Tim Blanks – „Die Mode und ich, das war ein Unfall“

Interview
zuerst erschienen am 15. September 2015 auf ZEITmagazin Online
Tim Blanks ist einer der meistgefürchteten Modekritiker der Welt. Der Neuseeländer über exzessive Kreativität, Bondage-Hosen, Lesben-Shirts und die dunkle Seite der Mode.

Herr Blanks, Sie arbeiten seit über 25 Jahren als erfolgreicher Modejournalist. Wie haben Sie die Welt der Mode für sich entdeckt?

Ich habe mich schon immer für extreme Formen von Kreativität interessiert. Meine Heimatstadt Auckland ist zwar nicht der modischste Ort der Welt. Aber es gab eine sehr lebendige Kunstszene und die aufregendsten Drag Queens der Welt. Meine These lautet: Insulaner haben einen Hang zum Exzess.

Inwiefern?

Es gab eine Menge Drogen zu der Zeit. Alle nahmen Heroin. Außer ich natürlich. Viele Menschen starben, weil sie nichts zu verlieren hatten. Ich glaube, dass Insulaner eine besondere Einstellung zur Erniedrigung haben. Nicht umsonst nannte man Sadomasochismus früher die „englische Krankheit“. Und wo wird und wurde Sadomaso zelebriert? In Japan, in West-Berlin, in Neuseeland. Es ging einfach darum, sich sexuell auszuprobieren. Sex, Musik, Mode, das gehörte zusammen.

Wie haben Sie sich damals informiert?

Meine Großmutter hatte alle großen Modemagazine im Abo. Ich selbst habe noch Andy Warhols Interview abonniert. Ich wusste sehr genau, was da draußen los war. Ich war bereit für die Welt, als ich alt genug für sie war.

Sie waren früh dran – Sie begannen bereits mit 15 Jahren zu studieren.

Ich war sehr gut in der Schule, aber es war eine schreckliche Zeit. Ich war ein Freak, fett und affektiert. Da habe ich einen Deal mit meinen Eltern gemacht. Dass ich an die Uni darf, wenn ich ein Stipendium bekomme. Ich bekam eins.

Sie waren fast noch ein Kind.

Ja, und die Leute um mich herum waren erwachsen. Das war erst komisch, aber letztendlich hat mich die Uni gerettet. Lange geblieben bin ich trotzdem nicht.

Warum denn?

Weil die meisten Studenten heterosexuell waren. Da hatte ich nichts zu suchen. Ich habe meinen Abschluss in Deutsch und Geschichte gemacht und ging 1974 nach London.

Mit welchen Plänen?

Vordergründig, um meinen Master zu machen. Aber eigentlich wollte ich einfach an dem Ort sein, an dem die Menschen lebten, die die Dinge taten, die ich liebte. Die Uni habe ich nie wieder betreten. Das Leben kam mir dazwischen.

Wie haben Sie die Welt damals wahrgenommen? Durch die Musik oder die Mode?

Durch die Musik. Ich schrieb für einige Musikmagazine. Ich habe immer noch meine Kalender von damals, in denen ich jede Nacht notiert habe, wo ich gewesen bin. Ich war sieben Tage die Woche unterwegs, jeden Tag ein anderes Konzert: Siouxsie and the Banshees, The Clash, Sex Pistols. Es war großartig.

Welche Rolle spielte Mode zu der Zeit?

Kleidung war damals noch keine Mode für mich. Ich wollte einfach nur aussehen wie Ziggy Stardust und war damit beschäftigt, meine eigene Version seiner Bühnenoutfits zu machen.

Wo gingen Sie dafür einkaufen?

Bei Sex, dem Shop von Vivienne Westwood und Malcom McLaren. Sex sah aus wie ein Sexshop, aber sie verkauften dort diese tollen T-Shirts in Grün und Pink mit lesbischen Pornoszenen vorne drauf und Federn auf den Schultern. Die sahen so billig aus und waren absolut brillant. Meine erste Bondage-Hose habe ich dann allerdings bei Seditionaries gekauft …

…dem zweiten Laden von Westwood und McLaren.

Ja, der war sehr viel professioneller. Die Sachen waren unglaublich teuer, was schlau war. Das Zeug konnte man sich eigentlich nur leisten, wenn man es geklaut hat. Ich habe Monate auf diese Bondage-Hose gespart. Und auf einen roten Seidenschal, auf dem „No Future“ stand. Der kostete fünf Pfund und meine Wohnung kostete acht Pfund die Woche. Das stand in keinem Verhältnis.

Wieso haben Sie dann letztlich angefangen über Mode zu schreiben?

Die Mode und ich, das war ein Unfall. Ich habe schon immer die französische Vogue geliebt, die Fotografien von Helmut Newton und Guy Bourdin. Deshalb begann ich neben dem Musikjournalismus auch für Modemagazine zu schreiben. Als ich 1989 anfing, die TV-Sendung Fashion File zu moderieren, war mein Schicksal besiegelt.

Sie haben 1988 das erste Mal eine Modenschau besucht. Können Sie sich daran erinnern?

Haute Couture, Yves Saint Laurent, Tauben von Picasso, eine Braque Gitarre. Ich wusste vorher ungefähr, was mich erwartet, aber nicht, dass es so lange dauern würde. Die Show ging über eine Stunde, es wurden 180 Looks gezeigt.

Heute dauern Schauen zehn bis zwölf Minuten. Eine Stunde? Das klingt absurd.

