Das Arschloch im „Wahren Leben“

von 
Essay
zuerst erschienen im Oktober 1994 in Tempo, S.102-104
Sieben junge Menschen lebten zwei Monate lang zusammen und wurden dabei Tag und Nacht fürs Fernsehen gefilmt. Adriano Sack gehörte zu dieser WG - und fand dort einen Intimfeind.

Ich habe Ralf das erste Mal berührt, als ich ihn rasierte. Er saß in unserer Badewanne, die Kameras auf sich gerichtet, und zärtlich stutzte ich sein spärliches Haar. Ich war der Schwule in der Muster-WG des „Wahren Lebens“. Und ich wunderte mich, daß ich ihm den Kopf scheren durfte, denn Ralf mag Schwule nicht. Also war ich vorsichtig und vermied jede Bewegung, die zu intim hätte sein können.

Wir haben zehn Wochen in diesem Loft gewohnt, Tag und Nacht von Mikrofonen und Kameras überwacht. Alles, was wir sagten, wurde registriert, und sobald der Regisseur im Kontrollraum Spannungen oder Konflikte ahnte, schickte er die Kamerateams in unsere Wohnung. Wir versuchten, das zu ignorieren. Ich konnte aber nicht vergessen, daß jede Äußerung später dem Urteil der Zuschauer ausgesetzt werden würde. Ich war nicht einfach nur ich selbst – ich war der Schwule, der sich mit Diskriminierung, Vorurteilen oder Ablehnung auseinandersetzen mußte. Das wußte und wollte ich vorher.

Eigentlich stehe ich auf Glatzen. Trotzdem fand ich Ralf nie attraktiv, nur einmal im Traum habe ich mit ihm geschlafen. Ralf trägt die Haare kurz, weil er Model ist und nur noch wenige hat, nicht weil er die Republikaner wählt und es irgendwie richtig fand, was in Hoyerswerda passierte. Er ist in Warnemünde aufgewachsen, wurde Fleischer und ist nach ein paar Fluchtversuchen über Ungarn in den Westen gekommen.

Wenn er redet, hört man, wo er herkommt. Eine Mahlzeit heißt bei ihm Kaschanka, sowas sagen nur Ossis. Warum er geflüchtet ist, hat er mir nicht erklärt. Aber er hat einiges gelernt in der DDR: Er trägt den Kopf etwas tiefer zwischen den Schultern, er wehrt sich nicht, wenn er angegriffen wird, sondern weicht aus.

So wie Ralf waren auch die anderen Männer im „Wahren Leben“, feige und konfliktscheu. Gregor wurde während der zehn Wochen von Manou terrorisiert. Sie brüllte ihn an: „Du brauchst nur mal einen guten Fick!“ Sie lästerte über seine Freunde, sie beachtete ihn nicht. Und Gregor schluckte alles – bis es an einem Abend unkontrolliert aus ihm hervorbrach und Manou süßlich lächelnd fragte, was denn so schlimm sei.

In Gregors Familie herrscht ein guter Umgangston, Probleme werden „ausdiskutiert“ und abgestimmt. Wie soll der Junge da mit einer Diva zurechtkommen, die vor allem eines weiß: Wer nicht zurückschlägt, kriegt keinen Respekt. Aus Erci dagegen wurde ich nie schlau. Ich glaube, seine südländische Höflichkeit hielt ihn davon ab zu sagen, was ihn nervte. Nur als Manou seine Freundin als „langweilige Tussi“ beschimpfte, wurde er sauer.

Obwohl Erci seine Karriere als türkischer Rapper zielgerichtet und sicher verfolgt, war er in der WG weich und zog sich zurück, wenn ihm was nicht paßte – genau wie Ralf, und dem paßte gar nichts.

Ralf mochte mich schon nach der ersten Viertelstunde nicht mehr, glaube ich. Wir saßen am Eßtisch und versuchten, uns daran zu gewöhnen, daß Kameras über unsere Schultern und in unsere Augen sahen. Aus Verlegenheit blätterten Ute, Erci und Ralf in „Prinz“, in der deutschen „Vogue“ und in TEMPO. Ralf, das Model, sah eine Fotostrecke und meinte zu mir: „Das könntest du sein.“ Ich saß vor einer fleckigen Matratze, im karierten Rock, mit weit gespreizten Beinen und darunter nackt. Viel später wurde mir klar, wie abstoßend Ralf dieses Foto fand.

Den zweiten Schock kriegt er, als er mich beim Sex beobachtete. Normalerweise teilte ich mein Zimmer mit Gregor, aber der war gerade auf einer Kunstmesse in Basel. Und unsere Zimmer hatten keine Türen, sondern nur Vorhänge, die hin- und herwehten, und jedem, der vorüberging, den Blick freigaben. Ralf sah, wie ich mit dem Typen schlief und erwähnte es mir gegenüber nie. Wochen später erfuhr ich durch Zufall, wie er angeekelt den anderen Jungs erzählte, daß mich da ein Kerl durch die Wand gefickt hat.

Den dritten Schock bekam Ralf, als er zu den Modenschauen nach Mailand flog, um dort zu arbeiten. Die Aussicht, daß ich auch in Mailand sein könnte, um dort eine Geschichte zu schreiben, paßte ihm überhaupt nicht. Denn was seine Arbeit als Model betrifft, war er übervorsichtig und ängstlich. Er wollte seine Mappe nicht zeigen, protzte nie mit Naomi Campbell, die er schon auf den Armen getragen hatte, und rief immer brav in seiner Agentur an.

