Hier wohnt Botho Strauß

Reportage
zuerst erschienen in Fiction Nr. 3, 2003

Hält man die übliche Durchschnittsgeschwindigkeit ein, erreicht man, vom Berliner Ring an, die Autobahnausfahrt in einer Dreiviertelstunde. Eingerechnet ist der Halt bei der auf halber Strecke gelegenen Raststätte, in gleicher Funktion die letzte Tankstelle bis kurz vor dem polnischen Stettin. In dem modernen Rundbau der Raststätte ist die im Haupka Verlag erschienene Deutsche Rad-Tourenkarte Nr. 9 (Uckermark Neubrandenburg) im Maßstab 1:100000 erhältlich. Die Karte zeigt mehrere Wege, die zum Ziel führen. Eine Variante, vorgesehen ist das zweimalige Überqueren der Autobahn, fiel für uns jedoch aus, da beide Brücken gerade ersetzt wurden. Es handelt sich um einspurige Brücken, deshalb ist es nicht möglich, sie zunächst einseitig abzureißen, während die andere Seite befahrbar bleibt. Wenn die neue Brücke direkt an Stelle der alten gebaut wird, muß der Verkehr zeitweise unterbrochen werden. Das war bei der einen Brücke, sie führt einen Forstweg, der Fall.

Kurz nach dem Verlassen der Autobahn aber, nach Fahrt durch ein kleines Waldstück, erreichten wir ein Straßendorf, vor dessen einzigem Gartenlokal wir einen Einwohner antrafen. Auf unsere eigentlich nur rückversichernde Anfrage, ob wir uns auf dem richtigen Weg befänden, antwortete dieser uns mit der Beschreibung eines Weges, dessen Verlauf wir keiner der in der Karte entdeckten Varianten zuordnen konnten. Das Gesicht des Einwohners wurde beschattet von einer Lackierermütze, erkennbar waren nur seine kreuz und quer stehenden Zähne, dick wie Zuckerwürfel oder die eines Pferdes, später auch seine aufgerissenen Augen. Immer wieder setzte der Einwohner in schwerem Schlesisch zur Beschreibung an, um sie zu präzisieren und etwas Vergessenes zu erwähnen, doch heraus kaum jedesmal nur eine genaue Wiederholung des bereits Gesagten. Um mit dem Einwohner zu sprechen, waren wir in die Zufahrt des Gartenlokals eingebogen. Nun stellte sich heraus, daß wir die so eingeschlagene Richtung beibehalten konnten. Aber nach wenigen Metern verwandelte sich der Weg. Aus der asphaltierten wurde eine aus Platten gelegte Straße. Nach den letzten Häusern wurde sie durch einen Mittelrain gespalten in zwei mit schmäleren Platten befestigte Pfade, die in einen Wald führten. Davor kam uns ein Auto entgegen, und wir wichen in eine Haltebucht aus. Der Weg teilte den Wald in zwei Hälften, auf der linken Seite ein ungeordnetes mehrfach übereinandergestürztes Wirrwarr an Mischwald, rechts hinter der obligatorischen Birkenreihe erstickend dicht gesetzte rostbraune Nadelstämme. Auf asphaltierter Straße ging es geradeaus weiter in den nächsten Ort. Im übernächsten suchten wir vergeblich nach der „ersten großen Kreuzung“, an der wir, so der Einwohner, links abzubiegen hatten. In diesem Straßendorf gab es keine Kreuzung, nur vereinzelte Stichstraßen. Zwangsläufig verstanden wir die Stelle, an der die allererste Stichstraße linkerhand abging, als die große Kreuzung. Hinter einem Gartenzaun sahen wir zwei Einwohner, die einen Satellitenteller auf den Empfangsbereich ausrichteten. Wir sprachen sie an, um uns noch einmal des Weges zu versichern. Nach einem kurzen Zögern bestätigte einer der beiden, daß wir immer geradeaus den gesuchten Ort erreichen würden. Erst würde die Pflasterstraße von einem Plattenweg abgelöst, dann von einem Feldweg, der sich aber bald teile. Dort hätten wir uns rechts zu halten, dann sei der Ort da. Auf dem Schild, das uns das Ortsende ankündigte, war die obere Hälfte, die üblicherweise den folgenden Ort nennt, leergelassen. Zwar gabelte sich der Feldweg wie beschrieben, doch von dem von uns gewählten rechten aus, der unser Auto in steiler Schräglage an einem Hügel entlangführte, sahen wir, daß sich die beiden Wege schon nach fünfzig Metern in einer schmalen Senke wieder zusammenschlossen. Die Landschaft war