585 Tage Ewigkeit – Die Weltumradelung des Lorenz Lorenz

Reiseerzählung
zuerst erschienen im Juli 1989 in Tempo Nr. 7, S. 116-125
Er kannte das Abenteuer nur vom Hörensagen. Am 30. September 1987 hatte der Münchner Szeneautor Lorenz Lorenz genug von Nachtleben und Alltagshektik, von Großstadtfrust und Kleinbürgerenge. Er setzte sich auf sein Fahrrad und fuhr eineinhalb Jahre um die Welt. In TEMPO erzählt er, wie die große Freiheit schmeckt

[117] Mit schlotternden Knien steige ich am 30. September 1987 auf mein Fahrrad, untrainiert, direkt aus der Bayerischen Staatsbibliothek kommend, in den Satteltaschen ein Zelt, einen Schlafsack, einen Regenrennanzug und ein Ultra-Leicht-Globetrotter-Handtuch. Außerdem zwei Reisepässe, Impfzeugnis, Jugendherbergsausweis und Kreditkarte, um überall mein Rundfunkhonorar abheben zu können. Mein Kassettenrekorder wird für 585 Tage mein häufigster Gesprächspartner sein. Einmal die Woche werde ich die Tonbänder zum Bayerischen Rundfunk schicken, damit ganz Süddeutschland meinen Erlebnissen lauschen kann. Am Ende werde ich mit meinen Kurzbeiträgen 25 000 Mark verdient haben, jene Summe, die man für eineinhalb Jahre Weltumradelung braucht, inklusive Flügen über Ozeane und Meere, Ersatzfahrrädern und Ersatzkassettenrekordern, Ferngesprächen und Souvenirs. Ich wollte zurück zu Karl May und Tom Sawyer, nachschauen, ob es noch Piraten gibt. Ich wollte wissen, ob der Jugendtraum vom großen Abenteuer nur ein Pubertätspickel ist. Ich wollte sie kennenlernen, die Sehnsucht, die das ständige Man-sollte-mal-Leben in ein echtes Leben verwandelt.

Auf dem Fahrrad spürt man die Berge, den Wind und die Hitze. Wo ein Auto nur durch eine gelbbraune Landschaftssuppe rast, sehe ich jeden einzelnen Baum, jedes Haus, jeden Menschen. Die Welt wird lang und echt. Malaysia ist plötzlich nicht nur ein Dritte-Welt-Land, irgendwo da hinten in Asien, sondern ein Land aus Fleisch und Blut, aus Berg und Tal. Nach meiner Reise wird es leicht sein, zurück in die Höhlen der Nacht zu gehen. Ich werde mich an die Theke lehnen und murmeln: „Als ich neulich in Kuwait war…“, und damit die Mädchen langweilen. Dann werde ich wieder zu meinem Fahrradhändler gehen, über die glänzend lackierten Rahmen streichen, die Leichtlaufnaben drehen und zufrieden seufzen: „Ach ja, damals…“.

Zum Beispiel am Persischen Golf. Dort gibt’s nur eine Unfallursache: Alkohol und Kamele. Die Kamele krachen mit besoffenen Autofahrern zusammen, obwohl in fast allen arabischen Ländern Alkohol verboten ist. Kuwait hat kaum natürliches Trinkwasser. Das meiste wird aus Meerwasserentsalzungsanlagen gewonnen.

Einige Scheichs in Dubai haben eine Eissporthalle und einen Golfplatz bauen lassen. Für Eishockey-Matches wurde der Münchener Club Hedos eingeflogen. Zur Eröffnung des Golfplatzes durften die Cracks ebenfalls antreten, weil kein Golfbewohner Golf spielt.

Als Radfahrer komme ich in alle Zeitungen und ins kuwaitische Fernsehen. Ich werde bei den Botschaften herumgereicht und zum Abendessen eingeladen. An einem Tag werde ich mit weißem Hemd und Krawatte auf Kosten des deutschen Außenministeriums herumchauffiert, am nächsten Tag muss ich im Ziegenstall übernachten.

Auf der Straße kurbeln die Autofahrer ihr Fenster herunter, schenken mir Schokoriegel und Cola und fragen mich, ob die Welt durch Zufall entstanden ist oder durch Gott erschaffen wurde.

Sandstürme lassen meine Zähne knirschen, bei Windstille saugen sich Fliegen an meinem Schweiß fest. Ich übernachte in Wellblechverschlägen und wache mit Mistkäfern unterm Schlafsack auf. Oder ich werde von einem radsportbegeisterten Holländer – er arbeitete als Ingenieur im saudischen Hafen AI Dschubaila – eingeladen, und wir schauen uns Tour-de-France-Videos an. Oder ich befahre als erster deutscher und als zweiter Radfahrer überhaupt die 20 Kilometer lange Brücke, die Saudi-Arabien mit Bahrain verbindet. Fast alles ist Wüste hier, die Städte sehen alle gleich aus, und die Golfstaaten sind eigentlich so langweilig wie das Testbild im Fernsehen. Eigentlich. Wenn nicht dauernd Seltsames passieren würde.

