Ewige Maschinen

Reportage
zuerst erschienen im Januar 2016 erschienen in Capital Nr. 1, S. 100-110.
Fassung des Autors
Wo im Iran steht der "5001 P. No. 70257", verdammt noch mal? Um es Razmik Khodabakhshian zu zeigen, muss ich diese Maschine in der Wüste finden - Deutsche Firmen stellten im vergangenen Jahrhundert Textil-Spannrahmen her die waren so gut dass sie für immer halten. Die Produzenten gingen insolvent, weil sie irgendwann keine neuen Maschinen nachverkaufen konnten. Aber die alten wandern für immer durch die Welt, werden immer wieder neu aufgebaut, wo gerade die Löhne am niedrigsten sind. Das geht nur mit deutschem Know-how. Auf alten Lochkarten und technischen Zeichnungen lagert es in der großen Halle der Firma Interspare in Reinbek bei Hamburg. Unterwegs als Maschinendetektiv im Iran mit und ohne einen 20jährigen Ersatzteilhändler auf der Suche nach dem Artos-Spannrahmen "Typ 5001 1971 P. No. 70257".

Acht Tage später im Süden des Irans. Am Rande von Yazd, einer Wüstenstadt, auf dem Betonboden einer Fabrikhalle mit wenigen Fenstern nahe der Decke. Liegend im Halbdunkel. Fernes Neonlicht von der acht Meter hohen Decke. Im Lärm 40 Meter langer Anlagen. Nahe eines offenen Kanisters, auf dem Solvay Interox steht. Unter der Maschine ertastet: Die Plakette dieses vier Meter hohen Artos-Spannrahmens mit fünf Kammern. Wange auf den Beton, tasten: „Artos Maschinenbau Dr. Ing…“ Ohhh! „… Meier-Windhorst …“ Doch, steht da! „… Hamburg 1 Typ „, Ziffern folgen. Das Metall abreiben! Ganz sauber reiben! Ruhig bleiben! Klick macht die Handykamera. Klick! Klick! Belegfotos. Glaubt Razmik Khodabakhshian sonst nicht. „5001 1971 P. No. 70257“. Doch, da steht: „Artos Maschinenbau Dr. Ing. Meier-Windhorst Hamburg 1 Typ 5001 1971 P. No. 70257“. Das Foto geht als Mail, als SMS, als What’s app nach Reinbek bei Hamburg. An Interspare in Reinbek.

Die Vorgeschichte: In Karaj, westlich von Teheran, im Büro von Razmik Khodabakhshian. Dem Besitzer von Mersedeh Textile. Es ist das Jahr 1394 nach der Flucht Mohammeds aus Mekka. Das Jahr, in dem sich das Ende der Handels-Sanktionen gegen den Iran andeutet. Gerade hat es eine Einigung im Atomstreit gegeben. Die Gremien in den USA und im Iran haben zugestimmt. Die Lobby des 15stöckigen Homa Hotels im Zentrum Tehrans ist bereits voller Männer in Business-Anzügen. Lauernde Männer aus dem Westen, die Milch-Shakes an der Bar bestellen. Alkohol ginge nicht in der Islamischen Republik Iran. Die Geschäftsmänner wollen und dürfen keine Fehler machen.

Razmik Khodabakhshians Firma veredelt Samt. In seinem Büro rattert die Air-Condition. Die Sonne wird durch Staub an den Scheiben des Bürofensters zu blendenden Strahlen gebrochen. Khodabakhshian flackert in der Lichtflut hinter seinem weißen Haar wie ein Heiligenbild. Hier ist das Land von 1001 Nacht. Märchenland. Persien. Eine gute Geschichte ist eine gute Geschichte: Khodabakhshian erzählt, wie immer lächelnd, er habe eine Müller von 1958.