dicht gewellt, und nichts schien sich von den makellosen, zentimeterkurz abgegrasten Weideflächen zu erheben außer den bis auf die Stengel abgefressenen Brennesseln. Die Ortseinfahrt führte uns bergab, an einigen Neubauten vorbei zu einem umzäunten Areal. Dutzende Kühe standen dort zwischen Zweckbauten aus nacktem Beton. Die Dächer waren aus Wellblech, die Fenster eingeschlagen. Auf dem Grundstück wuchsen ausschließlich Sauerampfer und Disteln. Den Zaun entlang hatten die Kühe einen schmale Pfad getrampelt. Hinter ihnen ragte ein Mobilfunkmast auf, in dieser verlassenen Gegend ein Zeichen der nahen, wenngleich kaum hörbaren Autobahn. Das Pflaster, über das wir fuhren, war so stark profiliert, daß einzelne Kopfsteine den Unterboden des Autos schrammten. Wir mußten das Tempo unter die Schrittgeschwindigkeit zurücknehmen, trotzdem hatten wir den Ort unversehens schon wieder verlassen. Das Schild, das uns das Ortsende ankündigte, stand hoch über uns, weil sich die Straße hier so weit abgesenkt hatte. Wir kehrten um und wählten diesmal die erste Stichstraße rechts, die uns vorbei an einer Gemeindewiese auf einen Damm führte. Auch hier hatten wir den Ort schon nach wenigen Häusern hinter uns gelassen und der Weg endete unvermittelt an einem Abhang. Wir setzten zurück und parkten auf einer kleinen betonierten Fläche. An einem verwitterten Pfeiler hing ein Baskettballkorb, das Netz aus rostigen Ketten. Der Hang, an dem wir standen, war in einem Karee mit unterschiedlichen jungen Bäumen und Sträuchern bepflanzt. Am angrenzenden Hang wölbte sich ein bunter Laubwald, und daneben sahen wir das weiße Haus. Wir gingen direkt darauf zu. Am rechten Fenster des oberen Stocks war Botho Strauß zu sehen. Wir umrundeten den Wald. An dessen dem Haus abgewandter Seite fanden wir zwei große Holunderbüsche, das Holz abgestorben bis in die Spitzen, jeder voller Früchte. Davor in der Wiese lagen die Grundmauern eines quadratischen Hauses. Auf dieser Fläche könnte ein neues Haus entstehen. Der Ort ist Teil eines Biosphärenreservats und deshalb ist ein Neubau nur dann erlaubt, wenn er in das Volumen eines vormaligen Gebäudes paßt. So erklärten wir uns das seltsame Aussehen des weißen Hauses. Schon vom Abhang aus war es uns bizarr schmal erschienen, kaum vier Meter breit. Die französische Fensterfläche, die die Giebelseite weitgehend einnahm, war quadratisch. Die zum Süden ausgerichtete lange Vorderseite dagegen wurde nur von sehr wenigen und kleinen Fenstern unterbrochen und die des oberen Stockwerks waren so knapp unter das Dach geschoben worden, daß der Schlagschatten der Regenrinne auch bei niedrigem Sonnenstand auf große Teile der Fensterfläche fallen mußte. Nur ein 1926 in Helsinki errichtetes Wohngebäude des finnischen Architekten Gunnar Taucher reflektiert noch konsequenter den Baustil mediterraner Zweckbauten. Wie bei Strauß‘ Haus verbannte Taucher das allerletzte Profil aus der reinen weißen Fläche, die Dachschräge blieb minimal. Die Breitseiten perforierte Taucher mit kleinen Fenstern, die schmalen Giebelseiten beließ er bis auf die Durchlüftungsschächte des Dachbodens sogar fensterlos. Allerdings handelt es sich bei diesem Gebäude um eine Mehrfamilienbehausung. Die eigenwilligen Proportionen des weißen Hauses dagegen sind den Baugesetzen der Biosphäre geschuldet. Der von uns angenommene Platzhalter auf dem Grundstück war die für diese Gegend typische langgestreckte Scheune. Strauß nutzte das von ihr vorgegebene Volumen maximal aus. Die Dachschräge minimierte er so weit, daß an jeder Stelle des Obergeschosses hochaufgerichtetes Sitzen möglich wurde. Als wir dem Haus näherkamen, entdeckten wir durch das Gebüsch, daß er sich außerdem noch ein weiteres, drittes Stockwerk geschaffen hatte, indem er das Volumen unterkellert, dieses Souterrain auf der Hangseite freigelegt und mit Fenstern, Veranda sowie Terrassentür ausgestattet hatte.

