Neue Welten

von 
Interview
zuerst erschienen Herbst 2012 in L'Officiel Hommes Germany, S. 118-123
Wolfgang Tillmans ist ein Chronist der Gegenwart. Seine neuen Arbeiten mit dem Titel „Neue Welt“ entstanden auf einer Reise, die er vor drei Jahren begann. Dabei hat er eine Erkenntnis gewonnen, die er in seinen Fotografien festhält: die Gleichzeitigkeit des Daseins.

Tillmans bittet in die Kunsthalle Zürich. Die Ausstellung hängt. Die Eröffnung ist an diesem Abend und Wolfgang Tillmans hat ein neues Kapitel in seiner Laufbahn damit auzfgeschlagen. Diesmal hat er nicht nur in seiner unmittelbaren Umwelt fotografiert, sondern überall auf der Welt. Er geht noch einmal durch die Räume, um seine Installation zu fotografieren. Er unterbricht und setzt sich zum Interview auf den Boden. Er will beim Du bleiben. Ungezwungen soll das Gespräch sein.

Du hattest kürzlich Geburtstag. Ein Tag der Freude?

Ich nehme Geburtstage wahr. Aber eigentlich finde ich zeitliche Marker in meinem Leben interessant. Silvester bedeutet mir etwas, der 21. Juni - der Tag der Sommersonnenwende und der 20. Dezember bedeuten mit etwas. Geburtstag ist ein Teil dieser Marker.

Bist Du besorgt um die Gegenwart?

Ja. Wie könnte man das nicht sein? Eigentlich müsste ich sagen: Es ist überraschend, wie positiv ich jeden Tag begehe. Es ist ja vieles im Argen. Ich habe zum Beispiel kürzlich in der Herald Tribune gelesen, dass die Nordpolkappen unter Umständen schon am Ende dieses Jahrzehnts im Sommer komplett abgeschmolzen sein werden. Horrorszenarien können Realität werden. Man weiß ja nicht, ob wir morgen schon, oder vielleicht in einem Monat, in einer ganz anderen Welt leben.

Deine Ausstellung heißt Neue Welt. Was ist neu in der Welt?

Neue Welt ist ein polemischer Titel, das hat Beatrix Ruf, die Kuratorin der Kunsthalle Zürich, schon ganz richtig erkannt. Ich finde den Titel im positiven Sinne naiv. Es geht hier um einen neugierigen, naiven Blick. Naiv im Sinne von etwas zum ersten Mal sehen. Nichts ist kalkuliert. Und vor diesem Hintergrund habe ich versucht, auf die Welt mit einem naiven Blick zu schauen. Sowohl auf die, die ich bereits kenne, sprich die Europäische und Nordamerikanische Welt, als auch auf ferne Welten wie Thailand, Tasmanien, China, Papua Neu Guinea, Äthiopien, Brasilien oder Dubai. Und gleichzeitig kann die Neue Welt aber auch im unmittelbaren Umfeld stattfinden. Im Rachen eines Freundes zum Beispiel, oder in der Bauchhöhle eines Krebspatienten; die Unbekannte Welt ist ja nur einen Schnitt oder einen Blick entfernt.

Wie kam es zu der Entscheidung, extra dafür eine Weltreise zu machen?

Ich habe festgestellt, dass ich aufgrund der Ausstellungen viel reisen werde. Aber schon wieder vor allem in der westlichen Welt. Da habe ich mir gedacht: Bist du denn eigentlich bescheuert, dass du nicht mal nach Thailand fährst? Als Anlass habe ich dann die Sonnenfinsternis in China genommen.

Wie lange warst du unterwegs?

Die Reisen sind über die letzten drei Jahre in loser Abfolge entstanden. Aber einzelne Reisestücke gingen nie länger als vier Wochen, denn dann ist ja auch der Zauber des Neuen vorbei.

Welche neuen Erfahrungen hast du gemacht?

Das ist schwierig zu formulieren, weil es so klischeehaft klingt. Aber ich habe bewusst die Gleichzeitigkeit des Daseins gespürt. Über sieben Milliarden Menschenleben finden gleichzeitig statt. Das gibt der Uneinholbarkeit einen Ausdruck. Es entsteht ein Gefühl, ein Teil von etwas riesigem zu sein. Mit meinen Bildern will ich dieser Komplexität der Welt gerecht werden, aber eben nicht mit erhobenem Zeigefinger. So bin ich an neue Grenzen gestoßen. Den Grenzpunkt der Darstellung zum Beispiel - darf ich das zeigen?

Gibt es dafür in der Ausstellung ein konkretes Beispiel?

Der Obdachlose in Mumbai. Ich habe versucht, feinfühlig vorzugehen und ich hoffe, es ist mir gelungen, sein Dasein zu zeigen, ohne dabei seine Persönlichkeitsrechte zu verletzten.

Gibt es etwas Neues an deiner Arbeitsweise?

