Tristesse Baléare

von 
Reportage
zuerst erschienen 2001 im jetzt-Magazin
Die Insel Ibiza ist bekannt für ihre Partys und ihre Sonnenuntergänge. Im Winter gibt es beides nur in der kleinen Version. Dafür sind die Ibizenkos einmal im Jahr unter sich und haben Zeit für die wirklich wichtigen Dinge: chillen, melancholisch werden und über die Zukunft nachdenken

Der beste Club der Welt ist vorübergehend geschlossen. Verlassen liegt das DC 10 in der Mittagssonne da, am Rand der Salinen an der Straße zwischen der Inselhauptstadt Eivissa und dem Strand Platja de ses Salines. Es ist Winter auf Ibiza, die Zeit der verschlossenen Türen, der heruntergelassenen Rolltore, der verrammelten Fenster, der  kettengesicherten Eisengitter. Die einzige Lightshow, die hier bis zum Beginn der Saison im April nächtlich gegeben wird, ist das Blitzen der Signalleuchten des Flughafens. Das DC 10 liegt in der direkten Einflugschneise, im Sommer dröhnen die Touristenflieger Tag und Nacht knapp über das Dach hinweg. Alle zehn Minuten wackeln die Wände, während  die schönsten Menschen der Welt zu altmodischer House-Musik tanzen. Viele halten das DC 10 für den besten Club der Welt oder jedenfalls für den besten Ibizas. Aber das ist eigentlich dasselbe: Ibiza ist die Welt. Im Sommer.

Ein paar hundert Meter die Landstraße hinunter steht das Restaurant La Sal. Eneli arbeitet dort den Sommer über in der Küche. Im Moment schlägt sie sich mit  Gelegenheitsjobs durch. Ihre Freundin Terje arbeitet in der Küche des Il Gatto, die zum Glück während  des Winters wenigstens  am Wochenende geöffnet ist, sonst müsste sie wie Eneli vor allem mit gespartem Geld durch den Winter kommen. Terje und Eneli stammen beide aus dem selben Dorf in Estland, vor vier Jahren sind sie zusammen von dort weggegangen, und seitdem waren sie kaum einmal einen Tag getrennt. Eneli hatte in Estland zwei Jahre lang eine Tourismusschule auf einer öden Insel besucht, und auch Terje wollte nach einem Jahr Wirtschaftsstudium nur noch weg. Eines Tages haben Eneli und Terje ihre Sachen gepackt, sich in ihrem Dorf an die Straße gestellt und den Daumen rausgehalten. Einen Monat brauchten sie per Autostop bis Ibiza. Zweimal noch sind sie seither von der Insel weggegangen, nach Hause zu ihren Eltern, aber jetzt leben sie seit fast einem Jahr  ununterbrochen auf Ibiza. In diesem Winter haben Terje und Eneli ihr erstes Silvester auf Ibiza gefeiert, in einem großen Haus, das reicbe Deutsche an die Klippen der Steilküste im Norden gebaut haben. Die Luft war angenehm, als Eneli und Terje frühmorgens hinaus auf die Terrasse gingen, während drinnen im Haus noch die Partygäste feierten. Wie sie so über das Meer schauten,  da dachten Eneli und Terje an ihre Familien, zu Hause im kalten Estland. Dann ging die Sonne über dem Meer auf, und da wussten sie, dass sie in diesem Moment an keinem anderen Ort auf der Welt sein wollten.

Die beiden Mädchen teilen sich mit ihrem Hund Lola ein kleines, preiswertes Apartment in Sa Penya, dem verwinkelten Teil der Altstadt von Eivissa. Dort leben die Außenseiter der Insel: Zigeuner, Junkies  und Leute, die wie Eneli und Terje einfach nur irgendwie auf Ibiza überleben wollen, an diesem warmen, verheißungsvollen Ort. Lola ist ihnen zugelaufen. Freunde sagen, Lola sei „naturbreit“, eine Lethargikerin vor dem Hundeherrn. Terje und Eneli aber lieben ihre Lola, und deshalb haben sie ihre Krallen mit buntem Nagellack angemalt. Terje und Eneli haben kein Auto, noch nicht mal ein Fahrrad; Terje kann zwar zu Fuß von ihrer Wohnung zur Arbeit ins Il Gatto gehen, aber Eneli muss im Sommer jeden Abend acht Kilometer trampen. Dafür kommen die Mädchen umsonst in jeden Club der Insel, sie zahlen nicht wie die Touristen hundert und mehr Mark Eintritt pro Disco. Im Sommer schauen die Flyer-Verteiler, die auch die Freikarten  für die Clubs Pacha, Amnesia, Space, Eden, El Divino und Privilege an die Einheimischen vergeben, täglich im Il Gatto vorbei, immer am frühen Abend. Terje bekommt dann meist zwei Freikarten zugesteckt. Im Winter aber kommt niemand vorbei, nur die vergilbten Reklametafeln der Clubs aus dem letzten Jahr erzählen davon, dass es mal einen Sommer gab. An den Winterwochenenden  haben Eneli und Terje stets dieselbe Ausgehroutine: aufwärmen im KM 5, die Spannung für den Abend holen im Manumission-Motel, groß feiern im Pacha, der erste Morgenkaffee in der Croissant Show. Dann ist es acht Uhr in der Früh, und wenn sie noch Kraft haben, gehen sie zum Entspannen in den düsteren Tagesclub Konga. Eine andere Ausgehroute käme ohnehin nicht in Frage – die anderen Läden sind geschlossen.