1958? Torben Bräuner, Außenhandels-Kaufmann bei der Firma Interspare in Reinbek bei Hamburg setzt sein Teeglas schnell und zu laut auf den Glastisch, fragt direkt auf Englisch: „1958?“ Khodabakhshian lächelt zufrieden: „Folgen sie mir“. Und: „Sie läuft im Dreischichtbetrieb.“ Bräuner, kraftsportkräftig, steht auf, raunt: „Ich habe Angst.“ Angst? „Na, für eine 58er habe ich keine Ersatzteile mehr. Dafür haben wir keine Teile.“ Der Maschinendetektiv sieht entsetzt aus. „Mann, irgendwann hört es einfach auf.“

Der Iran hat so viele Einwohner wie Deutschland, allerdings sind die meisten jünger. Die Bevölkerung wächst so schnell wie Regen fällt. Stoffe und Teppiche haben im Iran eine Bedeutung wie in Deutschland Autos und Maschinen. 9818 Textilfirmen gibt es im Iran laut Statistik des Wirtschaftsministeriums. Viel mehr, die nicht gemeldet sind, sagt jeder, der sich in dem Geschäft auskennt. Noch tausende, so Mohammad Moravej Hosseini. Der ist 73 Jahre alt, klein, hat ein Doppelkinn, einen runden Kopf mit Haarkranz. Besitzt vier Teppichfabriken in Shiraz und Kashan. Ist Chef des Textilarbeitgeberverbands. Moravejs Büro in Tehran, ein Palast. Zwar Beton aber stilvoller Beton, mit fünfstöckigem achteckigem Turm als Foyer, eleganter Lichteinfall von oben. Marmor. Glanz. Das Büro, ein Saal im Orient.

Gestern habe er mit dem Minister gesprochen. Das Wirtschaftsministerium wolle der Textilindustrie 450 Millionen US-Dollar zur Verfügung stellen. Für Investitionen. Der Iran hat so etwas wie eine kapitalistische Planwirtschaft. „Wir müssen unsere Kapazitäten verdoppeln. Es gibt 300000 Arbeitskräfte in unserer Industrie. Die Idee des Ministers ist 500000. Wir haben eine hohe Arbeitslosigkeit.“ Die nächsten vier Jahre gingen 4,5 Millionen Menschen von Unis in die Arbeitslosigkeit. Kreditzinsen iranischer Banken belaufen sich auf 30 Prozent. Niemand investiere, keiner kaufe neue Maschinen. Stillstand. Das müsse sich ändern. Bangen und Warten auf das Ende des Embargos.

Moravej erzählt beim heißen Tee in kleinen Gläsern was jeder hier erzählt: „Der Iran war immer an Deutschland orientiert. Wir mögen die Engländer nicht und die Amis nicht. Die Russen auch nicht. Historisch bedingt. In den 20er-Jahren aber kamen die Deutschen und haben uns sehr geholfen mit Brücken, Schienenstrecken, Elektrizitätswerken, Stahlwerken.“ Er habe an der Technischen Hochschule seinen Abschluss gemacht. „Eine deutsche Gründung, lange Zeit mit deutschen Lehrern.“

Wegen der Sanktionen gebe es keinen Geldverkehr mit dem Ausland. Er verkaufe Teppiche in die Türkei, nach China, nach Indien, nach Usbekistan und dann werde er dort bezahlt. Das Geld liegt in, sagen wir mal, sagt er, in Urumski auf der Bank und er kommt nur ran, wenn er dort was einkaufe. Die Chinesen machen es so. Die Inder. Nur wenn er dort was kaufe, komme er an das Geld, das er dort verdient hat. Er wolle aber dort nichts kaufen. Er wolle deutsche Maschinen. Der Minister habe ihm erzählt, gerade versauern „100 Milliarden Euro iranisches Geld im Ausland und kommen nicht ins Land.“ Wenn das Embargo endet, dann: Riesenmarkt Iran, sagt Moravej. Dazu Riesenmärkte für iranische Textilien in den vielleicht bald richtig offenen Nachbarländern. Maschinen-Nachholbedarf. Das wird was Großes werden.

Was für eine bittersüße Wende in einer tragischen Episode der deutschen Industrie: Früher produzierten die Textilmaschinenbauer Anlagen, die besser waren als die aus Italien und den USA, später aus der Türkei und China. Ihre Halbwertszeit endlos, wenn man ab und zu Verschleißteile ersetzt und die Kette ölt. Ihre Qualität wurde der Tod vieler deutscher Textilmaschinenbauer. Die Qualität war Selbstmord. Deutsche Spannrahmen-Hersteller gingen vor der Jahrtausendwende pleite: Artos, Babcock, Krantz, Hacoba, Stentex, Famatex, Haas. Die Maschinen arbeiten noch, die Maschinenbauer nicht mehr.

