Zeit essen Texte auf

Stefanie soll am 10. Februar in Münster einen Vortrag halten über waahr.de. Sie fragt, wie es zur Gründung kam. Enstehungsgeschichten sind natürlich interessant. Die Genese der Welt aus einem Wort im Dunkeln, die Genese der Frau als Gehilfen des Menschen aus einer seiner Rippen, die Genese Manhattans aus einem Beutel voller gläserner Perlen, die Genese des Lapsang Souchong aus hastig über qualmendem Pinienholz getrockneten Teeblättern, die Genese des Personal Computers in einer Garage. Der Betriebswissenschaftler Lars Vollmer hat mir einmal erzählt, dass sich sehr große Firmen mittlwerweile eine Garage einbauen lassen in ihre Gebäude, in denen sich dann die leitenden Mitarbeiter versammeln können, um sich im Inneren der Garage vom Spirit der Garage zu neuen Ideen inspirieren zu lassen.

Waahr.de war ursprünglich ein Start-up. Ingo hatte bis zu diesem Sommer des Jahres 2012 viele Jahre lang an einem Roman geschrieben, der sich dann als noch schwerer zu lesen herausgestellt hatte als sein vor vielen Jahren erschienener Roman Der Effekt. Der war ja immerhin noch von einem Verlag gedruckt worden. Der neue, mit dem Arbeitstitel Da wurde überall abgelehnt. Wir beschlossen, einen eigenen Verlag zu gründen, um diesen Roman zu veröffentlichen. Aus Kostengründen im Internet. Beim Pizzaessen in einer Pizzeria am Saum des Volkspark Friedrichshain lernten wir, während sich unser Gastgeber Holm Friebe lautstark mit seiner Mutter um die Begleichung der Rechnung stritt, einen dubiosen Kunstsammler kennen, der uns zu verstehen gab, dass er Apps programmieren konnte. Vor allem gab er uns zu verstehen, dass Apps das neue Ding waren. Und da wir ihm nicht so recht glaubten (weder, dass er programmieren konnte, noch das mit den Apps), vor allem auch deswegen, weil Ingo noch nicht einmal ein Smartphone besaß, lud uns dieser Mann mit dem wie schlecht ausgedacht klingenden Namen Ivo Wessel für den nächsten Mittag zu sich nach Hause sein. Er sprach dabei von seiner Garage. Wir dachten, es sei ein Labor. Und gingen, auch das war ein Faktor, davon aus, dass Ivo Wessel uns dort ein Arbeitsfrühstück servieren würde, dass Ingo sich als nahrhaft ausmalte und ich mir als köstlich.

Doch leider war es keines von beiden, denn es gab dort nichts. Vor Wessels Garage parkte allerdings sein Sportwagen, ein Lotus, der wie eine geschmolzene Badewanne geformt war mit zwei Froschaugen vorne, und das in gelb. Auch Ivo Wessel selbst ging stets, das war auch am Pizzaabend der Fall gewesen, ganz in Gelb gekleidet. Außer Haus setzte er sich mit einem lilafarbenen Hut aus Filz das i-Tüpfelchen auf. Seine Räumlichkeiten, es war nur ein einziger, dafür sehr großer Raum in einer ehemaligen Fabrik, wiesen zwar eine beeindruckend langgestreckte Küchenzeile auf, aber die diente ja leider nur zu Dekorationszwecken. Ansonsten gab es noch elend viele Industrieregale, in denen Bücher gelagert wurden. Der Fußboden war bedeckt mit installativer Kunst und Skulpturalem. Wenn man nicht genug von junger Kunst versteht, derjenigen mit dem Fachbegriff wet paint, schaut das ja schnell mal nach Gebasteltem oder kaputt Gegangenem aus. Zumindest bleibt es schwer abzustauben.