Den nächsten Sommer wollen Eneli und Terje noch auf der Insel bleiben, wie im letzten Jahr jeden Abend in der Küche arbeiten, Salat waschen und Pasta kochen, und danach bis in den Morgen mit Freunden ausgehen. Wenn die Saison im Oktober vorbei ist, dann werden sie mit ihrem Ersparten vom Sommer erst zurück nach Estland und danach gleich weiter nach Südamerika fahren. Terjes Freund, der auch auf Ibiza lebt, stammt aus Buenos Aires. Er will nach dem Sommer nach Hause zurück. Eneli hat schon immer von Argentinien und Brasilien geträumt, also werden sie und Terje weiter zusammen reisen, so wie die ganzen Jahre davor. Eneli und Terje sind 22 Jahre alt. Sie sind die glücklichsten Menschen der Welt.

Am nördlichen Ende der Insel, in Sant Antoni, beginnt langsam der berühmteste Sonnenuntergang der Popkultur. Weil der Sonnenlauf zu dieser Jahreszeit jedoch anders ist als im Hochsommer, plumpst die Sonne nicht schwer  und  tiefrot  zwischen Cap Negret und der Mini-Insel Conillera ins Meer, sondern verschwindet kleinlaut, rasch und zickig-gelb mitten über den felsigen Buckeln von Conillera. An der Tür des Cafe del Mar, oberhalb des Hafens von Sant Antoni, klebt noch immer die Ankündigung der Saisonabschlussparty des letzten Jahres. 6. November 2000. Das Cafe del Mar ist nicht mehr als eine kitschig-verspiegelte Bar mit großen Fenstern im Erdgeschoss eines großen Mietbunkers. Sant Antoni, das ist die Stadt der englischen Tanztouristen, der Bettenburgen und Vergnügungsparks, ein architektonischer Vorhof der Hölle mitten im Paradies. Trotzdem treffen sich seit zwanzig Jahren im Sommer allabendlich Menschen auf der kleinen Terrasse und dem vorgelagerten felsigen Strand, um sich den Sonnenuntergang anzuschauen. Zehn Jahre lang war das Cafe del Mar eine von vielen Bars in der Kirmes-Stadt Sant Antoni – dann kam Jose Padilla, und seitdem ist das Cafe del Mar Pop.

Jose Padilla ist ein hektischer Mensch, er frisst Camel Filters im Viertelstunden­-Takt, die Gangschaltung seiner 13 Jahre alten, giftgrün lackierten Ente traktiert er auf dem Weg zu seinem neuen Haus am Rande von Sant Rafael mit eleganter Brutalität. Jose Padilla ist ein 46 Jahre alter Mann mit dezent fliehendem Haaransatz, der sich ansonsten bemerkenswert gut gehalten hat angesichts seiner Vergangenheit: Seit dreißig Jahren legt Jose Padilla Platten auf, seit 26 Jahren bekommt er Geld dafür, genauso lange, wie er auf Ibiza lebt. Obwohl er von sich selbst sagt, kein klassischer Club-DJ zu sein, hat er die Inseldiscos eine nach der anderen bespielt. 1991 war das Jahr, in dem Jose Padilla das erste Mal im Cafe del Mar auflegte, fünf weitere Sommer sollten folgen. In jenem fernen Sommer 1991 waren Hause und Techno neu und aufregend und gerade auf der Insel angekommen. Padilla dagegen begleitete den Sonnenuntergang mit klassischer Musik, Soundtrack-Musik, Hippie-Musik, elektronischer Musik. „Hätte es 1991 schon Trip Hop gegeben“, sagt er, „hätte man es wohl so nennen können.“ Drei Jahre später gab es Trip Hop und Jose Padilla stellte die erste Cafe-del-Mar-CD zusammen, die Mutter aller Ibiza-Compilations. Jose Padilla tritt auf die Bremse seiner Ente. „Aber das ist für mich heute Geschichte, nicht mehr.“ Heute interessieren ihn vor allem zwei Dinge: sein neues Haus, eine 400 Jahre alte Finca, die saniert werden musste, und sein neues, selbst produziertes Album. Beides ist endlich fertig, das Haus und das Album, beides brauchte seine Zeit, wie alles auf Ibiza. Gerade war der Chef von Madonnas Plattenlabel Maverick zu Besuch auf der Insel. Jose Padilla hat ihn vom Flughafen abgeholt. Der Mann aus New York, ein freundlicher Stretchlimousinen-Benutzer, wirkte irgendwie irritiert, als er in Padillas klappriger Ente saß.