Spannrahmen sind bis zu 40 Meter lange Anlagen, in denen Stoffe nach dem Färben in den Endzustand gebracht werden, damit man sie konfektionierten kann. Also zu Mode, Bettwäsche, Teppichboden oder Vorhängen weiterverarbeiten kann. Kästen aus grünem oder blauem Blech, in denen Heißluft, Wasserdampf, Hitze und Chemie Entscheidendes bewirken. Wird das Veredeln gut gemacht, färbt ein knallrotes T-Shirt nicht in der Waschmaschine, überstehen Hemden Trockner ohne einzugehen, gibt es keine Schrumpelfalten, sieht man nicht jeden Tritt auf dem Teppich. Das Finishing bestimmt die Qualität des Endprodukts. Also dessen Preis.

In der Mersedeh-Halle in Karaj: Torben Bräuners Zunge schnalzt. Er sagt „Multilayer“. Khodabakhshian lächelt größer, er merkt, er hat einen Spannrahmen-Spezialisten entdeckt. Zeigt durch schwebenden Staub und flirrende Flusen der Halle auf einen Riesenklotz mit grünen Metallflächen, zehn Kammern unten, zehn oben, also drei Mann hoch. Die Kette laufe sechsmal durch die Maschine. Er raunt: „Schwer zu warten, ganz schwer“ und Bräuner klopft ihm auf die Schulter. Das Verrückte an der Szene ist, Khodabakhshian ist 64 Jahre alt und sieht älter aus, Bräuner ist 20 und sieht jünger aus.

Ja, klar, er habe oft Autoritätsprobleme, sagt Bräuner. Weil er sich auskennt, akzeptiert ihn jetzt jedoch der alte Khodabakhshian. Auch weil Bräuner sich begeistert für die Maschinen. Bräuner hat eine Lehre bei dem Textilmaschinenhändler Interspare in Reinbek gemacht. Sich in das Geschäft in Pakistan und im Iran eingearbeitet. Seine Mutter weine, wenn er in die Länder fliege, um dort Ersatzteile zu verkaufen. Bräuner ist 1,95 Meter groß, macht viel Sport spezieller Art, Langhanteln, Liegestütz, so Zeug. Er stammt aus Hamburg, hat die ruhige norddeutsche Art, einen trockenen Humor und massive Probleme mit Reis. Sein Standardsatz ist „Ich kann keinen Reis mehr sehen“. Lächelnd gesprochen, mit einem Gesicht das: „Sieht lecker aus“ strahlt, wenn iranische Gastgeber, die ihn nicht verstehen, auftischen. Es gibt immer Reis.

Bräuner bleibt abends gerne im Hotel. Hält sich aus dem Leben hier raus. Kauft ein Kopftuch für seine Oma im nächstmöglichen Laden. Seiner Meinung nach reden sie hier zu viel. Man verhandle, kläre alles. „Dann geht es wieder von vorne los. Du kriegst vom kranken Hund erzählt, von der Oma und vom Auto. Ist anstrengend.“ Dass die Leute wie Sehnsucht wirkende Neugierde auf die Welt draußen haben und ihn fragen, fragen, fragen, ignoriert er mit Floskeln. Ihren gebrochenen Stolz, ihre Angst draußen nicht ernst genommen, für rückständig gehalten zu werden, kümmert ihn nicht. Ihr ständiges „Wie finden sie unser Land? Sind wir nicht anders als in den ausländischen Medien dargestellt?“ Er beantwortet es irgendwie, möglichst kurz und höflich. Ihr ständiges entschuldigen und dann wieder viel Selbstvertrauen zeigen, es nervt ihn. Dass sie dem deutschen Klischee von Italienern ähneln. Viel eindrucksvoll vorgetragene Sprache, Wohlklang mit nicht ganz so viel Inhalt. Eitelkeit. Esskultur. Unpünktlichkeit und viel Speiseeis. Mama ist die beste Köchin, Teppich-Knüpferin, Frau, was auch immer. Von ihren Müttern erzählen sie viel. Das strengt Torben Bräuner an.