In Dubai, dem wirtschaftlichen Zentrum der Vereinigten Arabischen Emirate, wo Langstreckenflieger von Europa Richtung Südostasien auftanken, lerne ich einen Millionär kennen. Ebrahim Sharaf hatte von mir gehört. Das Gebäude, in dem die deutsche Botschaft residiert, gehört ihm. Außerdem ein bisschen was von einer Öltankerreederei, eine deutsche Passagierlinie, die Fähre in den Iran und noch [118] ein paar Kleinigkeiten.

Ebrahim ist stets weiß gekleidet, vom arabischen Kopftuch bis zum Mercedes. Er will mich sponsern, die Überfahrt von Japan in die USA ermöglichen und sich um meine Überfahrt in den Iran kümmern.

Am Abend gibt er eine kleine Party mit deutschen Konsuln und irgendwelchen Polen. Ich bekomme libanesisches Bier zu trinken – eine große Ehre, denn der Libanon braut das beste Bier der arabischen Länder. Und es war nur noch eine Dose da. Seither weiß ich, wie sehr Ebrahim mich mochte. Und ich mag ihn.

Freiheit

Am 27. Februar 1988 verabschiede ich mich von Dubai. Ich verlasse mein Betonhotel mit dem von der Feuchtigkeit gewellten Teppichboden, dem abgesplitterten Furnier am Fernsehtischchen und den schießschartenartigen Fenstern über dem 20 Zentimeter breiten Selbstmörderbalkon. Sage auf Wiedersehen zum Basar, in dem sich indische und pakistanische Händler um Seidentücher, Taiwan-Spielzeug und Perlonteppiche mit Billard spielenden Hunden drängen und sich Kamele und Kohlehalden in den Glasfassaden der Bankpaläste spiegeln.

Abends klettere ich mit meinem Fahrrad auf der Schulter über zwei Decks. bis ich die „Al Muraffha“ erreiche, meine Dhau. Ein klobiges, 40 Meter langes Holzboot mit mächtigem Mast in der Mitte. Daneben öffnet sich die Luke zum Sechs-Zylinder-Dieselmotor. Es riecht nach Salz und Teer und Freiheit. Die alten Matrosen kochen Tee, wir legen ab und stechen in See. Auf nach Persien!

Bandare Lenge, der iranische Hafen, liegt acht Stunden Fahrt vor uns. Eine sanfte Dünung schwappt an die Planken, die rauen meerdurchtränkten Bohlen knarren, in der Dunkelheit ringeln sich die Seile, Decksaufbauten ducken sich an Bord, werfen Schatten im Licht des hängenden Sichelmondes, der sein Licht durch einen Riss im schwarzen Velours der Nacht ins Meer pinkelt.

In meinen Adern fließt kein Blut mehr, sondern nur noch Romantik, Kleine-Jungen-Abenteuer-Sehnsucht. Ich fühle mich wie bei den Piraten, von denen ich als Zwölfjähriger gelesen habe. Freiheit ist heute nicht die Hälfte der Marlboro-Zigarette, sondern so wirklich wie der Geschmack auf der Zunge. Oder wie Sex.

Die ganze Angst vor der Peinlichkeit großer Gefühle ist verschwunden. Als ob mir eine Haut von der Seele gezogen worden ist. Ich mache einen Quantensprung vom Konjunktiv zum Indikativ des Lebens. Durch das ewige, müde „was soll’s, hab’ ich eh schon im Fernsehen gesehen“ hat sich die Wahrheit durchgescheuert. Anders gesagt: Ich bin glücklich. Es herrscht Frieden in mir. Ich bin eins mit mir selbst und der Welt und der Ewigkeit. Jawohl, es klingt kitschig, aber es ist nun mal so, und deswegen schrei ich’s hinaus, hier und jetzt zum ersten Mal. Am selben Tag werden einige Seemeilen entfernt zwei Tanker in Brand geschossen. Es ist nämlich immer noch Krieg im Golf.

Sex

Delhi, die Hauptstadt Indiens, kreischt und hupt, blökt und plärrt. Zwischen heiligen Kühen und Scheibenräderkarren wieseln Rikschas namens „Rambos Revenge“, „Blitzkrieg“, „Heavy Metal“ oder „Educated Unemployed“ umher. Frage ich nach meinem Hotel am Connaught Place, deuten die Inder irgendwohin Richtung Nordost und Südwest. Hier kann jederzeit alles passieren, Karren mit Obst können umfallen, Busse ohne Reifen dastehen. Hähne können Hühner jagen.

