MIT DER RHODOPENBAHN VON SEPTEMVRI NACH VELINGRAD

Sofia ist die grünste Hauptstadt in Europa. Dieser Eindruck ergibt sich interessanterweise nicht beim Flanieren entlang der mehrspurig befahrenen Boulevards, die es selbstverständlich gibt, sondern beim Blick in die davon beständig abzweigenden Seitenstraßen, die dicht mit alten Laubbäumen bestanden sind. Man fühlt sich dort hineinverlockt und geht dann unter Alleen zwischen den Häusern hindurch bis zur nächsten Verzweigung, wo es in alle drei Richtungen und scheinbar für immer so weiter geht. Bald hinter der Kathedrale des Heiligen Alexander Nevski, die mit ihren vergoldeten Kuppeln Zeugnis gibt vom einstigen Goldreichtum Bulgariens, wird es mit den Häusern links und rechts des Baumschattens noch einmal besonders schön. Das Viertel beherbergt in seinem Zentrum die Botschaft der Vereinigten Staaten, was sich unter anderem am wie plötzlich erscheinenden reichhaltigen Vorkommen teurer Limousinen und SUV erkennen lässt. Erste Schaubäckereien mit Kühlregalen voller aus Deutschland importierter Demeter-Produkte und den Fruchtsäften von Van Nahmen bedienen die Nachfrage einer gehobenen Käuferschicht aus Expats, deren Suche nach glutenfreiem Backwerk oder laktosefreien Milchersatzprodukten überall sonst in Sofia ergebnislos verlaufen müsste. Dabei sind es gerade die herrlichen Milchprodukte, insbesondere der sagenhaft sahnige, dabei stichfeste Joghurt, der für die bulgarische Ernährungsweise stehen könnte, sollte und steht. Nicht umsonst ist die oberste von drei Farbschichten der Landesflagge milchweiß.

Und dann eben das Grün. Kaum hat der von einer Diesellokomotive angeführte Zug den selbstbewusst überdimensionierten Hauptbahnhof von Sofia verlassen, geht es an menschenleeren Bahnsteigen vorbei hinaus vor die Tore der Stadt. Hier gibt es in abwechslungsreicher Folge die monströsesten Industrieruinen aller Zeiten zu bestaunen. Einst, vor, wie es deren Verwitterungs-, Verrostungs-, Entfensterungs-  und Einsturzgrad nach scheint, sehr langer Zeit, müssen hier gewaltige Produktivkräfte nur eben noch so in Hallen gepfercht und dort unter Dampf gesetzt worden sein; heute schweigen sämtliche Räder nur still und dazwischen gedeiht der Essigbaum. Bald darauf tröpfelt die Architektur rasch aus und weite Flächen ozeanischer Getreidefelder oder solcher mit Mais rollen ins Bild vor den Fenstern. Die Traktoren oder auch Mähdrescher, die für die Ernte auf solchen Ländereien benötigt würden, kann man sich von ihren Dimensionen her kaum noch vorstellen. Eventuell werden dann hunderte von normalgroßen Fahrzeugen dicht an dicht nebeneinander einherfahrend eingesetzt – wer weiß. Was bleibt, ist der Eindruck eines mächtigen Bodens. Und durch die heruntergezogenen Abteilfenster weht heiße Luft herein. Am Horizont stehen die Berge im bläulichen Dunst.

Wofür steht das Rot?

Bei der Anfahrt auf Septemvri – die Stadt ist im Bulgarischen tatsächlich mit dem Namen des Monats benannt – lassen sich Störche sehen. Erst einige wenige Exemplare, die vereinzelt durch die Fluren staksen, dann, mit den ersten Industrieruinen, sind dort auch Nester, wie wir sie bloß noch aus Büchern kennen: dick und scheibenrund, vor allem stets in größtmöglicher Höhe auf erkalteten Schloten, auf dem Arm eines Krans, dessen Turm schon bis auf halbe Höhe von den Schlingpflanzen vereinnahmt ist. Hier, am Bahnhof von Septemvri, der genau so aussieht, wie man sich einen Bahnhof im bulgarischen Hinterland vorstellt, kann in die fabelhafte Rhodopenbahn umgestiegen werden. Eine der wenigen Eisenbahnen auf Schmalspurgleisen, die es noch gibt auf der Welt. Der Zug steht schon bereit: drei Waggons und eine Lokomotive rumänischen Fabrikats, von deren Karosserie die rote Lackfarbe in breiten Schuppen malerisch abblättert. Der Motor läuft sich warm. Vor dem Bahnhofsgebäude gibt es einen eindrucksvollen Ulmenhain, in dessen Schatten es sich angenehm auf die Abfahrt warten lässt. Ein Greis versucht, drei Gurken auf dem verbogenen Gepäckträger seines Fahrrades zu befestigen. Ansonsten ist es leer und still.

Bahnfreaks mag die Spurbreite der Rhodopenbahn begeistern. Uns gefiel daran, dass man zwischen den Abteilen auf den Trittbrettern stehend im Freien reisen darf. Es war außer uns beiden nur noch ein weiterer Passagier an Bord. Und der Schaffner, glücklicherweise nicht halb so streng wie der im Darjeeling Ltd. Auch beherrschte er das Kunststück, vor dem Halt an einer der kleinen Stationen unterwegs, bereits während der Einfahrt vom vorderen Teil des fahrenden Zuges aus auf den Bahnsteig zu springen, um dort dann schon eine Zigarette rauchend zum Stehen gekommen zu sein, bevor der Zug selbst es ihm erst gleichtun konnte.

Außerdem wird man während der eineinhalb Stunden von einem mal mehr mal weniger reißenden Gebirgsbach begleitet; es gibt steile Hänge, felsige Gipfel, und weitgehend haben mich die ersten Ausläufer der Rhodopen hier an Norditalien erinnert und ans Tessin. Der Baumreichtum ist enorm, vor allem gibt es aber Eichenwälder, so dass ich mich fragte, wie es mit dem Trüffelvorkommen in Bulgarien ausschaut. Wenn der Zug in einen Tunnel fährt, sollte man den Atem anhalten. Dann heizt sich die Atmosphäre um das Trittbrett herum blitzartig auf, als ob einer die Backofenklappe aufgerissen hat im Dunkeln und der Dieselqualm verpestet die Luft.

Vier Stunden würde der Zug auf diese Weise noch weiterfahren, um dann am Ende gerade etwas mehr als 100 Kilometer hinter sich gebracht zu haben. Das Haar voller Insekten stiegen wir von der Rhodopenbahn ab. Es war noch hell, und noch immer sehr warm. Velingrad, unser erstes Etappenziel und somit Basislager für die Expedition, schaute dann doch ziemlich genau so aus, wie man sich »The Spa Capital of The Balkans« vorstellt. Trotz der allgegenwärtigen Geranien. Und die Erinnerungen an die Straßen von Sofia, obwohl erst einen Tag alt, erschienen uns so farbig wie in die Ferne gerückt zugleich.