Nach einem Initiativvortrag Wessels mussten wir uns stärken. Es gab, gleich gegenüber auf der anderen Seite der Straße, ein Eiscafé, das, denn damals ernährte ich mich einer mir selbst auferlegten und vor allem selbst konzipierten Diät zufolge ausschließlich von Spaghetti mit Tomatensauce, auch kleine Gerichte auf der Karte hatte. Während des Essens, Wessel war drüben an seinem imposant über der Kunstsammlung thronenden Schreibtischsessel verblieben, um seine Abrechnungen mit dem iTunes-Store abzuheften, entwickelten wir die Idee für die App. Da der Roman mit dem Titel Da angeblich unlesbar, also zumindest mühselig zu lesen war, sollte unsere App das Herunterladen des Textes ins Bewusstsein des Users erleichtern. Ingo erinnerte an eine kleine Reportage, die ich vor vielen Jahren für die Berliner Seiten der Frankfurter Allgemeinen Zeitung verfasst hatte. Darin war ich anlässlich einer Übernachtung im ersten Hostel für Rucksacktouristen einem dort lebenden Mann begegnet, der einem anderen von einem genialen Trick berichtet hatte. Und zwar hatte er, weil er des Nachts im Bette liegend noch dem Fernsehen frönte, seinen Fernsehapparat auf dessen schmale Kante hochkant aufgestellt, um, selbst dabei auf der Seite liegend, das Bild aus seiner bevorzugten Liegeposition heraus sozusagen verzerrungsfrei und mühelos einschlürfen zu können. Heute würde man das als Lifehack bezeichnen. Damals, als ich den Text verfasste, gab es dieses Wort noch nicht.

Ungefähr so also, zumindest so ähnlich, sollte unsere App funktionieren. Ich war satt. Wessel schlug das Prinzip des Teleprompters vor. Wir kauften im Internet eine interessant aussehende Schrifttype, die außer uns niemand anders verwenden wollte bislang, weil sie nicht nur von polnischen Typographen entwickelt worden war, sondern auch noch so ähnlich hieß. Als Farbe für das App-Symbol wählten wir des Wessels Farbtick wegen Gelb. Judith Banham, unsere Creative Directorin in Detroit, gestaltete aus der Polenschrift und der Farbe eine wunderhübsche Corporate Identity. Bis dahin hieß unsere App noch Lorem, später dann waahr. Mit zwei aa, weil wir Annes Nachnamen so interessant fanden und sie die dritte im Bunde werden würde. Was wiederum Judith dazu inspirierte ihre Schwurhand auf den Scanner zu legen et voilá.

Aus der Idee mit dem Teleprompter wurde dann vermarktungstechnisch leider nichts, weil mir schon in der Betaversion nach drei Minuten schwindlig wurde durch das Lesen im force feed modus. Ich wurde regelrecht seekrank. Also nicht vom Content, sondern vom Modus. Anscheinend will das Bewusstsein selbst bestimmen, in welcher Geschwindigkeit es sich etwas reinzieht. Experimente mit der Frontkamera, die es bald gab (wegen Selfies), also dass die kontrolliert, in welcher Geschwindigkeit die Augen über die Zeile huschen und die Abspulgeschwindigkeit der virtuellen Schriftrolle dementsprechend angeglichen werden kann, fruchteten nicht wirklich. Ein befreundeter Mitarbeiter aus der Bewusstseinsforschung am Max-Planck-Institut, Jonas Obleser (sic!), riet uns, den Plan, wie er es nannte »ad acta« zu legen. Die Kunsthaufen auf dem Boden der Wesselschen Garage schauten wir in diesem, einem für uns nicht ganz neuen Lichte.

Que faire?

Wir hatten ja noch die Domain. Keine App ohne Domain. Aber immer Domain ohne App. Alle anderen Verlagen führten Bezahlschranken ein und wollten mit alten Texten zusätzliches Geld verdienen. Aber hey, wir waren die square ones to fit in a round hole. Wir waren Start-upper, Entrepreneure, wir waren, wie es in Ingos Protokollbuch Minusvisionen so schön hieß: Unternehmer ohne Geld. Überall wo wir waren, war Garage. Also beschlossen wir das Game disruptiv aufzubohren. Und haben damit in den letzten sechs Jahren die komplette deutsche Verlagslandschaft zersägt.