Im Reich der Sinne

Ein prachtvoller Tag, von seinem Anblick her. Die Sonne strahlt, der Himmel auch, und der Spiegel des Sees gibt das in einem tiefdunklen Blau wieder. Hinaus konnte ich allerdings nicht, denn es ging ein eiskalter Wind. Vom nächsten Baum aus leuchtete die geschwellte Brust des Gimpelhahnes pfirsichrot. Der wollte freilich zurück an die Futtersäule und zieh mich, so als hätte ich mich zu verziehen, wann immer ich mich davor stehend am Fenster der Balkontür zeigte.

Ich ließ mir ein Bad ein. Und las, bis das Tageslicht versiegte, in A Tokyo Romance, einem Buch von Ian Buruma, in dem er sich an seinen jahrelangen Aufenthalt im Japan der Siebzigerjahre erinnert. Da geht es gleich zu Anfang um die Farbenwelt der fremden Stadt. Unter dem azurfarbenen Septemberhimmel stellt der Fremdling fest, dass die ihm bekannten Holzschnittgrafiken der Japaner wohl nicht, wie von ihm angenommen, aus künstlerischen Gründen in poppigen Tönen gedruckt worden waren. Jetzt sieht er, dass die Lichtverhältnisse dort in Tokio tatsächlich so sind.

Ich stellte mir vor: ganz ähnlich wie hier, wie heute nur, an diesem Tag.

Er beschreibt ein Café, das hieß Versailles und befand sich in einem Souterrain in einer hektischen Gegend. Die Einrichtung der fensterlosen Räume bestand aus vergoldetem Louis XIV-Mobiliar, Kronleuchter klimperten, die Wände bestanden anscheinend aus Marmor und halb erblindeten Spiegeln. Aber in Wahrheit war dort drunten alles aus Sperrholz und Plastik gemacht. Wie er erzählt, saßen die Japaner stundenlang im Versailles und dazu spielte vom Tonband Richard Claydermann.

»Schau«, sagt zu ihm ein Freund, ein Amerikaner, der schon ein paar Jahre vor ihm nach Tokio gezogen war »Um in Japan leben zu können, mußt Du Romantiker sein. Jemand, der sich selbst zu kennen glaubt, wer sich nicht in Frage stellt, oder über seine Bestimmung rätselt, wird es hier nicht aushalten. Die radikale Andersartigkeit der Kultur wird bald unerträglich. Für den Romantiker aber, der sich den Variationen des Möglichen aufgeschlossen zeigt, steckt Japan voller Wunderbarem. Du wirst zwar niemals ein Teil davon werden. Aber genau das wird dir zur Freiheit verhelfen. Und Freiheit ist wichtiger als Nationalität. Hier kannst du nämlich zu dem werden, der du sein willst.«

Das Versailles gibt es längst nicht mehr. Ian Buruma vermutet, dort sei mittlerweile eine Filiale von Starbucks eingezogen. Oder aber das gesamte Gebäude exisitiert schon nicht mehr. Alles ist möglich. Denn hier, so der Autor, ähnelt Tokio auch Los Angeles. Er zitiert Christopher Isherwood, der einst, aus Berlin kommend, die Hinfälligkeit der Architektur von Los Angeles mit Befreiung empfunden hatte. Die Häuser sind nicht für die Ewigkeit entworfen, sie sind nicht für die Ewigkeit gemacht, weil auch die Menschen nicht ewig da sind, um in dieser verfallsgeweihten Architektur zu leben.

Badend fragte ich mich, ob diese eine Ähnlichkeit vielleicht daher kommt, dass Tokio und Los Angeles am gleichen Wasser gebaut sind. Am Pazifik, der wie ein blaues Lebewesen alles in sich hineinzieht, was in seine Nähe kommt. Vor meinem Fenster, der See wie ein Segeldrache, der flach am Boden liegt und niemals hochkommt. Auch wenn ihn, wie heute, der Eiswind zum flattern bringt. Die Abendsonne glitzernd darin. Amaterasu.