Stil ist wichtig im Iran. Viele Männer tragen etwas längeres Haar am Hinterkopf und extravagante Bärte. Frauen weiße Pflastern auf der Nase. Ein Modestatement, das eine Schönheitsoperation andeuten soll auf den paar Quadratzentimetern Haut die sie zeigen dürfen. Das Kokettieren mit dem Kopftuch, das Haare zeigt, viel davon. Sie haben das Bedürfnis, es abzunehmen, wenn sie aus dem Blick aller sein sollten. Schauen dabei, ob das auch wahrgenommen wird. Sie wollen zeigen, dass sie westlich orientiert sind. All das findet Bräuner seltsam. Da beschäftigt er sich nicht mit. Er will im Iran Ersatzteile verkaufen. Darum geht es ihm. Er hat noch zwei weitere Ziele: Die Maschine finden, auf der früher Ado-Gardinen veredelt wurden und endlich eine Artos mit einer Meier-Windhorst-Plakette Augen sehen, einmal so eine Legende mit eigenen Augen sehen. Vor allem aber Ersatzteile verkaufen. Die Krönung wäre, das weiß er, dazu ist es noch zu früh, einen neuen Spannrahmen verkaufen.

Spannrahmen sind nicht wie Autos, sondern Einzelstücke, die sich vielleicht ähneln, aber nie identisch sind. Ein guter Spannrahmen, ein auf die Bedürfnisse des Käufers abgestimmtes Einzelstück, kostet noch immer eine halbe Million Euro aufwärts. Für Spannrahmen wird immer noch mehr bezahlt als für Textilmaschinen anderer Produktionsstufen. Fünf gibt es. Erstens: Faden spinnen. Zweitens: daraus Stoff weben oder stricken. Drittens: den Stoff veredeln. Meist gehört da färben und bedrucken noch dazu. Aber veredeln ist der wichtige Schritt. Viertens: den veredelten Stoff konfektionieren und dann, fünftens, noch der Verkauf mit Logistik, Großhandel, Marken aufbauen und erhalten, also Marketing, Werbung, Vertrieb und dem Geschäft an der Ladentheke. Der Verkauf und die Spannrahmenstufe fürs veredeln sind die beiden Glieder in der Kette mit denen man heute noch richtig Geld verdienen kann. Der Handel und das Verkaufen von Textilien und das Finishing sind noch lukrativ. Mit dem Herstellen von Fäden, dem Stricken, dem Weben und auch dem Nähen wird heute nicht mehr viel verdient. Textilmaschinen können inzwischen auch die chinesischen Firmen. Spannrahmen nicht.

Bräuner trägt im Iran dunkle Anzüge, blaue Hemden. Hört zu, wenn von Maschinen erzählt wird und Produktionsproblemen. Fragt nach. Aber erzählt selbst nicht ein Bruchteil dessen, was ihm die Iraner erzählen. Er fragt jeden der auf ihn zu kommt everything is fine? Anfangs wirkt er wie einer, der es wirklich wissen will, nach zwei Tagen erkennt man die Leier. Abends sitzt er im Homa Hotel und trinkt Milchshakes meist mit Mandel-Geschmack, ab und zu Aprikose und will heim nach Hamburg. Doch nun in Karaj verändert er sich, er taucht als begeisterter Junge mit Khodabakhshian, dem erfreuten Alten in eine gemeinsame Welt, in der, nur mal als Beispiel, gilt: Eine Stentex-Kette ist perfekt. Wird nie eine bessere geben. Sie ist Endzustand der technischen Evolution. Wobei, sagen beide, mit anderen Fachleuten kann man über das Thema schon Streitgespräche führen. Es sei seltsamerweise, sie verstehen es nicht, es sei nicht jedem bekannt, dass die Stentex-Kette …

Ach ja, die Müller von 1958. Ist gar kein Spannrahmen sondern eine Raising-Maschine, eine Khodabakhshian-Story. Sie hat dicke Walzen, auf die kleine Haken gespannt sind. Die sorgen dafür, dass der Mesedeh-Samt hochgezupft wird und eine besondere Oberfläche bekommt. Khodabakhshian lässt sie 24 Stunden täglich arbeiten, ganz am Ende des Finishing-Prozesses. „Eine besondere Maschine, zuverlässig, klaglos, die anderen können das nicht so gut“. Er sagt „klaglos“ in einem Tonfall als erkläre er, wie toll seine Frau ist. Bräuner fotografiert die Müller. Ihm geht es jetzt ums Prinzip. Vielleicht findet er ja doch Ersatzteile.

Ein halbes Jahr vor Karaj in Reinbek, in einem Gewerbegebiet. Bei Interspare im Konferenzsaal. Winfried Neubert, 61 Jahre alt, freut sich, die Geschichte der Stentex, die Ado-Gardinen veredelte, zu erzählen. „Die mit der Goldkante“ sagt der Monteur mehrmals. Er hat hunderte Spannrahmen aufgebaut. In Los Angeles. In Russland. Auf dem Balkan. Nicaragua. Kenia. Süd-Korea. Polen. China. Viele mehrmals: „Ich hab Maschinen nach England gebracht, die sind dort fünf Mal umgezogen und stehen jetzt in Bangla Desh.“ 1993 in Gera die Ado-Gardinen-Stentex. „Und 1998 oder so habe ich sie wieder abgebaut“.

