Dodo, Kaviar und Kakerlake

Reportage
zuerst erschienen am 23. Januar 2010 in Berliner Zeitung

Sein Brief erreichte mich in meinem Theaterbüro in Basel. „Remember me? Kathrin und ich wohnen gar nicht weit von Dir. Emmental. Vielleicht sehen wir uns mal wieder? John.“ Ein paar Wochen zuvor war mein Roman „Roberts Reise“ erschienen, der unter anderem aus der sowjetischen Provinz Woroneshs zwischen 1979 und 1984 erzählt. Wirrungen eines Studentenlebens. Mit verunglückten Maidemos, Kakerlakenschwadronen, Wodkaorgien, dreißig Grad Dauerfrost ohne Heizung, Ruhrepidemie und einer Menge Einsamkeit. John Gindranat Menedu aus Port Louis, Mauritius, war Teil dieser Geschichte, und wenn er im Buch auch nicht vorkam, jetzt hatte es uns wieder zusammengebracht, im Frühjahr 2000.

Natürlich wollte ich ihn wiedersehen. Zu Hause kramte ich in alten Fotoalben nach Bildern. John mit dem Senegalesen Sidi und mir am Stausee von Woronesh, Binjam und Schimelis auf einer Reggae-Party im Wohnheim Nr. 4, Johns Freundin Kathrin und ich vor dem Goethe-Schiller-Denkmal in Weimar. Mit dem lackglänzenden, leicht gelockten schwarzen Haar, den lebendigen dunklen, eng zusammen stehenden Augen im schmalen Gesicht und dem Schnauz auf der quittengelben Haut hätte er genauso gut aus Goa oder Mumbai stammen können.

Eine Tischfahne von Mauritius lag im Wandschrank zerknautscht unter einem Aktenstapel, den ich seit meinem Umzug in die Schweiz nicht mehr angerührt hatte. John hatte sie zu seinem ersten Besuch bei mir in Berlin mitgebracht, im Sommer 84. Darauf zu sehen unter anderem der Dodo, das bekannteste Wahrzeichen der Insel. Der Dodo ist ein truthahnähnlicher Vogel, der nie fliegen gelernt hatte, weil es keine natürlichen Feinde gab. War ein truthahnähnlicher Vogel. Bis 1681 holländische Siedler auf Mauritius landeten und in ihm eine leichte Beute fanden. Ein paar Jahre darauf war es vorbei mit dem Dodo.

Im Woronesh der späten siebziger Jahre gab es weder Dodos noch sonst irgendeine leichte Beute, von der man sich gut hätte ernähren können. Die UdSSR der späten Breschnew-Ära, gerade im Begriff, in einen unseligen Krieg mit Afghanistan zu rutschen, das war vor allem Mangel und Verwahrlosung. Ich war 1979 als Auslandsstudent für fünf Jahre nach Woronesh gekommen, bekam freie Logis in einem Wohnheim mit neun Stockwerken, in dem es unregelmäßig Strom und Wasser gab, und achtzig Rubel Stipendium, mit denen ich hätte Lebensmittel erwerben können. Ab und an gab es Insidertipps, und man musste entscheiden, ob man bereit war, sich (oft noch vor Sonnenaufgang) in einer manchmal mehrere hundert Menschen zählenden Menschenkette anzustellen, um Stunden später zwei Pfund Butter, ein Kilo Schweinefleisch oder einen Korb mit zweiunddreißig Eiern zu erstehen.

Es gab Menschen, die sich bei der Lebensmittelbeschaffung klüger angestellt haben als ich, aber das für mich verfügbare und von mir in der Regel verweigerte Programm der Woronesher Kaufläden und Kantinen bestand vor allem aus Dörrfisch, gammeligen Kartoffeln, manchmal Reis mit klebrig hellroter Soße (angeblich Tomate), ranzigen Piroggen und „grusinischem“ Tee, den andere Leute auch zum Eindunkeln von Lampenschirmen verwendeten.

Zu unserem Studiengang gehörten ungefähr neunzig KomsomolzInnen, drei andere (DDR-)Deutsche, zwei Äthiopier und John. Vielleicht machte ich einen besonders hinfälligen Eindruck, vielleicht hatte John aber auch bemerkt, dass ich mit meinen Landsleuten nicht viel zu tun haben wollte und lieber mit anderen Ausländern zusammen war, jedenfalls lud er mich eines Abends zu sich ins Wohnheim Nr. 4 ein.