Einerseits ja, andererseits war das Ganze viel näher an der Kundin als heute. Es wurden Variationen in Farbe und Schnitt gezeigt, eine Menge Hosenanzüge, Jacken und sehr viel Daywear. Das macht heute keiner mehr in der Haute Couture.

Wussten Sie damals gleich, dass sie das für den Rest Ihres Lebens machen wollen? Schließlich sind Sie heute der wichtigste Schauenreporter der Welt.

Nein! Ich habe es geliebt, aber ich habe nie Pläne in diese Richtung gemacht. Ich bin generell nicht gut im Pläne schmieden. Ich bin chaotisch und undiszipliniert. Mein Mann ist das Gegenteil. Ich treibe ihn in den Wahnsinn.

Für Style.com sind Sie trotzdem neun Jahre lang zu den Schauen gefahren und haben Tausende Kritiken verfasst. Wie haben Sie das geschafft, wenn Sie so chaotisch sind?

Ich bin zwar nicht sehr diszipliniert, aber ich bin sehr verantwortungsbewusst. Ich hasse es, Menschen zu enttäuschen. Ich habe noch nie nicht geliefert. Ich bin hin und wieder eingeschlafen. Aber ich habe nie nichts geliefert.

Wie ist Ihre Fashion-Week-Routine?

Früher, als noch nicht so viele Schauen gezeigt wurden, bin ich zwischendurch immer ins Hotel gefahren und habe geschrieben. Mittlerweile hetze ich von Show zu Show und schreibe nachts. Um fünf Uhr morgens gehe ich ins Bett und um acht Uhr dreißig klingelt der Wecker für die nächste Runde.

Sie sind die Angela Merkel der Modeberichterstattung!

Aber nur in der Schauensaison. Dann programmiere ich mich um. Das ging früher allerdings leichter als heute. Ich werde alt.

Beschweren sich die Designer auch mal bei Ihnen?

Oh ja, manche werden sogar sehr böse. Ich wurde auch schon von Schauen verbannt. Von Rei Kawakubo zum Beispiel.

Was möchten Sie denn mit ihrer Arbeit erreichen?

Infotainment. Ich möchte die Menschen neugierig machen. Ich bin die Neugierig-mach-Droge.

Wie gehen Sie mit der Macht um, die Sie haben?

Es ist komisch, dass die Leute immer denken, mein Job habe etwas mit Macht zu tun. Meine Macht liegt darin, Menschen eine Welt aufzuschließen. Das war’s auch schon.

Hat der Onlinejournalismus Ihre Arbeit verändert?

Nein, weil die Inhalte dieselben sind. Es muss zwar alles schneller gehen als früher, aber sonst hat sich kaum etwas verändert. Ich schreibe immer noch mit zwei Fingern. Obwohl ich zugeben muss, dass der Computer meine Arbeit auf jeden Fall einfacher gemacht hat. Und klarer.

Sie bewegen sich an der Spitze der Modewelt, auf der kreativen, der guten Seite der Industrie. Denken Sie manchmal darüber nach, über die andere Seite zu schreiben? Über die ausgebeuteten Arbeiter zum Beispiel?

Über die hässliche Seite der Schönheitsindustrie? Hmm (er überlegt)

Auch wenn Sie sagen, sie hätten keine Macht, sind Sie natürlich trotzdem in einer machtvollen Position. Früher bei Style.com, heute als Editor at Large bei Business of Fashion. Vielleicht könnten Sie etwas verändern.

Da haben Sie mich erwischt. Ich weiß nicht, warum ich nicht über solche Themen schreibe. Weil ich über das Endprodukt schreibe, über die Kreativen. Ich schreibe über Menschen, in deren Fabriken glückliche Menschen arbeiten.

Und die in ihren Ateliers in Paris oder London dafür Praktikanten ausbeuten …

Ja, aber na ja, ich habe früher auch für einen Hungerlohn gearbeitet. Das gehört in dieser Branche dazu. Sie kennen doch den Spruch: Lehrjahre sind keine Herrenjahre. Ich weiß nicht, warum ich nicht über die hässliche Seite schreibe. Vielleicht, weil ich nicht über Fast Fashion schreibe. Ich bin auf der Seite der Industrie, die die Mode zelebriert.

Die Mode, über die Sie schreiben, inspiriert aber junge Menschen, zu Primark zu gehen.

Das stimmt. Alles, was ich jetzt sage, klingt wie eine Ausrede. Sie haben absolut recht.

Wechseln wir das Thema: Was ist Schönheit für Sie?

Meine Hunde.

Was war Ihr erstes Designerstück?

Ein Poloshirt von Daniel Hechter, das ich in einer Mall in Auckland geklaut habe.

Welchen Rat können Sie jungen Modejournalisten geben?

Sagt nie Nein. Nehmt jeden Job an.

Wer sind für Sie persönlich die drei wichtigsten Menschen in der Modebranche?

Miuccia Prada, auch wenn sie gerade zu kämpfen hat. Karl Lagerfeld, weil man bei einer Unterhaltung mit ihm immer etwas lernt. Und der Dritte? Mir fällt niemand ein. Ehrlich gesagt denke ich jetzt die ganze Zeit darüber nach, wie ich die Modewelt von ihren moralischen Dilemmas befreien kann.

Sie hören ja nun bei Style.com auf. Vielleicht ist jetzt der richtige Zeitpunkt dafür?

Ja, sobald ich wieder in London bin, muss ich dringend ein paar Exposés schreiben. Aber bevor wir uns trennen: Von wem ist Ihr Rock?