Am Connaught Place finde ich ein dreckiges Zimmer mit sauberem Laken. Abends gehe ich auf Abenteuer aus, um einen Punkt auf der Liste „Wie werde ich ein richti- [119] ger Mann?“ abzuhaken. In Alt-Delhi spricht mich ein 17jähriger Inder an: „Haschisch?“ „Nein danke“, antworte ich. „Opium, Heroin?“ fragt er weiter. Ich lehne jedes mal ab und mache so lange zarte Andeutungen, bis er endlich kapiert, dass ich ein „Indian Baby“ will. Nach halbherzigen Verhandlungen steht der Preis fest: 200 Rupien. Schon zweifle ich an meinem Mut. Ich möchte aus dem Geschäft aussteigen, aber wie? Er bringt mich zu zwei Zuhältern, die mich in eine Rikscha pferchen und sich links und rechts niederlassen. Ich bin gefangen. Um mich enge Gassen, Abfall, schiefe Fassaden, dunkle Ecken, armselige Gestalten, Familien, die auf Pappkartons schlafen, dampfende Waschküchen, trostlos einsame Straßenlampen. Noch einmal regt sich mein Widerstand, noch einmal versuche ich eine Ausrede. Ungeschützt geh ich nicht in den Puff! Nur, wie heißt das auf Englisch? Preservatives? So was lernt man in der Schule natürlich nicht. Ich frage nach „Rubber“. Klar hätte er so was, sagt der links von mir. Er hat kein Wort verstanden.

Wir steigen eine finstere Treppe hinauf, an deren Ende die Puffmama thront. In welcher Geisterbahn sitze ich hier? Die dicke Chefin begutachtet mich. Nicht mal ihr Bauch unter dem Sari-Oberteil verzieht eine Falte. Dann wird es richtig hell. Hellgepuderte Mädchen mit glänzend-glossigem Lippenstift füllen den Kontaktraum, sie lachen und kichern. Eine kneift mir in den Hintern. Sofort bildet sich ein Kreis. Preisverhandlungen. Schon wieder.

Ich wäre gern dageblieben und hätte mit den Mädels 17 und vier gespielt oder mir die Zukunft sagen lassen, aber ich werde zum Aussuchen gedrängt. Zu zweit steigen wir auf eine Dachveranda und warten, bis einer der beiden Verschläge frei wird. Der Verschlag hat etwa fünf Quadratmeter, kein Fenster, nur eine Holzpritsche ohne Matratze.

Wir ziehen beide unsere Hosen aus, und zum Glück funktioniert es bei mir einigermaßen. Sie legt sich auf die Pritsche, hilft mir ein wenig, ist aber noch halb bekleidet. Da sie unten rasiert ist, piekst es. Natürlich ohne Kondom.

Jemand klopft an die Tür, und sie schreit was nach draußen, vermutlich „Besetzt“ auf Hindi. Wir machen ein paar Sekunden weiter, dann muss sie niesen. Ich lächle vor mich hin, so als ob ich mir von oben zuschauen würde, wie ein kleiner Engel, den die ganze Erbärmlichkeit rührt. Nach ein paar weiteren Sekunden wird sie ungeduldig und fangt an, mit den Hüften nachzuhelfen. Um ihr eine Freude zu machen, beeile ich mich. „Good?“ fragt sie. Natürlich good. Sie zerreißt einen Lappen, reicht mir die Hälfte, damit ich mich säubern kann. Nebeneinander sitzen wir auf der Bank und putzen uns. Wie zwei Schulkinder, die was ausgefressen haben. Ich würd’ sie am liebsten in die Seite stubsen und auf Hindi kichern: „War das aber ein Spaß.“ Ich hab’ zum ersten Mal das Gefühl, dass wir jetzt das Ritual hinter uns lassen und Freunde sein können. Ich würde sie gerne lieben, befreien und mit ihr Witze reißen. Sie nennt mir ihren Namen: „Baby Fourteen“. Ich soll wiederkommen. Vielleicht heißt sie auch Baby Forty, so eindeutig war ihre Aussprache nicht. Manchmal denke ich noch ganz gern an sie.

Scheisse

Mandalay schläft. Zu Fuß erreiche ich den größten Fluss Birmas, den Irawadi. Das Radfahrverbot hier ist eine Errungenschaft des birmanesischen Sozialismus. Ausländer sollen hier im Goldenen Dreieck nicht den radfahrenden Händlern vom Stamm der Karen begegnen, die seit 20 Jahren mit Heroin Gewehre kaufen, um irgendwann einmal frei zu sein. Birma lebt vom Schmuggel. Chinesische Fahrräder, Trüffel made in Hongkong, Maus-Schokoladenriegel – selbst die Einheimischen schaffen es nicht, eine Lücke im Schwarzmarkt zu finden. Nach Bangladesch führt eine Straße, die vor 30 Jahren das teuerste Straßenbauprojekt der Welt war. Kurz nach ihrer Fertigstellung putschten linke Offiziere in Birma und sperrten das Land zu. Selbst mein Rad wurde am Flughafen von Rangun beschlagnahmt und für eine Woche ins Gefängnis gesteckt.

