichsten Tage. Ich stand ja noch immer sehr stark unter dem Eindruck meines Hausbesuches bei Lee Scratch Perry in der Wallfahrtsgemeinde Einsiedeln. So saßen wir tagelang auf dem Balkon, tranken Campari und lauschten den alten Aufnahmen, die er noch in seinem Black-Ark-Studio auf Jamaika produziert hatte.

Lucifer, son of the mourning/I‘m gonna chase you out of earth!

Die Schweiz steht auf der Tabelle des Humanity Development Index auf dem zweiten Platz. Übertroffen hier bloß noch von Norwegen. Die Bundesrepublik Deutschland folgt auf Platz 3. und zwischen der Schweiz und dann Deutschland kommt, wie es scheint, sehr lange nichts. Von daher will ich mir gar nicht vorstellen, wie es in den Vereinigten Staaten zugeht, denn die werden auf elfter Stelle geführt. Ich hatte diese Liste erst nach meiner Abreise entdeckt, ansonsten wäre ich £$P wahrscheinlich noch einmal ganz anders entgegengetreten. Jamaica steht ja eher auf einem dreistelligen Platz im HDI. Er, Lee Scratch Perry, ist ja nach all seinen Fahrten noch immer er selbst geblieben, wie es mir schien. Und dass er nun dort in den Bergen lebt, irgendwann auch dort sterben wird wahrscheinlich, das muss ihm doch wie ein Wunder erscheinen, oder? Wie dieses Wiedergeborensein, von dem er bisweilen spricht.

Bei der Heimkunft in Berlin: Immerhin Hauptstadt der Kastanienblüte. Und in den Straßen des Bergischen Viertels blüht der Rotdorn. Das weckt Erinnerungen an die Sommer auf Gut Ostergaard in Steinbergkirche, eingebettet in die Rapsfelder rings der Geltinger Bucht. Nachts dann die Nachtigall ab ein Uhr. Hat wohl noch immernoch keine gefunden. Wir zählen schon Mai! Im Aquarium des kleinen chinesischen Restaurant, das es seit mir unwirklich scheinenden 25 Jahren schon geben soll in meinem Viertel, dreht ein Schulbushaft (amerikanisches Modell) gefärbter Fisch seine Runden um eine gefühlvoll winkende Anemone, die wie ein Wischmopp ausschaut.

Wahrscheinlich, dachte ich bei mir, war der beste Satz, den Bret Easton Ellis bislang verfasst hatte, doch der letzte in Glamorama.

Und eigentlich war ich wie dieser Fisch.