Der Wald war nach allen Seiten von Dickicht verschlossen. Inmitten des Brombeergestrüpps entdeckten wir eine Lücke, die sich beim Passieren jedoch als tückisch erwies. Der Weg durch die hochgewachsenen Sträucher schien uns nun vergleichsweise einfach. Im Inneren des Waldes war es fast leer, so weit standen die Baumstämme voneinander entfernt. Dennoch trugen sie ein lückenloses Blätterdach. Wie das Gebüsch, das den Wald seitlich abschirmte, kaum einen Meter in die Tiefe reichte, war auch der Laubschirm nur dünn. Taghell war das Licht und grün getönt. Wir sahen eine Bank. Sie stand an der Krümmung eines schmalen Schotterweges, der, gleich neben der Bank beginnend, aus dem Wald ins Freie führte. Das Holz war nicht verwittert, und der Schotter leuchtete wie eben ausgeschüttet. Junge Eschen säumten den Weg, der uns entlang einer großen rechteckigen Rasenfläche führte. Die eine Längsseite nahm eine über fünfzig Meter breite Scheune ein. Die Natursteine des Mauerwerks waren gesäubert, das Holz des Fachwerks frisch lasiert. Das rechte Fünftel des Gebäuderiegels war als Wohnraum ausgestattet. Links und rechts einer kleinen Eingangstür wurde die Fassade von Isolierfenstern durchbrochen. Die restlichen vier Fünftel waren im Gegensatz dazu nur mit verglasten Luken versehen. Die großen Rolltore standen geschlossen. Auf ganzer Länge des Gebäudes war ein Graben ausgehoben. Wir folgten seinem Verlauf bis zu einem Erdloch, neben dem ein Pritschenwagen parkte. Zwei Arbeiter in Blaumännern säuberten ihre Spatenblätter, indem sie mit den Stiefelabsätzen den Lehm heruntertraten. Wir sprachen sie an. Was hier verlegt würde, fragten wir sie. „Starkstrom. Das braucht der dahinten.“ Daraufhin erkundigten wir uns, ob es in dieser Gegend möglich sei, ein Haus zu erwerben. „Hier nicht“, antwortete der eine, und nach einem scheelen Blick zum Kollegen: „Oder hast du noch eine Immobilie?“ Der andere schüttelte den Kopf. Nun verabschiedeten wir uns, betraten die Rasenfläche und setzten uns auf eine lehnenlose Bank. Hier war eine quadratische Senke ausgehoben, mit schwarzer Teichfolie ausgekleidet und mit einem großmaschigen Zaun umhegt worden. Das schalenförmige Bassin war bis auf halbe Höhe gefüllt, so daß der größere Teil der Teichfolie unbedeckt blieb. Vor uns erstreckte sich entlang der zweiten Rasenlängsseite eine weitere vorne offene Scheune. Sie war leer. Wir nahmen an, daß es sich um einen Unterstand für schweres Feldgerät handelte. In der Verlängerung der Firstlinie des Baus sahen wir das weiße Haus, und davor ein zweites, kleineres. Proportionen, Farbe und Fensterverteilung glichen jedoch denen des großen Hauses. Wahrscheinlich war dieses kleinere Haus auf dem Grundriß eines Schuppens entstanden. Wir gingen vorbei an der Einfahrt, die zu den beiden Gebäuden führte. Das Gattertor stand offen, auf dem gekiesten Vorplatz parkte ein dunkelblauer Toyata Celica älteren Baujahres. Am Zaun neben dem großen Torschild war ein Briefkasten der U. S. Mail befestigt. Im hinteren Teil des Gartens hing weiße Wäsche auf der Wäschespinne. Wir folgten dem Verlauf des Gartenzaunes, zuerst in den Wald hinein und dann im rechten Winkel abbiegend den Hang hinunter. Dort wuchsen einige Kartoffelboviste, die Hüllen geborsten, die Sporenwolken längst ausgetreten. Am unteren Ende des Grundstücks wurde der alte grün isolierte Maschendrahtzaun abgelöst von einem Lattenzaun aus unbehandelten Teak, der eine Tür einfaßte. Über der Tür war der Zaunkamm leicht geschwungen. Durch die Schlitze zwischen den Latten sahen wir ein betoniertes Vogelbad, an dessen Rand der Beton zu zwei gegenübergelegenen Ausbuchtungen aufgetragen war, die Platz boten für je eine Teakholzbank im Salonstil. Entlang des Zaunes war der den Wald umschließende Dickichtgürtel nicht zu durchdringen. Wir gingen zurück in den Wald und verließen ihn an derselben Stelle, an den wir ihn anfangs betreten hatten. Erneut umrundeten wir den Wald, dieses Mal in einem weiteren Bogen, der uns in die Senke führte. Von hier war das untere, dem Erdreich enthobene Stockwerk des weißen Hauses wieder verborgen. So gesehen entsprach das Haus den Taucherschen Proportionen.

