Everything counts

Am Rande des Hansaviertels am Tiergarten steht eine bizarre Skulptur. Vor etwas über einem halben Jahr habe ich sie entdeckt, seitdem bin ich ihr mehrmals pro Woche begegnet, aber gewöhnen konnte ich mich an ihren Anblick so gut wie nicht. Manchmal, nicht immer, aber wenn ich in Gedanken bin und mich innerlich nicht kurz auf die Begegnung vorbereite, durchfährt es mich: »Oh, die Skulpur!«.

Es handelt sich um sogenannte Kunst im öffentlichen Raum. Da gibt es freilich kaum schön anzuschauende Beispiele. Jedenfalls was Kunstwerke aus dem 20. Jahrhundert betrifft. Mir fällt da aus Deutschland eigentlich nur ein Stabile von Alexander Calder vor der Buchhandlung Wittwer in Stuttgart ein, eine Bronze von Henri Moore in Bonn, die Feldkapelle von Peter Zumthor in Mechernich, wobei ich mir da schon gar nicht mehr sicher bin, ob das noch Kunst im öffentlichen Raum sein soll oder schon Architektur. Die beste Kunst im öffentlichen Raum stammt von Fischli & Weiss (aus dem Jahr 1987): ein irritierend maßstabsverkleinertes Bürogebäude mit drei Stockwerken, das weder schön noch hässlich ist, sondern einfach nur verkleinert. Man kann es irgendwo in der Stadt aufstellen, dort fällt es nicht groß auf, aber halt doch und als Passant denkt man über Häuser nach. Es heißt auch so: Haus.

Besagtes Standbild an der Altonaer Straße aber kann nichts als Kunst sein, denn wozu sonst könnten zwei zu einem mannshohen Stapel aufeinander aufgetürmte Würfel aus Beton gut sein, auf deren Oberkante sich eine sehr große, senkrecht und dabei scheinbar aus dem Nichts herabgefahrene Hand mit ihren Fingerspitzen sich an dem obenaufliegenden der beiden Würfel zu schaffen macht dergestalt, dass der sich vermeintlich, aber eben nur vermeintlich, es handelt sich um ein trompe l‘oeuil, im Griff der bronzenen Fingerspitzen (die gesamte Hand besteht aus Bronze) über Eck gedreht zu haben scheint? Und dazu kommt, mich stört es, befindet sich in der ärmellosen Manschette der Hand noch eingelassen eine rechtwinklige Anzeige einer Digitaluhr mit roten Ziffern, die nicht etwa die Fantasieuhrzeit im Staate Utopia anzeigt, nein, dort leuchtet stets die korrekte, deutsche, für den Betrachter an der Hansastraße zutreffende Stunde.

Zeit kommt dann auch zur Rettung dies missratenen Dings. Zeit und Internet. Noch vor wenigen Jahren hätte ich einen extremen Aufwand betreiben müssen, um herauszufinden, was es mit diesem Kunstwerk auf sich hat. Erst hätte ich einen Greis finden müssen, der sich mit Kunst im öffentlichen Raum auskennt, dann einen, der Bescheid weiß über Videoclips aus den achtziger Jahren. Nun weiß all dies der Multigreis: Das Kunstwerk heißt also Hand mit Uhr und stammt aus den siebziger Jahren. Von einem Bildhauer, den man heute nicht mehr kennt. Anscheinend musste er seinen Wirkungskreis auf Westberlin beschränken, kannte dort wohl jemanden im Senat, denn auch der abgrundtief hässliche Brunnen am Breidscheidplatz geht auf sein Konto. Die Hand mit Uhr wurde in den achtziger und neunziger Jahren mit Graffiti besprüht, der Hand wurden die Nägel silbern lackiert, die eingebaute Uhr wurde beschädigt usf. In dem makellosen Zustand, in dem ich sie dann erst entdeckt habe, gibt es sie erst wieder seit wenigen Jahren. Die Skulptur wurde tatsächlich restauriert. Allerdings nicht originalgetreu, denn ursprünglich war der obere der beiden Würfel wohl auch noch mit roten Fliesen umkleidet.

Kunstgeschichtliche Bedeutung erlangt die Skulptur aus meiner Sicht einzig durch die vorletzte Einstellung in dem Videoclip zu Everything Counts. Da sieht man die Musiker von Depeche Mode die Hand mit Uhr umtanzen. Der Himmel über Berlin ist blau. Und in der nächsten Einstellung zeigt die Kamera das Strandbad am Wannsee. Ein Schwenk übers Wasser, am Ufer entlang, da sind viele Bäume. Hier wohne ich.