Ich nehme das Schiff. Das offizielle Touristenboot verkehrt zur Zeit nicht. Eigentlich dürfen Aus-[120] länder nicht mit dem Volksboot fahren, aber an Bord hat man andere Probleme. Das Boot soll morgen früh ablegen. Ich betrete es 14 Stunden vorher. Alles rappelvoll. Truhen, Kisten, Bündel, schlafende Menschen, Körbe, Babys. Ich wate durch die Dunkelheit und das Menschengewühl. Es ist kaum Platz, um einen Fuß vor den anderen zu setzen. Keine Stühle, keine Kabinen, nur der blanke Boden. Direkt am Eingang, wo die Planke an Bord führt, rolle ich meine Isoliermatte aus und versuche zu schlafen.

Am nächsten Morgen genehmige ich mir müde und zerschlagen an der Bordküche einen trüben Tee. Der Rest des Frühstücks, Reis und Fisch, sieht noch schlimmer aus. Auch den Tee hätte ich nicht trinken sollen. Das Wasser dafür wurde direkt aus den braunen Fluten gepumpt. Prompt meldet sich mein Durchfall wieder. Ich stakse durch die Menschen, erreiche die Toiletten. Besetzt. Ich warte zehn Sekunden oder vielleicht auch 13, zumindest eine Ewigkeit, dann öffnet sich doch noch die Klotür. Zu spät. Mir sacken die Schultern zusammen. Ich entledige mich der gröbsten Scheiße. Hier drinnen gibt’s kein Wasser, kein Papier, nichts. Ich ziehe mir meine Hose wieder an, gehe zur Waschtonne, übergieße meine Hände mit Wasser. Dann lass’ ich mich vom Wind trocknen. Die Brise und der Fahrtwind vertreiben meinen Geruch. Das hoffe ich zumindest.

Ich setze mich wieder in meine Ecke, die Familie um mich herum scheint nichts zu bemerken. Ich versuche, mich nicht zu bewegen. Apathisch schaue ich dem Flussleben zu, da wird Wäsche gewaschen, da baden Menschen, in voller Kleidung seifen sie sich ein, tauchen in die braunen Fluten, spucken das Wasser aus und putzen sich die Zähne. Alles tun sie gründlich und mit Flusswasser. Abfälle schwimmen herum, und das Häuschen am Ende des Steges, der in den Irawadi führt, ist ein Scheißhäuserl.

Nur nicht dran denken. Heute Abend sollen wir ein kleines Städtchen anlaufen, dort kann man von Bord gehen. Ich werde mir das beste Hotel am Platz nehmen, koste es, was es wolle, meinetwegen auch 8,50 Mark. Dann werde ich mindestens sieben Stunden duschen. Noch liege ich aber hier und spüre, wie meine Beinhaare verkrusten. Nur nicht daran denken.

Endlich wird es Abend, es wird sogar Nacht, wir hätten schon längst ankommen sollen. Kurz vor dem Ziel stranden wir auf einer Sandbank. Das Schiff schaukelt darauf herum, versucht, sich zu befreien, die Lotsen stochern mit langen Stöcken nach Untiefen, die Passagiere werden gebeten, sich an das eine Ende des Deckes zu begeben, um den Kiel aus dem Schlamm zu heben. Nach ein paar Stunden gibt der Kapitän auf, und das Schiff fällt ebenso in Schlaf wie seine Passagiere.

Der Irawadi ist ein breiter, flacher Strom. Zur Trockenzeit laufen hier oft Schiffe auf Grund. Nur, dass gerade die Regenzeit zu Ende ist und der blöde Irawadi eigentlich randvoll sein müsste. Am nächsten Morgen kurven wir immer noch herum. Ein Schlepper kommt, zieht und scheitert. Einem zweiten geht es nicht anders. Wir sitzen fest. Wenn man Becketts „Warten auf Godot“ mal etwas aufpeppen wollte, müsste man es „Scheiße auf dem Irawadi“ nennen.

Boote legen an unserem festgelaufenen Schiff an, wir steigen um, und die Boote bringen uns zu einem Hafen. Mein Taxi wird noch mit Anlasskurbel gefahren. Der Chauffeur dreht ein paar Mal, dann springt der Motor an. In Pagan stürze ich ins nächste Hotel, miete eine Dusche und befreie mich aus dem Urschleim des Unbehagens. Bei Mangosaft und Bananenpfannkuchen schwöre ich laut: Nie wieder öffentliche Verkehrsmittel!

Hass

Sumatra, die größte Insel Indonesiens, empfängt mich mit Regen.

Alles scheint davonzuschwimmen. Der Fluss ist über die Ufer getreten, und mir reicht das Wasser bis zum Knie. Ich kann kaum das Fahrrad festhalten. Wie den Heiligen Drei Königen erscheint mir dann ein Licht, eine Herberge.

