WOHNFORMEN DES MITTELALTERS
Jetzt tritt es schlagartig hervor, mir in den Sinn, während ich, dick eingepackt in isolierende Schichten durch die selben Straßen gehe wie noch vor wenigen Tagen und dort, überall, an den selben Stellen die Mitmenschen sehe (nicht entdecke), die auf dem Trottoir liegen oder schon auf sind, sitzen. So lange es warm war, auch nach Sonnenuntergang erträglich vielleicht, hatte das zwar etwas Elendes, jetzt ist es unvorstellbar geworden, wie sich das aushalten läßt: ein Wohnen ohne Wände und Gardinen; nichts um einen herum, das einen abschirmen kann vor den anderen, die heim gehen können (oder in ein Büro.) Auch Oskar hat, als wir zuletzt noch über Frankfurt sprachen, erzählt, dass er die an der Ringstraße direkt gegenüber des Hauptbahnhofs auf bräunlichen Matratzen lagernden Mumen beeindruckend findet. In einem Sinne von stark. Mächtig, weil er sie sich gleich als Clanchefs vorgestellt hatte. Der eisige Wind bläst von diesen Phantasien das Fleisch in Fetzen weg. Nichts bleibt.
Was ist nackter als nackt, so nackt, dass es knackt?
Alexander Kluge hat in dem Gespräch mit Michaelsen auf die Frage nach der Scham geantwortet, dass er die nie hätte. Er sagte »Nicht einmal beim Nasepopeln.« Ich schäme mich, wenn ich auf dem Weg zum Erzeugermarkt durch die Taunusstrasse abkürze, weil mir kalt ist und dort dann die Männer und Frauen in meinem Alter sehe, manche noch älter, die auf ihren schmuddelig gewordenen Ballen hocken, um nachzudenken über Geld.
Heute früh schaute ich aus dem Fenster in den blanken Hinterhof, wo (durch das Fernrohr war es mir nah,) das Eichhörnchen, einen halben Apfel zwischen den Kiefern, von einer Dachrinne aus in die durchsichtig gewordene Krone des Kirschenbaumes sprang, um seine Beute dort in einer Astgabel festzuklemmen. Akrobatik, kein Applaus. Das ist ja natürlich, gehört sich so, aber es wäre, denkt man es sich auf unsere Proportionen umgerechnet gerade, als würde ein Erwachsener (konnte nicht erkennen, ob es ein weibliches Eichhörnchen war,) mit einem Laib Bauernbrot zwischen den Zähnen von einem Hochhausdach zum nächsten springt, ohne dies Brot zu verlieren.
Dann, als die rote Apfelhälfte gesichert war, sprang es weiter, in ein Gebüsch. Darauf näherten sich Vögel, weichschnabelige Meisen, um von dem Apfel abzupicken. Zwar dementsprechend wenig nur, aber trotzdem wurde der Vorrat dadurch geschmälert. Keine Tür, keine Wände hat die Speisekammer des seidig unverwuschelten Eichhörnchens.
Bei Vertigo ist meine Lieblingsszene die, wenn Kim Novak aus dem Ankleidezimmer kommt, vollendet verwandelt, und James Stewart sagt aus seinem Sessel heraus »Komm her.« Sie ziert sich, weil sie fürchtet, er könnte sie verwuscheln, ihr das Make Up in Ordnung bringen »I have my face on.«
Dann, wenig später »Ach verwuschel‘ mich doch ein bißchen.«