Die Ein-Mann-Eisenbahn

Portrait
erschienen am 16. Mai 2007 in Frankfurter Allgemeine Zeitung, S. 20
Auch Stanisław Lem war Abonnent: Der Warschauer Verleger Pawel Dunin-Wąsowicz fing mit Fanzines an und wurde durch Dorota Masłowska selbst zum Star. Heute ist seine Zeitschrift „Lampa" eine Institution.

„Nein, nein. Wir sind nicht hier. Das Büro ist nicht besetzt“, ruft Pawel Dunin-Wąsowicz laut in den Raum, als könne ihn außer mir jemand hören. Schon zum fünften Mal innerhalb einer Stunde klingelt jetzt das Redaktionstelefon. Und das an einem Samstagnachmittag. Dunin schüttelt entrüstet den Kopf. Manchmal können ihm die da draußen alle gestohlen bleiben. Außerdem ist er zum Interview verabredet.

„All diese Leute“, sagt Dunin, „sie glauben doch tatsächlich, ich könnte sie berühmt machen.“ Seitdem er 2002 den Debütroman der damals neunzehnjährigen Dorota Masłowska verlegt und die Autorin damit über Nacht an die Spitze der jungen polnischen Literatur katapultiert hatte, setzen Nachwuchsautoren die größten Hoffnungen in den Mann. Dunin gehen die täglich aus allen Winkeln Polens eingesandten Manuskripte aber längst auf die Nerven. Früher, da sei es den Schreibern noch um Inhalte und die Literatur selbst gegangen, heute wolle doch jeder nur noch im Rampenlicht stehen. Und zwar möglichst schon morgen.

Die Popliteratur, so scheint es, ist Dunins Sache nicht. Dabei hat er, der in Polen bereits überall unter dem Kürzel PDW bekannt ist, doch mehr zu ihrer Verbreitung beigetragen als irgendwer sonst. Sein unabhängiger Verlag „Lampa i Iskra Boża“ führt Prosa, Lyrik und Comics, aber auch Essays, Anthologien und historische Sachbücher. Strenge Formatfragen spielen bei der Konzeption des Programms keine Rolle. Dunin verlegt, was ihn ganz persönlich interessiert. Das Herzstück seines Verlags aber ist das Kulturmagazin „Lampa“, das in seiner jetzigen Form vor drei Jahren erstmalig erschien. Die Wurzeln dieses arbeitsintensiven Unterfangens reichen aber bis weit in die achtziger Jahre zurück. Das von Dunin auf dem Kopierer produzierte und mit selbstgebastelten Kollagen versehene Fanzine wurde auf zumeist informellen Kanälen unter die Leute gebracht, unter der Hand oder auf Punkkonzerten. Man nannte das auch den „Dritten Umlauf“: ein Medium, das weder der staatlichen Meinungsmache noch dem - beispielsweise in der Solidarnosc - organisierten Widerstand angehörte.

Sein Geld verdiente der studierte Publizist Dunin damals als Redakteur verschiedener Zeitungen, die ihm aber mit der Zeit zu langweilig wurden. Als er sich gänzlich selbständig machte, profitierte er von den handwerklichen Fähigkeiten, durch die er über die Jahre zum Journalisten von Profession geworden war. Und mehr noch: Dunin wusste nicht nur, wie man einen Artikel schreibt und redigiert, er beherrschte auch das Handwerk des Setzers. Und da er zudem exzellent zeichnen konnte, musste er auch das Illustrieren nicht zwangsläufig anderen überlassen. Obwohl die Hochglanzcover der aktuellen „Lampa“ internationalen Designerstandards genügen und etwa in Deutschland ihresgleichen suchen, bleibt das Magazin ein Ein-Mann-Produkt. Immer am Existenzminimum, greift Dunin zwar auf einen festen Stamm von Autoren, denen er nur Honorare auf Studentenniveau zahlen kann, zurück, übernimmt die Produktion aber weitgehend selbst. Er ist sein eigener Chefredakteur, Art Director und Setzer. Etwas Geld bekommt Lampa vom Kulturministerium, von Anzeigenkunden hingegen kaum.

Als Dunin eine Reihe älterer Ausgaben auf dem Tisch ausbreitet, tut sich zugleich eine ganze Schriftstellergalerie auf. Alle wichtigen Autoren des Landes haben schon mindestens einmal die Titelseite des Magazins geziert: Andrzej Stasiuk, Stefan Chwin, Wojciech Kuczok, Manuela Gretkowska, Krzysztof Varga, Pawel Huelle, Michał Witkowski. Zudem die angesagtesten Popmusiker und Künstler. Viele von ihnen wurden bereits mit ausführlichen Interviews, Reportagen und Homestories bedacht. Und neben den Buchrezensionen finden sich auch Comicstrecken und Plattenkritiken von polnischer und internationaler Musik; Dunins Vorliebe gilt dabei dem Punk und Independent.