Es war eigentlich keine Party, sondern, wie ich lernen sollte, der übliche abendliche Hang Out, mit dem sich John und seine afrikanischen und arabischen Kollegen aus den Nachbarzimmern die Zeit vertrieben. Es gab eine Menge Bob Marley, Wodka, Pilav, Wodka, Bob Marley. An jenem ersten Abend im Herbst 1979 war die Kern-Clique zusammen, ungefähr zehn Jungs, meist fünf bis zehn Jahre älter als ich mit meinen unbeschriebenen neunzehn Lenzen. Abgesehen von Abdulla aus Algier und Nasser aus Muscat kamen sie aus Schwarzafrika.

Es gab Unmengen Rindfleisch zum Reis, für mich zum ersten Mal seit etlichen Wochen. Ich konnte es nicht fassen. Serviert wurde auf einem großen emaillierten, blumenverzierten Teller, der in der Tischmitte abgestellt wurde und von dem ein Aroma von Curry, Paprika und Knoblauch ausging, das noch am nächsten Morgen aus meinem Hemd aufstieg. Jeder bekam wahlweise Löffel oder Gabel und legte los. Das sei ein Wettbewerb, stieß mich John an, ich müsse mich ranhalten, wenn ich meinen Teil abbekommen wolle. Gilles, der Koch des Abends, kam aus Dakar, und weil Dakar am Wasser liegt, war der Pilavteller an diesem Abend mit einer üppigen Soße geflutet. Später kochten manchmal die Freunde aus Addis oder Marrakesh. Dann war der Reis trocken. Woher hatten die Jungs all diese Köstlichkeiten?

Ich wurde regelmäßiger Gast dieser magenerweiterenden Abendvergnügungen, die mal bei John, mal bei einem seiner Zimmernachbarn stattfanden. Hin und wieder brachte ich eine Flasche Wodka mit, aber eigentlich erwartete man von mir nichts als meine Anwesenheit. Nach dem Essen wurde weiter getrunken, viel in die Hände geklatscht, geredet und gelacht, denn jetzt ging es um die Vorzüge von DDR-Studentinnen gegenüber Russinnen und wie man mit ihnen in Kontakt kam, wenn auch nicht zu eng, denn die meisten von diesen Mädchen kamen ja nur für ein Jahr.

John war nicht einfach ein Student, der sich im Zeichen der völkerverbindenden sowjetischen Entwicklungshilfe für afrikanische Länder in Woronesh zum Chemieingenieur qualifizierte, um sein diplomiertes Wissen so rasch wie möglich in der Heimat für den Aufbau einer blühenden Petrolindustrie zur Verfügung zu stellen. John war, wie viele seiner Kollegen aus Asien, Lateinamerika oder Afrika, auch am Leben interessiert. Nicht, dass er die Uni vernachlässigt hätte. Aber er aß, trank und tanzte gerne oder hing mit seinen Kumpels Abende und Wochenenden inmitten von Müllbergen und brodelnden Kochtöpfen in der öffentlichen Küche von Wohnheim Nr. 4 rum, meist, um sich je nach Gesellschaft in Englisch, Suaheli, Französisch, Russisch oder ein bisschen Deutsch über Sex auszutauschen. Um dieses Leben unterhalten zu können, dealte John (wie viele seinesgleichen) ein bisschen mit russischen Freunden, deren Fachgebiet der lokale Schwarzmarkt war.

Das Geschäftsmodell sah vor, dass die netten dunkelhäutigen Studenten aus den „befreundeten Bruderländern“ Sony-Verstärker, Wrangler’s und Lacoste-Pullis gegen im sowjetischen Alltag unauffindbare Lebensmittel wie Fleisch, Gemüse und Obst handelten (einige stiegen später auch in den Opiumhandel ein, aber das ist eine andere Geschichte).  Die Jungs besorgten sich die Sachen auf ihren vierteljährlichen Ausflügen ins „imperialistische“ Ausland. Auf einem Markt oder am verlassenen Tor zu einer Schlachterei fand der Warenaustausch statt. Eine Stereoanlage garantierte Fleischlieferungen über Monate.