Im Hotel treffe ich einige Kröten, denen es zu nass geworden ist, und eine Österreicherin mit ihrem italienischen Freund. Sie waren zu nah am Straßenrand gelaufen und sind in eine der verstopften Straßenrinnen gestolpert, kopfüber in [121] Schmant und Schmodder. Am nächsten Tag war das Wasser abgelaufen, und los ging’s in Richtung Westen, Richtung Bukittinggi. Seit Bangkok hatte ich nur Gegenwind gehabt, und jetzt kommen tropische Hitze und ein fieses Mittelgebirge mit endlosen Serpentinen hinzu. Vor mir liegen Bäume, die ein Erdrutsch aus dem Boden gerissen hat. Hinter mir röhren Fernfahrer, die am Steuer eingeschlafen sind und die Straße langdonnern, bis sie sterben. Grün schimmern die Reisfelder im knöcheltiefen Wasser. Wasserbüffel grasen majestätisch blöd glotzend die alten Reisfelder ab. Aus dem Dschungel steigen bunte Vögel auf. Gebirgsbäche rasen durch die grüne Hölle. Manchmal begegne ich auf der Straße einer platt gefahrenen Schlange.

Sumatra ist schön. Es gibt nur ein Problem: die Menschen. Beim Essen setzt sich ein Einheimischer zu mir, stellt sich als „english student“ vor, der sein Englisch verbessern will. Er fragt, woher ich komme, wohin ich gehe, wie ich heiße, ob ich verheiratet bin. Dieselben vier Fragen, die ich schon aus Indien kenne. Nachdem ich geantwortet habe, kommt das Gespräch ins Stocken, für mehr reicht sein Englisch nicht. Er sitzt neben mir und schaut mir beim Essen zu. So geht das die nächsten drei Wochen dreimal täglich. Bei jedem Essen setzt sich ein „english student“ zu mir und stellt dieselben vier Fragen. Es gibt Reisende, die haben sich ihre Antworten auf Visitenkarten drucken lassen.

Bei jeder Mahlzeit werde ich betrogen, man verlangt dreimal täglich den vierfachen Preis, auch wenn ich mich noch eben freundlich mit dem Wirt unterhalten habe, über deutsche Verwandte oder meine Radtour. Doch damit nicht genug. Sobald ich ein Gasthaus betrete, werde ich von 1000 Augen angestarrt, jedoch nicht interessiert und neugierig – die Blicke wirken eher so, als würden sie aus Versehen an mir kleben, und den Indonesiern wäre es zu anstrengend, sie wieder zu lösen.

Einmal lande ich in einem Dorf, in dem es kein Hotel gibt. Nach einer Stunde in einer Menschentraube bietet mir ein junger Mann ein Nachtlager an. Das gesamte Dorf folgt uns, drängelt mit ins Haus, redet, schreit von allen Seiten auf mich ein. Eingepfercht zwischen bettelnden Kindern sitze ich auf dem Sofa, es wird an mir herumgezogen, man will meine Fahrradhandschuhe haben, ein T-Shirt, Geld, die Luftpumpe, alles. Ich bekomme kein Glas Wasser, keine ruhige Minute, an den Fenstern drängeln sich Kinder, stochern mit Ästen ins Zimmer, werfen Steine gegen die Mauer, fahren mit meinem Rad, stürzen, bis ich es abschließe, alle tippen mir auf die Schulter, zerren an meinem Hemd, kratzen und pieken mich mit ihren langen Fingernägeln, schreien von allen Seiten 50-fach in dem kleinen Raum: „Give me! Give me! Hello, Mister, give me!“

Es ist ohrenbetäubend. Ich kann nicht weg, es gibt keinen Fluchtweg. Zwei Stunden lang hacken sie auf mich ein wie Hitchchocks „Vögel“. Dann fliehe ich doch. Ich packe mein Zeug, setzte mich aufs Rad und fahre so schnell es geht davon, während die Dorfkinder mit Steinen nach mir werfen.

Eine Woche später nehmen mich auf dem Trans-Sumatra-Highway zwei Lastwagen in die Zange. Ich winke, mache Stoppzeichen, aber Gnade ist ein Wort, das sie hier nicht kennen. Der hintere Laster schleudert mich kopfüber von der Straße. Mir ist nichts passiert, ein Schreck, zwei Kratzer. Am Rad hat sich die Gabel verbogen, irreparabel. Beide Laster, der eine nach tollkühnem Ausweich- und Bremsmanöver, brettern weiter, ohne sich um mich zu kümmern. Mir zittern die Knie. Tränen steigen mir in die Augen. Mein Rad, das mich durch drei Kontinente getragen hat, an dessen Sattel ich manche Nacht geschlafen habe, die Gefährtin meiner Einsamkeit, ist verkrüppelt, gestorben, aus einem Wesen wurde Blech.

Am Rand der Straße steht ein Gasthaus. Um mich zu beruhigen, kehre ich ein. Die Zeugen meines Unfalls lachen verlegen, und auch bei dieser Speiserechnung werde ich mitleidslos übers Ohr gehauen. Nun fängt der Terror aber erst richtig an: Ich muss mit einem kaputten Fahrrad nach Jakarta, um dort einen neuen Fahrradrahmen zu kaufen und diesen mit den unbeschädigten Teilen meines Rades auszustatten (Gangschaltung, Tretlager, Pedale, Bremse, Sattel, Vorder- und Hinterrad, Lenker, Gepäckträger). Die Fahrt wird eine Folter. Betrügerische Eisenbahner verlangen für das Rad das Dreifache eines Personenfahrscheins. Busse brechen zusammen, werden stundenlang repariert, um wieder zusammenzubrechen. Verpisste Hotelzimmer, Busfahrgäste, die mich die ganze [122] Zeit intensiv und spürbar verachten, Witze reißen, sich dann wieder anschmusen, um mich wieder auf indonesisch in die Pfanne zu hauen.