Sie war für Thorey. Die bayerische Firma produzierte in Gera die Marke Ado. „Die Anlage war die Neuerfindung eines Spannrahmens. Bisher hatte einer drei Meter breite Kammern. Der neue Chef sagte, ich will zwei Meter, damit man die besser in Container verladen kann. Andere Neuheit: Lüftung und Heizer auf dem Dach. Damit war links und rechts nichts, wo sonst oft Gabelstapler dranfahren. Und die Ketten sind das Unschlagbare an den Maschinen. Kein Verschleiß, die Kette hält 30 Jahre locker. Kreuzgelenkkette. Keinen Abrieb. Anfangs kaum, dann keinen mehr. Wenn sie jeden Tag fährt, hat sie nach 20 Jahren 0,1 Millimeter Abrieb. Wahnsinn“, sagt er.

„Weihnachten 93 hab ich aufgebaut. Es musste schnell gehen, erinnere ich mich noch. Sie hat ein Problem gelöst. Es bildet sich sonst immer Kondensat an der Decke der Maschinen, irgendwann tropft es auf die Ware, es gibt Flecken. Großes Problem der Branche. Bei unserer nicht, weil die Heizung oben ist. Keine Feuchtigkeit von oben. Wenn andere Maschinen nicht ordentlich sauber gemacht werden, brennen die womöglich irgendwann, weil sich Flusen und Fasern an der Decke sammeln und in der Hitze anfangen zu brennen. Bei uns war die Lüftung ja oben und nicht an der Seite. Null Flusen in der Maschine. Sie steht jetzt im Iran.“ Habe er gehört. In China habe das wer erzählt und vor kurzem habe er wen in Russland gesprochen, der das bestätigt hat. Und hier bei Interspare, seinem Arbeitgeber, liegen Papiere im Archiv die den Verkauf von Indonesien nach Iran bestätigen.

Torben Bräuner ist viel zu jung, um mit der Ado-Gardine, „die mit der Goldkante“ was anfangen zu können. Er kennt Computerspiele, aber nicht Marianne Koch. Doch für den alten Monteur Winfried Neubert sucht er den Stentex-Spannrahmen, auf dem die mit der Goldkante veredelt wurde und wenn sie nun mal im Iran steht, dann sucht er sie im Iran. Das schuldet er Neubert, auf den kann er sich verlassen. Das ist einer, dem schickt er wegen der Zeitverschiebung nachts um 2 Uhr ein Foto einer Anlage und kriegt umgehend Antworten wie: „Baujahr 74, Kette war immer das Problem bei der, Ersatzteile sind da.“ Bräuner, jung und neu, weiß, er braucht den alten Neubert. Und die Ado-Nummer scheint dem wichtig zu sein. Scheint ja allen irgendwie wichtig zu sein. Auch sein Chef, Dirk Polchow interessiert sich für das Ding. Muss was Besonderes sein.

Textilmaschinen sind Wanderer. Denn die Industrie globalisierte wie keine andere davor, die Fabriken rotieren immer schneller um den Erdball, wenn sie irgendwo noch niedrigere Lohnkosten erschnüffeln. Spannrahmen, die mal in Deutschland standen, zogen nach Ungarn, weiter nach Rumänien, nach Thailand, nach Kambodscha, stehen jetzt in Bangla Desh oder werden gerade verpackt für die Reise nach Pakistan. Alleine im Iran laufen in 268 Fabriken Maschinen die Interspare betreut. Oliver Schmidt, Chefredakteur der Fachzeitschrift Textdata international in einem Café in Hamburg-Eimsbüttel: „Deutsche Textilanlagen wurden nun mal für die Ewigkeit gebaut“. Wenn der Iran aufmache, dann sei da viel zu holen für Interspare. Oder Myanmar. Voller Haas und Hacobas, die noch laufen. Südamerika ist voller Artos. In Russland stehen mindestens 400 Textimas. Das sind die Vorgänger der Stentex.