John war in diesem Handel nicht sehr aktiv, er reiste auch seltener ins Ausland und war mehr um sein Studium bemüht als andere. Ich begleitete ihn einmal auf einer seiner Shoppingtouren. Er bezog das Fleisch von Wolodia, einem Chemiestudenten aus einem höheren Jahrgang, und bezahlte nicht in Naturalien, sondern mit Dollars. Wir trafen Wolodia in der Nähe der halb verfallenen und verlassenen ehemaligen Lutheranischen Kirche. Dort erwartete uns Wolodias Onkel Petja mit einem Karton Hühnerbrüsten und Fleischpasteten, die vorsorglich mit Eisgrus bestreut waren. Der Inhalt solcher Kartons hat mir unzählige Abendmahlzeiten beschert. Im Grunde ohne Gegenleistung meinerseits.

Eine Transaktion haben wir jedoch gemeinsam unternommen. Fast zum Ende meines Studiums reisten John nach West-Berlin, der nächstgelegenen Basis für Handelsgeschäfte mit dem russischen Lebensmittelmarkt, und ich in die DDR. Er verdiente sich seine Dollars mit bescheidenen Schmuggeleien. Wolodia besorgte diesmal Kaviar aus einer in der Nähe von Moskau gelegenen Fabrik, ein paar kiloschwere Gläser à 20 Rubel mit dem schwarzen Zeug, für das andere Leute eine Menge Geld bezahlen. Die Gläser wurden in einer Tasche verstaut, dann bestiegen John und ich mit unserem sonstigen Gepäck den Zug von Moskau nach Berlin. An der sowjetischen und der polnischen Grenze, an der ich mit keinerlei Kontrolle, John jedoch mit Leibesvisitationen zu rechnen hatte, gehörte die Tasche mir, in Frankfurt/Oder, wo John unbehelligt durchgehen würde, gehörte sie ihm. Den Transfer durch den Tränenpalast musste mein Freund aus Mauritius dann alleine bewerkstelligen. Dabei ist er auch mal erwischt worden. In unserem Falle ging es gut, und hinter der Mauer wartete wieder ein Mittelsmann, der John den Kaviar abkaufte.

Das klingt ein bisschen wie Olsenbande. Für mich war es Lebensschule, die mir keine sozialistische oder kapitalistische Bildungseinrichtung dieser Welt hätte vermitteln können. Meine Lehrer waren John und unsere afrikanischen Freunde. Ich bin nicht zum Schmuggler geworden, habe aber auch in Zukunft die Nähe von Menschen aus anderen Kulturen geschätzt.

Ein paar Wochen, nachdem er sich bei mir in Basel gemeldet hatte, traf ich John und seine Familie im Emmental. Er war fülliger geworden und hatte immer noch diese lebendigen Augen. Von Woronesh war er nicht nach Mauritius zurückgekehrt, sondern hatte in der Schweiz weiterstudiert und später mit einem Pharmaziehandel begonnen. Seine Frau Kathrin hatte er im Wohnheim Nr. 4 kennengelernt. Sie stammte aus Rostock und durfte kurz vor dem Mauerfall zu ihm ziehen, gemeinsam mit ihrer gemeinsamen Tochter Livia, die jetzt in Bern aufs Gymnasium ging.

John produzierte seine Essenzen gemeinsam mit dem Schwiegervater irgendwo in Mecklenburg und vertrieb sie vor allem in der welschen Schweiz und in England.

Er hatte es nicht zum Arznei-Tycoon gebracht, bewohnte mit seiner Familie aber immerhin ein Einfamilienhäuschen und hatte ein paar Monate zuvor die Prüfung zur Schweizer Eidgenossenschaft bestanden, obwohl er nicht genau gewusst habe, ob die Geschichte mit dem Apfelschuss in Sarnen oder Altdorf passiert sei. Der Prüfer sei ein türkischer Schweizer gewesen, sagte John, und dass er dieses Land immer noch nicht verstehe. Das war lobend gemeint. Der Sohn des Dorfpfarrers habe Livia auf dem Weg zur Schule in der Emmentalbahn auch schon Nachrichten seines Vaters für ihn, John,  überbracht: zum Beispiel, es sei besser, Gardinen an den Fenstern anzubringen, und er müsse nicht unbedingt im Pyjama die Post aus dem Briefkasten nehmen.

Wir hatten einen lustigen Nachmittag im Emmental, haben uns aber später in größeren Abständen nur noch zweimal in Basel gesehen. John besaß ja nun Lizenzen für die Ein- und Ausfuhr seiner Waren, und ich hatte mir das Fleischessen nahezu abgewöhnt. Dem Dodo bin ich treu geblieben.

(Namen der Personen geändert)