Wenn ich Ralf fragte, was er gegen Schwule hatte, wand er sich, wich aus und preßte hervor, er habe sich ja an mich gewöhnt. Es war ihm schon unangenehm, über dieses Thema vor den Kameras zu reden. Und mir auch. Ich hatte es bisher zu einfach mit meinem Schwulsein.

Die Frauen haben Ralf von Anfang an nicht gemocht und wollten ihn nach ein paar Wochen loswerden. Ralf brachte sein eigenes Wasser in die WG und versteckte es. Er las die „Bild“-Zeitung, wenn wir uns unterhielten und ging zu „Burger King“, wenn der Kühlschrank leer war. Er wollte nichts mit uns zu tun haben. Einer seiner Sprüche: „Ich will, daß die Zeit geschmeidig verläuft.“

Er kam mit unseren Themen nicht klar: Mode, die ihn nicht interessiert; Klubs, die ihm zu schwul sind; Esoterik, gutes Essen, Politik - er konnte einfach nicht mitreden. Das ging Tanja ähnlich, doch die stand außer Konkurrenz. Denn sie hatte offensichtlich ein zu hartes Leben. Sie war geizig, unfreundlich und erwartete gleichzeitig, daß wir jederzeit ihren unberechenbaren Hund auf die Straße brachten.

Aber Tanja war so offen, daß ich sie liebte. Unsere WG war wie eine Familie, ihre eigene hatte sie früh und auf grausame Weise verloren. Tanja schlief auf dem Sofa ein, um unsere Stimmen im Schlaf zu hören, und trug ihre Angst, ihre Liebesbedürftigkeit, ihre Schwäche vor sich her. Damit war sie unangreifbar. Ralf verbarg seine Gefühle so tief, daß jeder auf ihn einprügeln konnte.

In Finnland kam die Stunde der Rache. Ralfs Augen waren leer und beobachteten boshaft und genau. Er wußte, wie genervt Erci und Gregor von Manou waren. Sein loses Mundwerk amüsierte die beiden und machte es leicht für ihn, zwei Parteien zu konstruieren: die Frauen, also Ute, Manou, Tanja und ich, und die Männer, also Erci, Gregor und er. Wir schliefen in getrennten Hütten, ruderten in verschiedenen Booten, und wenn wir morgens zusammen frühstückten, waren wir alle sehr müde.

In Finnland verlor ich das einzige Mal während des „Wahren Lebens“ die Fassung, als Erci und Gregor für Ralf Partei ergriffen und dabei alles vergaßen, was sie je gesagt hatten. Die scheinbare Freundschaft der Jungs war in meinen Augen nur ein Zweckbündnis des geringsten Widerstands, und Ralfs blöde Sprüche und seine offenen Intrigen gingen mir auf die Nerven. Wir beschlossen, ihn aus der WG zu schmeißen.

Ich hatte die Mehrheit meiner Mitbewohner auf meiner Seite und das sichere Bewußtsein, im Recht zu sein. Ich mußte ihm nur sagen: „Hau ab.“ Dann würde im Fernsehen der Schwule den Schwulenfeind exekutieren und endlich mal eine Minderheit gegen die dumpfe Mehrheit gewinnen. Erci und Gregor waren dagegen, das hätte aber auch nichts geändert. Warum haben wir ihn nicht rausgeworfen?

Es gibt keine vernünftige Antwort. Ich sah Ralf im Sofa sitzen, in die Ecke gedrängt von der hier so gerechten Mehrheit. Er versuchte, von sich auf Manous asoziales Verhalten abzulenken. Er verteidigte sich schwächlich und hilflos. Sein Gesicht wurde rot und schimmerte feucht. Und ich dachte: Er hat das nie gelernt. Ralf ist mit einer anderen Sprache aufgewachsen. Er ist als Model einmal um die Welt gezogen und schützt sich, indem er nichts an sich ran läßt. Er ist ein kleiner Fleischer aus Warnemünde, der nicht versteht, was eigentlich los ist. Er tut mir leid. Kann man ein Arschloch treten, wenn es am Boden liegt?

Ich bin froh, daß er mit uns gelebt hat. Seine Einstellung zu Ausländern, Schwulen oder Frauen finde ich immer noch zum Kotzen. Aber ich habe mal zur selbstgerechten Mehrheit gehört. Ralf rauszuschmeißen wäre die einfachste Lösung gewesen, ich habe es gern ein bißchen komplizierter. Und ich bin froh, daß ich am Schluß ein bißchen Respekt vor dem Schwächeren hatte.

Als wir mal allein waren, habe ich Ralf gefragt, was er im „Wahren Leben“ gelernt hat. „Ich habe meine Einstellung zu Schwulen geändert“, antwortete er. Na, dann bin ich ja beruhigt. Ich hatte auch Spaß mit Ralf, als er mir von Orgien mit Models in New York erzählte, als er mich fragte, wie schwuler Sex sei, und als er auf meiner Geburtstagsparty durch unsere Zimmerfluchten rannte – auf der Flucht vor einer Ex-Nutte und auf der Suche nach unbescholtenen Blondinen. Am letzten Morgen im Hotel, wo wir ein paar Tage wohnten, um Interviews zu geben, verschwand Ralf, bevor ich aufwachte.

Schade. Ich hätte ihn gern noch mal an mein viel zu weiches Herz gedrückt.