Negus

Ingo schreibt, dass ich mich irrte. Und zwar war es wohl das ebenfalls unverkäuflich gebliebene Manuskript zu dem Buch mit dem Titel Unwirtlichkeit: Zur Situation des Journalismus in den deutschen Städten, an dem wir in teils monatelangen Abständen seit dem Jahr 2000 geschrieben hatten, dessentwegen wir ein eigenes Verlagshaus im Internet gründen wollten. Kann auch sein. Manchmal glaube ich, dass ich die Perspektive des unzuverlässigen Erzählers verinnerlicht haben muss. Ich kann mich noch gut daran erinnern, dass wir uns irgendwann zuvor mit Tom Lamberty im Restaurant Diener in Charlottenburg getroffen hatten, um ihm dieses Manuskript dem Merve-Verlag anzubieten. Allerdings war der, Lamberty, damals gerade etwas frustriert von der für ihn enttäuschend verlaufenden Zusammenarbeit mit Ulf Poschardt, dessen mit Spannung erwartetes Werk mit dem Tite Der Geschmacksbürger einfach nicht in die sogenannten Gänge gekommen war. Und das, wo Ulf doch anlässlich seines ebenfalls bei Merve verlegten Sportwagenbuches dem damals noch bei der taz beschäftigten Cornelius Tittel in den Block diktiert hatte, dass es sich beim Merve-Verlag, unter Discjockeys gesprochen, um „das Äquivalent zum House-Music-Label Strictly Rythm“ handelte. Wobei ich auch sagen muss, dass die Konditionen, zu denen im Hause Merve die Manuskripte angekauft werden, nicht eben ideal waren. Tom Lamberty, da waren wir schon beim Du, offerierte uns Freixemplare in beliebiger Zahl. Und damit hatte es sich.

In der für ein Start-up alles entscheidenden Phase, jenem Moment, in dem die ausgearbeitete Website für die User freigeschaltet wird, war ich abwesend. Bald nach den Tagen in Ivo Wessels Garage und dort auch in dem Eiscafé gegenüber, war ich nach Äthiopien umgezogen, in das Hotel am Ende des Universums. Dem Kalender nach war es August, doch in der subsaharischen Zone hatte die Regenzeit angefangen. Es regnete Tag und Nacht. Da die Leitungen für Strom und Telefon, somit auch die Verbindungen zum Internet, wie beispielsweise auch in Indien üblich, frei und in losen Bündeln quer durch die Lüfte baumelnd verlegt waren, richtete die extrem gestiegene Luftfeuchtigkeit in der Regenzeit landesweit Schädliches an. Wenige Tage nach meiner Ankunft in der hoch in einem Gebirge gelegenen Hauptstadt starb dann auch noch der Ministerpräsident, der Äthiopien mehr als dreißig Jahre lang regiert hatte. Es wurde sofort Staatstrauer verhängt dergestalt, dass, wenn einmal Strom da war, dieser in dem Hotel ausschließlich dazu benutzt wurde, den einzigen Fernsehapparat, der würfelförmig war, anzuwerfen, um den einzigen Sender empfangen zu können, der dann in Standbildern an Momente im Leben des verstorbenen Ministerpräsidenten erinnerte. Dazu lief eine elegische Flötenmelodie. Man saß dann bei Kerzenlicht, probierte von den über der Kerosinflamme erwärmten Speisen der traditionellen Küche und nippte am äthiopischen Bier, das allerdings sehr gut schmeckte, weil noch zu Kaiserzeiten eine in Deutschland gefertigte Brauereianlage nach Addis Abeba geliefert worden war.

Den Kontakt zu Anne und Ingo konnte ich auch in den Wochen nach dem Ende der Regenzeit, der Jahresbeginn wird am 11. September mit dem Meskalfest gefeiert, kaum aufrecht halten. Das hoteleigene WLAN war hauchzart und es genügte das Flügelschlagen eines der zahlreich im Gemüsegarten umher flatternden Vögel, um eine minutenlang aufgebaute Verbindung zu verwehen. Ingo, der mich nach einigen Wochen besuchte, bekam eines Nachts beim Versuch, eine Skype-Verbindung aufzubauen, einen gewaltigen Wutanfall und versuchte es danach nie mehr.

Das Versprechen der Internetkultur, nämlich von überall aus arbeiten zu können, über Kontinente und Zeitzonen hinweg an ein und derselben Arbeitsstätte – dem Internet, auf einem und demselben Marktplatz – dem Internet, erfüllte sich für mich in diesem Jahr beinahe kaum bis gar nicht, weil ich hinter den äthiopischen Bergen wie abgeschnitten vom Internet allein unter Vögeln lebte. Als ich nach dem Meskalfest des darauf folgenden Jahres nach Deutschland zurückkehrte, schaute ich waahr und was daraus geworden war, wie zum ersten Mal.