Ich bekomme Gastritis, Durchfall und nervöses Zittern.

Zwei Wochen Sumatra haben mich hassen gelehrt, hassen ohne Umweg. Kein gepflegter Kennerhass auf André Heller oder Udo Lindenberg, kein Um-die-Ecke-Hass-auf-das-Schweinesystem, sondern bedingungsloser Hass, von Angesicht zu Angesicht. Entschuldigungen zählen nicht mehr: „diese armen Menschen“, „das unterentwickelte Land“, „die fremde Mentalität“, „die werden doch von uns ausgebeutet“, „vielleicht verstehst du es nur nicht, die meinen es doch nicht so“.

Oh nein, ich werde in Sumatra gequält wie ein Maikäfer, der in die Hände sadistischer Erstklässler geraten ist. Sie reißen mir die Beine aus, langsam eines nach dem anderen.

Ganze zwei freundliche Menschen habe ich auf Sumatra kennengelernt: einen Zeitung lesenden Gast im Restaurant, der freundlich und ohne Berechnung sagte, mein bestelltes Essen sei eine örtliche Spezialität, und ein Polizist, der von mir ein Bier einforderte und mich ansonsten in Ruhe ließ. Zwei Menschen und tausende von Bestien. Ich war Spielzeug, fremd, schmerzunempfindlich, würdelos. Ein Ball, den man treten, ein Opfer, das man quälen konnte. Jeder trat und jeder quälte.

Nicht nur reiche weiße Europäer können Rassisten sein. Und Menschen aus Entwicklungsländern sind nicht unbedingt von Geburt an und für immer hilfreich, edel und gut. Kein Sumatrese behandelt seinesgleichen, wie er mich behandelt hat. Kein Gastarbeiter in der Bundesrepublik wird ständig so intensiv und durchgehend gequält wie ich in Sumatra.

Dort haben sie mich hassen gelehrt – haben mir beigebracht, mein schlechtes Zivilisationsgewissen einfach zu vergessen. Übrig blieb reiner Hass. Ich habe die Welt mit Exterminator-Augen gesehen, die Muskeln haben sich vor Hass angespannt. Mein Herz war Rambo, mein Blut kochte 24 Stunden am Tag. Keine Verständigung, keine Entschuldigung, nur Flucht vor dem Arsch der Welt.

Jetzt, zu Hause, hasse ich sie nicht mehr. Ich bin nicht rachsüchtig. Ich fahr nur nie wieder dorthin.

Amerika

Good bye America. Fort von Los Angeles, wo der Sonnenuntergang wie bei Wim Wenders aussieht, wo der Cop mit der Ray-Ban-Brille die Daumen in den Gürtel schiebt, um seinen Bauch vorzustrecken, wo sich Feuerleitern an Bukowski-Hotels hochranken wie epileptischer Efeu.

Good bye America, ich habe sie immer gehasst, die New-York-Bewunderer, die Manhattan-Taxi-Kenner, die Spurensucher in Big Sur, alle die europäischen Kritiker, Skeptiker und Anti-Amerikanisten, die über die USA schreiben und dabei vor Staunen die Augen nicht mehr zu und das Kinn nicht mehr hochkriegen. Also zum letzen Mal: Good bye Amerika.

Hinter dem Stacheldraht von San Isidro endet das gemeinsame Haus Amerikas.

Ein dreckiges Dutzend Meilen südlich von San Diego steht ein anti-lateinamerikanischer Schutzwall, dahinter beginnt die DDR Amerikas. Sehnsüchtig starren die Flüchtlinge aus Mexiko, El Salvador und Guatemala herüber, in ein Land, das sie aus dem Werbefernsehen kennen. Nur einen Schießbefehl gibt es hier nicht.

Winnebago- und Westfalia-Campingwagen der Ami-Rentner brechen nach Niederkalifornien ein, in jene schmale Halbinsel im Pazifik.

1500 Kilometer zieht sich hier der Mexiko-Highway Number One an der Wüste entlang, an Vulkanen, Hochplateaus, Kakteen und ausgetrockneten Salzseen. Wenn man Landschaften heiraten könnte, würde ich Niederkalifornien in meinen Harem aufnehmen.

Hier ist Cowboy-Land. Männer sind unrasiert und ungeduscht, ein stolzer Bierbauch spannt das Hemd, schwillt über die Hose und trotzt allen kalifornischen Bodybuilder- und Badehosenfiguren.