Bei Khodabakhshian in Karaj. Der erzählt gerade, dass er seine Müller in Georgien gekauft hat. Andere Maschinen deutschen Ursprungs in der Türkei, der Ukraine, Holland. Seine Artos kam aus Italien in den Iran, wobei er das, er lächelt, nicht mehr genau wisse. Vor 15 Jahren oder so. Sie arbeitete ein paar Jahre noch in Isfahan. Er geht voran in die nächste dunkle Halle, in der gerade 3,60 Meter breite Samtbahnen, tiefschwarz, bedruckt mit knallroten Rosen, durch Spannrahmen laufen und am Ende 3,20 Meter breit herauskommen und aufgerollt werden. Es ist halbdunkel, gibt nur schwaches Licht, Dampf, Lärm, tote Winkel zwischen den Anlagen. Es riecht nach Öl und Chemie. Männer in Overall kommen herbei und freuen sich, wen zu sehen, der nicht aus dem Iran stammt. „Salam“. Bräuner antwortet: „Everything is fine?“ Die iranischen Textilarbeiter erstrahlen. „Alman.“ Sie klopfen auf die Artos, rufen zu laut: „Good.“ Nein, sagt Khodabakhshian, keine Inszenierung. Menschen seien „enthusiastisch“ hier.

Dunkelblauer Samt läuft über Rollen in die Artos. Die dampft. Bräuner findet kein Schild. Er fragt. „Nein, war keines mehr dran, wir haben die Maschine in Isfahan gekauft, die Firma hatte zu gemacht. Sie war billig. Aber läuft perfekt.“ Könnte eine Maschine mit Meier-Windhorst-Schild sein, also eine von vor 1971. So eine Plakette ist etwas Besonderes. Selbst aufgestellt? Die richtige Frage, Khodabakhshian freut sich. „Ja, hat lange gedauert, aber ich bin Maschinenbauingenieur.“ Bräuner ist viel größer als Khodabakhshian, schaut ihn aber von unten an, weil er auf dem Boden kniet. Er versaut sich die Hose und tastet an der Maschine noch immer nach der Plakette. Wiederholt in die Wolke des Khodabakhshian-Stolzes die Frage nach dem Metallschild mit der Kennnummer, steht auf, umkreist die Maschine, starrt, kniet, tastet. Sein Blick wird traurig. Kein Schild. Er fotografiert die Artos. Bling! Bling! Schickt die Fotos zu Interspare.

In Reinbek, im Büro von Dirk Polchow. Er arbeitete in den 90er-Jahren vor und während seines dualen Studiums bei Artos in Maschen nahe Hamburg und sah das Ende kommen. Damals wurde für Artos noch extra eine Autobahnauffahrt gebaut. Es herrschte große kurze Freude, weil der türkische Textilmarkt deutschen Maschinenbauern ihren letzten heißen Boom schenkte. Aber, das war der erste von Polchows visionären Momenten, er ließ sich nicht blenden. Er kündigte, baute mit Carsten Kalek, einem Freund, der bei der Lufthansa als Triebwerkstechniker arbeitete, seinen Ersatzteilhandel auf.

Die beiden lernten sich in „der Hamburger Bronx“ kennen, sagt Polchow. Meint damit Harburg. Auf der anderen Seite des Flusses. Ihre Freundinnen waren Schwestern, mit einer netten Mutter im Dreifrauenhaushalt. Sie saßen oft zusammen beim Frühstück in der Küche. Was die Frauen heute machen, weiß Polchow nicht. Sein Geschäftspartner Kalek, drei Jahre älter, sitzt im Büro nebenan. Kalek war es, der Polchow den Ruck gab, sagte: „Gute Idee, lass uns das versuchen!“

Als die großen, traditionsreichen Firmen nach und nach dicht machten, kauften die beiden von den Insolvenzverwaltern Ersatzteillager, Namensrechte, Archive: Schieber voll Lochkarten, Wände voll Ordner mit technischen Zeichnungen, Kisten mit Aufträgen, Kaufverträgen, Wartungsprotokollen. Teilweise schwer zu entziffernde Durchschläge auf dünnem Papier. Das war der geniale Polchow-Schachzug. Auf seiner Visitenkarte steht: Haas, Stentex, Hacoba, Artos , Famatex, Krantz, Franz Müller. Große Namen aus der Vergangenheit. Heute sind das Interspare-Marken.