Noch ist kein Wasser im Swimmingpool seines neuen Hauses, aber Jose Padilla denkt schon ans Wegkommen. „Im Sommer ertrage ich Ibiza nicht. Wenn ich nicht sowieso auf Tour sein werde, gehe ich dieses Jahr für drei Monate nach Griechenland“, sagt er. Der umherfliegende, sich in jeder Pore festsetzende Staub des Sommers bereitet ihm Kopf- und das Geschäft mit den Touristen Augenschmerzen. „Alles sieht im Sommer aus wie Plastik: die Hotels, die Strände, selbst die Leute sehen wie Plastik aus. Wenn ich im Sommer ausgehe, dann brauche ich zwei Tage, um darüber hinwegzukommen, was ich da gesehen habe.“ Obwohl Jose Padilla gelernt hat, Ibiza zu hassen, ist er ein Gefangener der Insel. „Das ist meine Heimat, das sind meine Farben, Gerüche, Landschaften, das alles spiegelt sich in meiner Musik wider.“ Südamerika wäre okay, wären da nicht ständig Regierungskrisen und Naturkatastrophen, sagt Padilla. Und Australien. „Aber Australien ist verdammt noch mal zu weit weg.“ Wenigstens gibt es den Winter auf Ibiza.

Die Nacht ist hereingebrochen über die Insel, die Zeit des unsichtbaren Partygotts beginnt. Irgendwo unter der Insel muss seine geheime Kommandozentrale sein. Er lässt den Ibizenkos Zeit – lässt sie zu Abend essen nach 22 Uhr, sich über die Welt und manchen Sinn in ihr unterhalten bis halb zwei Uhr nachts. Aber dann befiehlt er ihren inneren Stimmen, ihm zu folgen: in die Nacht. Er sorgt dafür, dass der Aufwärmladen KM 5, ein rot getünchtes Labyrinth, halb im Freien, um Viertel vor zwei menschenleer, eine halbe Stunde später aber heillos überfüllt ist. Er beordert die Menschen danach in die Katakomben des Manumission-Motel, vor denen ein finster dreinblickender Kleinwüchsiger Wache hält. Er lässt sie um vier Uhr nachts urplötzlich ins Pacha strömen. Francisco Ferrer ist vermutlich die rechte Hand des Partygotts. Der 36-jährige Ferrer ist zuständig für das Image, die Partys, die Tänzer und die Gastronomie des Pacha, des wohl berühmtesten Clubs von Ibiza. „Wenn es einen passenden Titel für mich gibt“, sagt Ferrer, „dann lautet der wohl Art Director.“ Der kleine Mann mit Kinnbart und dezentem Bäuchlein arbeitet seit 1995 im Pacha, gleich nach seiner Militärzeit kam er nach Ibiza. Sein Assistent Fred, ein großer, schlanker, eleganter Mann, der seiner Miene nach der Auftragskiller des Partygotts sein könnte, verbringt seinen ersten Winter auf der Insel. Arbeit ist genug da für die beiden, denn sie müssen schon jetzt den nächsten Sommer vorbereiten: Die Partys, die Dekorationen, die DJs. Außerdem wird das ursprünglich 1973 eröffnete Areal mal wieder ausgebaut, und die neuen Pacha-Filialen in München und Brüssel müssen auch hin und wieder besucht werden. „Im Moment ist die ruhigste Zeit des Jahres, aber bald schon kommen die Leute zurück, die im Sommer auf der Insel arbeiten“, sagt Francisco Ferrer. Die Zeit des Wiedersehens rückt näher, jedes Wochenende feiern mehr bekannte Gesichter im Pacha, die Ferrer seit November nicht mehr gesehen hat. Ende März sind sie alle wieder da. Immer. Angst, dass die Touristen eines Tages wegbleiben könnten, hat Ferrer nicht: „Seit ich hier arbeite, werden es von Jahr zu Jahr mehr Menschen, es ist verrückt. Selbst die, die drei oder vier Jahre lang nicht mehr auf Ibiza waren, kommen mittlerweile wieder.“ Sollen die Leute nur den UK-Garage-Promotern nach Zypern folgen wie im letzten Sommer, am Ende kehren sie doch nach Ibiza zurück. „Weil Ibiza nun mal den Standard setzt“, meint Fred. Ins Pacha, sagt Francisco, kommen die Menschen mit Sinn für Schönheit und Glamour, egal ob sie selbst schön, reich, berühmt sind oder nicht.