In Colonet lädt mich Joaquin, ein 30-jähriger Mexikaner, zum Bier ein. Als er erfährt, dass ich ein Alemán-Gringo und kein Ami-Gringo bin, zahlt er auch die zweite Dose. Dann nimmt er mich auf seinem klapprigen Ford mit in sein Haus. Ein Betonquader, drei Autos davor, ein Geräteschuppen und ein Plumpsklo – in dem das Skelett einer Klapperschlange hängt – sind sein Heim. Drinnen stapeln sich Schuhkartons, ein paar Fußbälle und Sporttrophäen. Damit zieht er dreimal pro Woche über die Märkte, um sie zu verkaufen.

Neben den Schuhkartons türmen sich Säcke, Bündel, Stühle. Er macht mir Tortillas, handgefertigt, dazu gibt es Ei und Tomaten. die wir auf der Heimfahrt von einer Plantage gestohlen haben. Nach dem Abendessen hören wir die Nachrichten der BBC, die Deutsche Welle bekommt er trotz langem Drehen am Radio nicht in den Empfang. Joaquin legt sich auf sein schmuddeliges Laken, ich bekomme das frisch bezogene Sofa. Aus dem Radio dudelt nun Yolanda del Rio, die Superstimme aus Mexiko. Draußen bellen die Hunde den Mond an, es riecht nach saurem Schweiß, nach Turnhalle, nach Junggesellen und altem Fett. Über dem Herd hängen ein Bildnis der Mutter Gottes und ein Busenwunder einer Autoreifenfirma. It’s a man’s, man’s, man’s world.

Paradies

Vor der Veranda liegt die karibische See, Palmen wiegen sich, der Sand leuchtet weiß, am Horizont färbt sich das Meer aquamarin, dort hinten liegt das zweitgrößte Korallenriff der Welt.

Ich trinke auf Cay Caulker, die beliebteste Insel von Belize – ehemals Britisch-Honduras, südlich von Mexiko an der Karibik gelegen. Neben mir steht eine Flasche voll Honig, die mir ein Schwarzer vor ein paar Tagen in Belize-City als Droge verkauft hatte. „Honey in Muskirk“ nannte er es. Ich konnte auf Teufel komm raus nicht verstehen, was „Muskirk“ ist. Er hatte mir den Honig damals ungefragt auf meinen Frühstückspfannkuchen geträufelt. Das am frühen Morgen! Allerdings habe ich nichts gespürt. Belize ist bekannt dafür, dass man nur falsche Drogen bekommt, aber dafür alles, von psychedelischen Pilzen bis Crack. Und „Honey in Muskirk“.

Ich trinke den Rum und nehme eine Überdosis Muskirk. Dazu esse ich Kekse. Ich werde ziemlich betrunken. Gestern war ich auch schon ziemlich betrunken, in der Disco, wo ich mit Werner wegen einer einheimischen Schönheit um die Wette gebalzt habe. Sie spielten die Musik der Karibik, Soca, eine Mischung aus Soul und Calypso sowie Reggae, DJ-Reggae und Lovers’ Rock, die sentimentale Form des Reggae.

Eigentlich sollte ich schnorcheln gehen, um die fantastische Unterwasserwelt zu erforschen. Oder ich könnte zu dem gesellschaftlichen Ereignis von Cay Caulker gehen, das vor Hummeressen und Disco angesagt ist, zum Fußballspiel. Ich probiere weiterhin Rum mit Honeymuskirk, und ich rätsele weiter herum. Meinte er Mushrooms oder Muskat? Er hatte noch irgendwas von einem Öl erzählt, ein Pilzöl in Honig, Muskatöl in Honig? Wirklich eine sehr merkwürdige Droge. Mit null Erfolg. Ich habe die ganze Flasche ausgesoffen, vom Rum und vom Muskirk habe ich nur den Rum bemerkt.

Dieser affige Werner. Ich hatte sie eindeutig als erster angesprochen, die schöne Mary, auf dem Weg zwischen Disco und Bar mit der Kennerfrage: „Wo ist denn was los hier, holde Schönheit?“, und nachdem sie uns den Weg zur Disco gezeigt hatte, wurde ich richtig keck: „Meinst du, dort ist es auch schön ohne dich?“ Sie lachte. Sie lachte mich an. Genau.

Werner und ich zogen dann zu jener Disco, tranken Bier, das gute Belikin Stout, unterhielten uns ganz nett, bis Mary kam. Darauf verbog ich meine Rede zu einem Kompliment: „Erst durch deine Anwesenheit wird es hell und licht an diesem Ort.“ Sie lachte mich an. Unvorsichtigerweise wandte ich mich für eine Sekunde der Theke zu, schon schlug Werner, der falsche Fuffziger, zu: „Wie licht und hell wird es durch deine Anwesenheit hier.“ Kaum zu glauben, wortwörtlich derselbe Stuss. Mary muss Männer jetzt für ziemlich bescheuert halten.

