Lila

Die Antwort Julia Kristevas auf meine Frage trifft am Nachmittag ein. Ihre E-Mail-Adresse besteht aus einer Kombination von Buchstaben und Ziffern @aol.com. Hatte ich auch mal vor 25 Jahren. Und davor nur Zahlen @compuserve – ich weiß schon nicht mehr, ob .de oder .com. Sie schreibt ein Englisch, das es eigentlich gar nicht mehr gibt. Mit Anrede und Entschuldigung, Oxford-Komma und Ausblick in eine mögliche Zukunft vor der Verabschiedung. Die Schrift ist auf circa 6 Punkt voreingestellt. Ich muss dem Display sehr nahe kommen und dazu die Brille absetzen, um ihre Zeilen entziffern zu können. Ich werde alt.

Sie ist noch älter. Ihre Sprache ist so wundersam, es braucht eine Weile, bis ich verstehe, woran das liegt; wie sie das macht: sie drückt sich aus. Es ist eine E-Mail ohne Rücksicht auf das Medium. Sie schreibt eine E-Mail wie einen Brief. Mit der Hand. Klar, aber halt so, als ob sie einen Stift führt. Dass es Tasten sind, die sie bedient, dass ihre Zeilen elektronisch übermittelt werden, die Übertragung nichts kostet, die Verwechslungsgefahr mit sogenanntem Spam (doppelt so gefährlich mit einer solchen Adresse), das Immaterielle und Formlose der E-Mail ist ihrem Schreiben nicht anzumerken. Es liest sich wie Handschrift mit Tinte ausgestreckt auf einem Bett aus Papier.