„Langsam“, sagt er mit Blick auf die ausgebreiteten Hefte, „gehen mir die Prominenten aus.“ Sein Lieblingsautor lebt ohnehin nicht mehr. Es ist Stanisław Lem, der Dunin vor seinem Tod im März des vergangenen Jahres eines seiner letzten Interviews gegeben hatte. Dass der vielleicht berühmteste Science-Fiction-Autor der Welt auch ein begeisterter „Lampa“-Leser gewesen ist, erzählt der Verleger naturgemäß nicht ohne Stolz. Lem schätzte das Magazin nicht zuletzt wegen solcher Schrulligkeiten wie der lateinischen Zusammenfassung am Ende eines jeden Heftes.

Auch wusste der Futurologe mit einem anderen Projekt etwas anzufangen, das Dunin nun schon seit vielen Jahren betreibt. Mit seiner Geisterbibliothek stellt er ein Lexikon der erfundenen Bücher zusammen, also solcher Titel, die nur in Form ihrer Erwähnung in anderen Büchern existieren. In jeder „Lampa“ findet sich eine kleine Liste davon, im Jahr 2004 hat Dunin bereits ein sechshundertseitiges Verzeichnis solcher Werke herausgegeben, mitsamt einer jeweils kurzen Beschreibung des fiktiven Autors und Buchinhalts.

Bei der versponnenen Hartnäckigkeit, mit der der Verleger solche phantastischen Parallelwelten auslotet, überrascht bei anderer Gelegenheit die Detailversessenheit auf scheinbar profane Gegenstände. In diesem Punkt ist er ganz der Sohn seines mittlerweile vierundachtzigjährigen Vaters, der an der Polnischen Akademie der Wissenschaften Historiker war und ein exzellenter Kenner der Warschauer Stadtgeschichte ist. Als wir uns über Roman Polanskis im Stadtteil Praga gedrehten Film „Der Pianist“ unterhalten, mokiert sich Dunin nicht etwa darüber, dass der Regisseur das Ghetto in einem falschen Licht dargestellt habe. Ihn ärgert in der Hauptsache, dass im Film die falschen Straßenbahnmodelle zu sehen waren.

Überhaupt: Straßenbahnen - damit kennt er sich vorzüglich aus. Er weiß also nicht nur, dass die in Polen aufgrund ihrer deutschen Herkunft „Helmuty“ genannten Bahnen zuvor in Nürnberg ausrangiert worden waren, er kennt auch die genauen Typenbezeichnungen einer jeden Lok und eines jeden Waggons. Ob er so etwas sei wie ein Trainspotter, frage ich ihn. „Nein, nein“, schüttelt Dunin den Kopf, „verrückt bin ich nicht.“ Und trotzdem besteht er darauf, dass er im Vergleich zu neuer Belletristik noch lieber die Zeitschrift „Welt der Eisenbahn“ zur Hand nehme. Das sei im Übrigen auch befriedigender, als immer wieder ein brennendes Thema für „Lampa“ zu finden, einen neuen Hype auszurufen. „Man kann“, seufzt Dunin, „schließlich nicht zwölfmal im Jahr aufs Neue von etwas begeistert sein.“ Und überhaupt: Wäre die Volksrepublik nicht im Jahre 1989 untergegangen, so wäre er heute sicher ein regierungstreuer Journalist bei irgendeiner Zeitung, eigentlich sei er nämlich ein ziemlicher Konformist.

Man hüte sich aber davor, dem Understatement des Verlegers auf den Leim zu gehen. Wäre Dunin wirklich so müde, wie er gerne tut - aus welchem Brunnen sollten dann seine immer neuen Ideen sprudeln? Woher sollte er die Energie für das Buch nehmen, das er gerade über die Stadt Warschau in der phantastischen Literatur schreibt? Außerdem will Dunin bald sämtliche in „Lampa“ erschienenen Schriftstellerinterviews in einem Band versammeln. „Rozmowy lampowe“ (Lampengespräche) soll er heißen, was zugleich an die Redewendung „zur Lampe“ oder „in den Wind sprechen“ erinnert.

Dunins geräumiges (im Winter allerdings ungeheiztes) Redaktionsbüro ist in der Ulica Hoza 42, einer Straße in der südlichen Innenstadt, gelegen. Es wird ihm aus alter Verbundenheit von Lukasz Gorczyca und Michał Kaczynski, den Machern der Kunstgalerie Raster, überlassen, die durch junge Malerstars wie Sasnal, Rogalski und Bujnowski quasi über Nacht zu global players zwischen Düsseldorf, Basel, London und Miami geworden sind. Dunin weiß aber noch genau, wie einer der beiden Galeristen früher einmal mit einer selbstgeschriebenen Kurzgeschichte bei ihm vorstellig geworden war. „Du schreibst zu viel übers Schreiben“, habe er ihm damals gesagt. „Literarische Nabelschau interessiert mich nicht.“

Die rauschenden Feste und Salonabende, die es in diesem Haus einmal gab, sind zuletzt seltener geworden. Die Kollegen, vermutet der Verleger und öffnet eine weitere Dose Tyskie-Bier, haben durch die zunehmende Kommerzialisierung ihrer Arbeit ein wenig den Humor verloren. Beim Verlassen des Hauses fällt mir eine Gedenktafel an der Fassade ins Auge. Sie erinnert an den Chemiker und Esperantisten Antoni Grabowski. Dem war es einst gelungen, den „Pan Tadeusz“ in die Weltkunstsprache zu übersetzen.