Christian ist ein schöner Mensch, ein junger Mann mit welligem blonden Haar. Um fünf Uhr morgens steht er an der Tanzfläche des Pacha und sagt etwas verträumt: „Wenn du es heute nicht fühlst, wirst du das Pacha niemals verstehen.“ Im Winter können sich die Ibizenkos endlich selbst feiern, und sie tun es in dieser Nacht. Christian deutet auf einen glatzköpfigen Mittvierziger, der an einer der gemauerten Bars steht und mit der jungen, hübschen Barkeeperin flirtet. „Der Typ hat gestern für Unsummen ein Haus auf der Insel gekauft, aber deshalb ist er keinen Deut anders als irgendjemand hier im Pacha. Das Pacha macht die Leute gleich.“ Christian ist 23, er hat einen harten Arbeitstag hinter und einen ebenso harten vor sich. Er arbeitet im Hotel seiner Mutter, nebenbei hilft er ihr bei der Vermarktung einer Apartmentanlage, die derzeit gebaut wird. Irgendwann wird er das Hotel übernehmen.

An Weihnachten 1986 ist Christian mit seinen Eltern im Auto von München aus auf die Insel gekommen, er war neun Jahre alt. Seine Eltern hatten schon aus Deutschland auswandern wollen, bevor er geboren wurde; Christians Eltern waren keine Aussteiger, sie wollten nur woanders glücklich werden als in München, also suchten sie sich auf Ibiza ein baufälliges Gebäude in den Hügeln von Sant Francesco und machten daraus eine Hotelanlage. Christian ging erst auf die kleine deutsche Schule, doch „da fehlte die Konkurrenz“. Mit zwölf wechselte er auf die spanische Schule, obwohl er kein Wort spanisch sprach. Als er fünfzehn war, zog es ihn allein nach Deutschland zurück, er besuchte Internate in St. Peter-Ording und am Starnberger See, machte das Abitur. Dann in Frankfurt eine Ausbildung als Werbekaufmann und ein Crash­-Diplom in Business Administration an der Universität von Berkeley. Seit Oktober 1999 ist Christian zurück auf Ibiza. Er wusste, dass er wiederkommen würde. Immer. Vermutlich hat das Paradiesische an Ibiza Christian so zielstrebig gemacht. Er hat als Kind gesehen, wie die Insel die Menschen träge machen kann; wie sie ziellos werden und sich zufrieden geben mit dem bloßen Überleben auf einem wunderschönen Eiland. Christian arbeitet heute sieben Tage die Woche, „aber dafür nehme ich mir zwischendurch Zeit zum Entspannen.“ Dann geht er runter zum Strand, isst einen Fisch und legt sich eine Stunde in die Sonne. Danach arbeitet er weiter.

Ismael mag nicht sprechen. Lieber spielt er zu der Musik in seinem Walkman eine schwarze Bongo-Trommel, hinter ihm der Hotelbautenriegel des Platja d’en Bossa, neben ihm sein Pitbull Lola, vor ihm das Meer und der Nachmittagswind. Lola, der Kampfhund, scheint wie Lola, der Kuschelhund von Eneli und Terje, nicht wirklich seine Bestimmung zu kennen. Die eine Lola ist lethargisch, die andere Lola verschmust. Sie hört Ismael beim Bongo-Spielen zu, während die Sonne ihre Kraft allmählich verliert und der Wind sich zusehends schärfer anfühlt. In den Hotelpools an der Platja d’en Bassa, wo einst der Jet Set wohnte und heute vor allem der deutsche Pauschaltourist, schwimmen angeranzte Plastiktüten, tote Stofftiere und verfaulte Palmenblätter. Ein paar Kilometer weiter den Strand  hinunter steht ein braunhaariges Mädchen an einer Mauer neben dem Konga und weint. Ihre Augen sind ganz groß, vom Weinen vielleicht, oder vom Schwarzlicht im Konga, oder von irgendwas Verbotenem in ihrem Körper. Der Freund des Mädchens lässt sie einfach stehen, er grinst. Dann weht der kühle Nachmittagswind vom Meer herauf, er trägt das Schluchzen des Mädchens davon, so wie die stumpfen Techno-Beats, die aus dem Konga dringen. Die Sonne scheint, im Landesinneren hat die Mandelblüte begonnen, die Zeit des Wiedersehens ist nah.