Es ist vor allem einiges geblieben: Ich bearbeite meine Bilder nach wie vor nicht nach. Kein Bild ist retuschiert. Die Welt ist so absurd und surreal, da muss ich nicht mehr manipulieren: Man kann ihnen trauen, meinen Bildern. Aber Neue Welt habe ich fast ausschließlich mit meiner neuen Digitalkamera fotografiert. Es gibt jetzt eine Kamera, die sich genau so verhält, wie meine Kleinbildfilm-Kamera. Daher habe ich von analog zu digital gewechselt. Und ich habe an meinen Bildmitteln gearbeitet, aus der Kombination Tinte, Papier, Computer und Kamera. Außerdem habe ich meine Darstellbarkeit, mein Vokabular um eine ganze Stufe verfeinert.

Dein bisheriges Résumé bitte: Der spannenste Ort zurzeit auf dieser Welt ist…

… schwer zu sagen. In Asien und Südamerika herrscht ein anderes, positives Lebensgefühl. Dieser introspektive, leicht depressive europäische Gesamtzustand, der ist nicht normal auf der Welt. Aber ich mag ihn. Ich finde Europa extrem schüt- zenswert. Meiner Meinnung nach muss nicht alles wegökonomisiert werden.

So ist sie, die subjektive Sicht auf die Dinge.

Die Gehirnforschung und die Psychologie belegen, dass wir ausschließlich subjektiv sind. Es ist absolute Hybris zu behaupten, man sei objektiv. Ich hatte kürzlich in London in der Hayward Galerie ein Gespräch mit einem Optikprofessor. Er zeigte schockierende Bilder, was das Auge wirklich sieht. Ich hatte zu ihm gesagt, eigentlich sei meine ideale Kamera die, die ich in mein Auge einbauen könnte, damit sie alles sieht, was ich sehe. Der Professor sagte nur trocken, „you don’t want that.“ Das Auge macht ein verzogenes, unscharfes Bild und das Gehirn formt es in einer ständig stattfindenden Postproduktion. Und so wird das Gesehene bereits auf dem Weg zum Gehirn manipuliert.

Wie unterscheidest du zwischen einer interessanten und einer nicht relevanten Beobachtung?

Das ist ein fein gewobenes Geflecht, das über viele Jahre entstanden ist und für mich ganz klare Kriterien hat. Ich kann jetzt nicht alle aufzählen, aber ich kann Dir zum Beispiel sagen, dass ich Erosion hochgradig uninteressant finde. Die Leute sind immer so fasziniert von Erosionsformen, also vom Grand Canyon oder von Kappadokien. Für mich ist es immer gleich - es ist ja immer das gleiche Prinzip, obwohl es das Abbild eines Prozesses ist. Und gerade weil cause and effect so offensichtlich sind, interessiert es mich nicht.

Muss man tiefgründig sein, um die Realität zu erkennen, oder reicht auch eine oberflächliche Betrachtungsweise?

Als tiefgründig würde ich mich schon bezeichnen. Aber tiefgründig heißt ja nicht, dass man nicht trotzdem Interesse an der Oberfläche hat und versucht, die Dinge an der Oberfläche zu dekodieren. Außerdem ist es mit der Tiefe so eine Sache: wenn man tiefer geht, also wirklich die Oberfläche abschaben würde um zu sehen was kommt, gelangt man nur an eine neue Oberfläche.

Lass uns trotzdem etwas Oberfläche abschaben: Bist du Existenzialist, Sozialist oder Kapitalist?

Wenn ich mich zwischen diesen Dreien entscheiden muss, dann Existenzialist.

Wofür steht Wolfgang Tillmans?

Wenn ich auf ein bestimmtes Wort festgenagelt werde, dann wohl „Achtsamkeit“. Ich würde mich freuen, wenn die Leute das über mich nach meinem Tod in aller Ehrlichkeit sagen. „Tillmans war ein achtsamer Mensch“. Nicht nur über das, was ich in meiner Arbeit versuchte zu vermitteln, sondern das diese Qualität mich auch als Mensch ausgezeichnet hat.

Du bist mit deinem Studio und deiner Wohnung von London wieder zurück nach Berlin gezogen, warum?

Weil Berlin meinen Gedanken und meiner Arbeit gut tut.

Im Club Berghain hast du so etwas wie eine permanente Ausstellung. Warum hast du diesen Ort für deine Bilder gewählt, was ist am Berghain so besonders?

Ich bin da jetzt nicht leidenschaftlicher Ambassador. Aber das Berghain ist ein utopischer Nachtleben-Ort der nicht durchkontrolliert ist. Die Welt wird ja immer kontrollierter. In New York braucht man gar nicht erst in eine Disco zu gehen. Ist doch interessant, dass Deutsche dem Klischee nach als sehr kontrolliertes und geordnetes Volk gelten und gerade hier lassen sich kleine Zellen von Freiheit finden. Dass zum Beispiel im Berghain mehrere Leute auf’s Klo gehen können, um entweder Sex oder sonst was zu machen, ist groß. Schon deshalb ist es sehr wichtig, dass es das Berghain gibt. Damit die Leute sehen, es geht auch anders. Es geht auch ohne Werbung und es geht auch ohne Kontrolle.

Welches Phänomen der Jetztzeit begeistert dich?

Die HIV-Therapie. Wie toll die Fortschritte hier sind, das muss man sich immer vor Augen führen. Es würde in meinen Kreisen ganz anders aussehen, wenn heute noch so gestorben würde wie 1995.