Durch den Boden der Senke führte ein etwa zwanzig Meter langer Stichkanal. Die Wasseroberfläche war vollkommen mit Entengrütze bedeckt. Wie schon der Wald war auch das Ufergras von zahlreichen Fröschen bevölkert. Der Stichkanal wies auf ein kleines Areal, das von trockenen Bäumen und Buschwerk bestanden war. Als wir nähertraten, entwischte eine Schlange von ihrem Sonnenplatz ins Gestrüpp. Um das Areal führte ein Trampelpfad, das untere Laubwerk war abgefressen, das Innere war versumpft, tote Wurzeln staken aus dem Matsch. Hinter dem Areal führte der Trampelpfad hinaus ins Weideland. Das kurzgefressene struppige Gras reichte bis an den die Landschaft von allen Seiten umgebenden Forst. Unterbrochen wurde diese Fläche nur durch eingestreute Feuchtinseln verschiedener Größe, in einer verbarg sich ein kleiner See mit vier Schwänen. Immer wieder fanden wir im Gras rötlich runde Steine, die Hinterlassenschaften einer Moräne. Gletscherverschiebungen der Eiszeit hatten auch die Hügel aufgeworfen. Auf ihrem höchsten befanden wir uns in Augenhöhe mit dem weißen Haus. Wir konnten durch die Fenster hindurch den Himmel sehen.

Zurück nach Berlin versuchten wir einen der auf der Landkarte entdeckten Wege. Er führte uns in den nahegelegenen Forst und dort an die Baustelle der einspurigen Brücke über die Autobahn. Der Baggerführer winkte uns rechts an einen Erdweg heran und wir passierten die parallel zur alten geführte, neue Brücke. Auf der anderen Seite verließ die Straße in Kürze den Wald. Es begann der Nachbarort. Wieder ein Straßendorf, das sich um eine echte Kreuzung herum erstreckte. Auch hier gab es keine Läden, nur eine Wirtschaft. Die scheunenartige Baracke lag zurückgesetzt und um einige Meter erhöht. Auf dem Vorplatz waren Tische und Bänke aufgestellt. Nirgendwo war ein Mensch zu sehen. Erst am Ortsausgang war eine Familie mit Ausbesserungsarbeiten an ihrer Hauswand beschäftigt. Nach diesem Ort wurde aus der Pflasterstraße ein Sandweg. Am Bahndamm war um das ehemalige Streckenwärterhäuschen herum ein Gehöft errichtet worden. Auf den Dachplatten des Vorbaus stand weiß auf grau BERLIN. Wir parkten und stiegen aus. Das Gehöft stand auf einem dreieckigen Grundstück, eingepaßt zwischen Bahndamm und Feldrand. Ein langes Rohr führte von der Regenrinne des Hauses über das Vorgebäude bis beinahe heran an den Zaun, um sich über einer mit schwarzer Teichfolie ausgekleideten Mulde zu öffnen. Die Mulde war trocken. Rostig gewordene, säulenartige Maschinenteile, jedes von ihnen mehrere Meter hoch, standen links und rechts vom Tor. Hinter dem Haus waren weitere Fundstücke arrangiert. Aneinander zementierte Weinflaschen bildeten eine Mauer. Blechbälle drehten sich im Wind. Ausladende Stahlkonstruktionen wippten auf einbetonierten Federn. Auf dem äußersten Zipfel des Grundstücks standen Stuhl und Tisch. Den Bahndamm entlang war weiteres Material gelagert. Vom Tisch aus blickten wir über sanft abfallende Felder auf einen See. Zur nächsten Tankstelle würden es dreißig Kilometer sein.