Werner drängte mich ab, hielt sie in Beschlag, hin und wieder sah Mary zu mir herüber, dann hatte dieser verdammte blöde Tübinger sie endgültig hypnotisiert. Auf der Toilette überprüfte ich selbstkritisch und völlig neutral mein Aussehen. Doch, ich bin hübscher als Werner. Intelligenter sowieso. Außerdem bin ich mit dem Radl da, das ist doch extrem beeindruckend. Leider habe ich schon die Erfahrung gemacht, dass mich die Frauen völlig entgeistert anstarren, wenn ich ihnen mein Heldentum eröffne, als ob ich sexuellen Verkehr mit Regenwürmern hätte. Ich bestellte mir noch ein Bier und kam zu dem Schluss, dass auch die Frauen ziemlich bescheuert sind.

Werner und Mary tanzten Schieber zu Bob Marleys „No Woman No Cry“, ich schwenkte die Bierflasche. Pah – Weiber!

Nachdem dieser Film vor mir abgelaufen ist, sinke ich wieder in meinen Schaukelstuhl auf der Veranda und entspanne mich im Hier und Jetzt. Die Wellen plätschern, Bikinis laufen vorbei, Soca tönt aus den Hütten, der Hummer wartet. Ich habe das Paradies wiedergefunden. Die Flasche ist leer.

Heimat

Die 140 Kilometer gestern durch die Ardennen, von Brüssel bis kurz vor die luxemburgische Grenze, waren anscheinend doch zu viel. Ich bin völlig erschöpft. Dreieinhalb Tage seit London, vier Tage bis nach Hause. Ich liege auf einer Parkbank, die Sonne dörrt mein Hirn. Deutsche Touristen ziehen vorbei, ich schnappe Gesprächsfetzen auf. Endlich redet wieder jemand deutsch, nach 19 Monaten. „Du, ich mein’ das aber echt nicht so… “ „Die Erika meint immer, sie sei was Besonderes…“ Quengelige, selbstzufriedene Töne. Eine Motorradgruppe aus Aachen poltert mit ihren geputzten Geländemaschinen den Bürgersteig entlang.

Oh, Deutschland, lang’ habe ich mich auf dich gefreut, und nun das. Ich zwinge mich, aufzustehen, Geld am Bahnhof wechseln, die Jugendherberge aufsuchen, dann wieder schlafen. Es war doch zuviel Sonne heute und gestern. Nur, weil du gerade aus Mittelamerika gekommen bist, musst du nicht denken, dass man in Europa keine Radlerkappe braucht. Mir fällt der Sonnenstich in Pakistan ein, als ich zwei Tage in der Hütte eines gastfreundlichen UNO-Angestellten geschlafen habe, neben einem Berg von gebrauchten afghanischen Flüchtlingsausweisen. Dann schlafe ich ein. Um drei Uhr morgens wache ich auf. Mein Bauch krampft sich zusammen. Vor ein paar Tagen hatte ich Blut im Urin. Es geht mir erbärmlich. Ich kann nicht pinkeln, mir ist so übel, dass ich sofort ins Krankenhaus will.

Ich wanke die Treppe herunter, beim Telefonapparat brennt kein Licht, ich habe keine passenden Münzen und verwechsle die Notrufnummer von Luxemburg mit der von Belgien. Der Herbergsleiter ist unauffindbar. Ich sinke an der Treppe zusammen, schweißgebadet. Ein Holländer, der eine jugendliche Rugby-Mannschaft betreut, kommt vorbei, ich bitte um einen Anruf im Krankenhaus. Er glaubt mir nicht, hält mich für einen deutschen Schlappschwanz. Beschwörend schildere ich ihm meine Situation. „Haben Sie getrunken?“ fragt er. Ganz ruhig, Lorenz, ganz ruhig: „Nein, ich habe nicht getrunken.“

Irgendwann tauchen zwei weitere Begleiter der Rugbymannschaft auf, eine halbe Stunde werkeln sie am Telefon herum, es gibt kein Telefonbuch, keiner kennt die Nummer. Aber die müsste doch am Apparat stehen, denke ich. Warum bin ich nur solchen Volltrotteln in die Hände gefallen? Dann stellt sich heraus, dass das Telefon kaputt ist. Endlich wird der Herbergsleiter gefunden, die Ambulanz benachrichtigt, und ich komme ins Hospital. Am nächsten Tag Blinddarmoperation, es war höchste Zeit. Drei Tage dösen, drei Tage Fernsehen, „Lindenstraße“, „Tagesthemen“ und Jacobs-Werbung. Dann holt mein Vater mich ab, setzt mich in Günzburg, wo er wohnt, in den Zug.

Ich setze mich zu einer schwäbischen Hausfrau ins Abteil und erlebe Deutschland pur. Sie trägt ein anständiges Kleid und ein Gesicht, für das sie selbst verantwortlich ist.

Ich fahre in München ein. Wie oft hatte ich mir irgendwo auf einer Landstraße diesen Moment ausgemalt. Triumphal würde ich meine Arme hochreißen. Zurückkehren wie ein Sieger. Im Applaus baden.

Jetzt gibt es Küsschen am Bahnhof. Ich werde nicht einmal sentimental. Die Sentimentalität habe ich unterwegs verloren.