VON HEIMERDINGEN NACH BAD MERGENTHEIM UND ÜBER BURTON-ON-TRENT ZURÜCK NACH FRANKFURT UND BERLIN

Die Amseln sind nicht verschwunden, erklärte mir mein Vater am Telefon. Sie haben sich derzeit in die Wälder zurückgezogen, weil sie in der Mauser sind.

Seinen Anruf nahm ich im Salon zur Goldenen Schere entgegen, der mir mittlerweile zum Stammfriseur geworden ist, obwohl ich viel zu selten in Frankfurt bin. Während mir dort das spärlich gewordene, dennoch wie unverdrossen sprießende Haupthaar in Form gebracht wurde, dachte ich an all meine Friseurbesuche an all den Orten auf der Welt nach, weil sie mir seltsamerweise prägnant und wie plastisch in Erinnerung erhalten waren. Möglich, dass es den Kunden von Prostituierten allüberall ähnlich geht. Das Haareschneiden ist ja ein intimer Vorgang. 

Einmal, das war in den Neunzigerjahren, als es in Manhattan noch ein veritables East Village gab, besuchte ich dort einen Salon, der wurde von armenischen Greisen betrieben. Die schäumten mir den Bart mit einem intensiv nach Lavendelöl duftenden, angewärmten Schaum ein, um mich zu rasieren – und bei ihnen selbst war das mit Blue rinse bishin ins Lila getönte Haupthaar wie eine synästhetische Entsprechung gewesen von diesem Lavendelduft.

Später dann, so fiel es mir ein, befand ich mich einst am östlichsten Zipfel des Hornes von Afrika, in der Stadt Harar, die unter anderem als Fourth Holiest City of Islam (nach Mekka und Medina und Jerusalem und so weiter) berühmt ist, auch als Wohnort des Dichters Arthur Rimbaud, aber vor allem und möglicherweise auch deswegen für das dort angebaute Rauschkraut Qat, ja: man nennt die Gegend dort sogar La Bordeaux of Qat.

Ganz plötzlich, die Straßenszenen waren ja dementsprechend abschreckend gewesen, verspürte ich den dringenden Wunsch, mich rasieren zu lassen. Begleitet von Eva und Ingo betraten wir einen dort ortsüblichen Stall mit Lehmwänden in der schneckenförmig angelegten Innenstadt. Der Barbier war schon drauf. Es stand ihm der Abschaum des grünen teehaft gekauten Rauschgemüses vor den Lippen, und über meinen ihm gegenüber geäußerten Wunsch, nämlich mich von ihm mit der Klinge rasieren zu lassen, erschien er uns selbst vor allem am meisten erstaunt.

Ernst Jünger hat hier von einer »höheren Neugier« gesprochen, die uns in eine solche Lage verlockt. Jedenfalls musste der Mann zunächst einen Buben schicken, um am nächstgelegenen Souk eine Rasierklinge zu kaufen. Für ihn wird die Rasur eine weit mehr psychedelische Erfahrung gewesen sein, denn für mich.

Auch gut war Istanbul. Überhaupt der arabische Raum, wo mir in Beirut, ausgerechnet beim Abschaben im Kehlbereich andauernd Ausschnitte aus der New York Times vorgezeigt wurden, in denen man die jüdischen Gewalttaten unter Kissinger dokumentiert sah.

Das dauerte Tage, während derer ich mich in meiner Heimat entspannen musste, um all dies vergessen zu können, was ich hier und dort schon gesehen und erlebt hatte.

Meine Mutter fürchtete sich – völlig zu recht – vor den Wespen, die allgegenwärtig waren. Bloß fragten wir uns: Wo kommen die her?

Dann, es war nach einem herrlichen Mittagsschlaf, fiel mir plötzlich die Erzählung von Poe ein; die mit dem Brief. Und mein Blick landete auf dem sogenannten Insektenhotel, das gleich über dem Springbrunnen an einem hölzernen Sichtschutz hing. Als meine Mutter dann, sie ist gegen das Gift von Bienen und Wespen allergisch, den Nebel aus der Sprühdose dort in den Eingangsbereich – die Lobby – hineinverströmen ließ, purzelten ihr Dutzende der schwarz-gelb gestreiften Spießgesellen entgegen. Manchmal ist es halt doch ganz leicht.

Am Sonntag dann besuchten wir den Vater in seiner Kurklinik im Wald über Bad Mergentheim. Acht Wochen waren es nunmehr schon her gewesen, dass er aufgrund seiner anfänglich noch lustigen Gelbfärbung von uns entfernt worden war. Wir gingen zusammen was essen. Und es tat mir weh, ihn alleine dort zurücklassen zu müssen (so, wie es Eltern wohl weh getan haben muss, ihre Kinder bei anderen zurücklassen zu müssen, um sich um ihre eigenen Geschäfte kümmern zu können.)

Abends fuhren wir immer ins Stückle, und ernteten von den Mirabellen und Äpfeln so viel, dass er, bei seiner Heimkehr am Mittwoch, noch das Gefühl des Erntesegens erhalten würde, obzwar er in diesem Jahr nichts mehr selbst noch ernten können wird.

Als wir dann in Birmingham landeten und über die Landschaft der Grafschaft (vielleicht war’s auch umgekehrt,) fuhren, war mein Blick noch immer landwirtschaftlich geschärft. Also sah ich vor allem die herrlichen Wiesen und Rasen, die Hecken, das Strotzen der englischen Natur. Bei der Hochzeit in der Kathedrale von Leicester betete der Priester dann vor, dass die beiden sich in richer and in poorer times ertragen sollten.

Nehme mal an, dass letzteres eintreffen wird.

Burton after sunrise, Britain before brexit: wenn das Licht stimmt, ist das Land einfach herrlich. Ich habe noch nie solch schöne Szenen geschaut. 

Burton-On-Trent ist eine Brauerei-Metropole. Zudem wird hier angeblich die Aufstreichpaste Marmite abgefüllt. Von beiden, meiner Befürchtung nach extrem geruchsintensiven Prozessen, war an diesem zurückliegenden Wochenende nichts zu spüren. Glücklicherweise.

Im Junkspace, also in einer Shopping Mall, das war am Nachmittag des Sonntags vor dem Abflug, kauften wir einen bluetooth-fähigen Hasen aus weißem Gummi, der einen silbrig vergitterten Lautsprecher bleckt. Wir saßen dort in der Einkaufshalle und der Hasenlautsprecher spielte London Calling.

Es hat, obwohl viele der dort flanierenden Greise so auffällig wie primitiv an den Unterarmen tättowiert waren, außer uns niemanden sonst interessiert.