Polchow ist ein ruhiger Mann, vorsichtig abwägend, Fehler vermeidend. Erzählt von seinen Kindern, vom Urlaub, macht Witze mit den Mitarbeitern, die ihn hinter seinem Rücken Dixi nennen. Wirkt jünger als er ist. Aber nicht mehr ehrgeizgetrieben jung. Er spielt seine Rolle immer runter, sagt immer wieder mal „Aaach“ und meint damit „nicht so wichtig“. Betont nicht die Erfolge, sondern, „dass wir drei Jahre quasi nichts verdienten“. Sagt mal wieder, dass alles irgendwie Zufall war. Er sei eigentlich kein Unternehmertyp. „Eigene Firma war wirklich nicht mein Ziel, ich wollte nicht unbedingt selbstständig werden.“ Aber: „Ich wollte rumkommen, um die Welt fliegen. Das war so nicht geplant wie es jetzt ist.“

Man könnte ihn unterschätzen. Was falsch wäre. Er hatte nicht nur die Idee, er hat sie abgearbeitet. Polchow hat eine Zukunft gezimmert für deutsche Spannrahmen. 5000 betreut Interspare mit seinen 56 Mitarbeitern weltweit. In Asien, Afrika, Osteuropa, Südamerika, Europa. Alle brauchen, erkannte Polchow nämlich früh, mehr als nur Ersatzteile. Zuerst kam wegen der Globalisierung das Geschäftsfeld Weltwanderhilfe dazu: Spannrahmen abbauen, Spannrahmen wieder aufbauen, das ging nur mit Know-How und den Informationen aus dem Interspare-Archiv. Feinheiten sind dabei wichtig. Lochkarten-Schieber in den Bibliotheks-Schränken ein Schatz. Handschriftliches auf vergilbtem Durchschlags-Papier viel wert.

Dann wurde das Umrüsten zu einem Geschäftsfeld: Baumwolle ist volatil geworden, mal teuer, mal billig, unberechenbar. Also werden Maschinen umgestellt auf Kunstfasern. In der Halle lagern neben den Ersatzteil-Hochregalen alle Informationen dafür. Auch alles, was nötig ist, die alten Dauerläufer auf andere Antriebe um zustellen. Von teurem Ölmotorenantrieb zum billigerem Gasmotor. Interspare-Know-How wird auch gebraucht, um den Wasserverbrauch zu reduzieren. Andere Chemiezusätze möglich zu machen. Umweltauflagen erzwingen Umbauten, die nur schafft, wer die Infos hat. Lernte Torben Bräuner bei Interspare. Schau Dir die Plaketten als erstes an. Die erzählen, wo in der Halle in Reinbek die Ersatzteile liegen.

Interspare hat auch Aufträge aus Deutschland, wo kaum noch Stoffe, aber technische Textilien, Flugzeug- und Autoteile, Reifen, Carbon, Stadiondächer, Fahrbahnunterlagen produziert werden. Ariane Schlüter leitet das Werk 1 von Hermes-Schleifmittel in Hamburg, einem Interspare-Kunden an der Autobahn nach Kiel. Hier stehen Artos-Schwebetrockner aus den frühen 60er-Jahren. „Robust“ nennt sie die Anlagen, die Schleifpapier bearbeiten. Ihr „robust“ klingt liebevoll. Es bestehe „kein Grund, die Anlagen auszutauschen“. Obwohl sie älter als 50 Jahre sind. Anlagen für die Ewigkeit.

Dirk Polchow hat noch was geahnt. Nach fast 20 Jahren reparieren, umbauen, erneuern, optimieren ist Interspare woanders angekommen. „Wir liefern inzwischen Neuanlagen. Stentex-Nachbauten. Die Blecharbeiten vergeben wir fremd. Die Konstruktion, die elektronische und mechanische Arbeit machen wir hier, die Vormontage, die größeren Teile der Wertschöpfungskette.“ Gerade sei ein Stentex-Spannrahmen in Holland in Betrieb gegangen, einer an der Elfenbeinküste. „Wir sind zwar teurer als ausländische Konkurrenten, weil viel Arbeit hier passiert. Aber sparen den Kunden Zeit.“ Was im Iran wichtig werden dürfte. Dort wird, werden die Sanktionen aufgehoben, alles sehr schnell gehen. Der Bau der zweiten Interspare-Halle in Reinbek hat im Sommer begonnen.

Beim Milchshake in Teheran sagt Torben Bräuner. „Wenn ich meine erste Maschine verkaufe …“ Mehr nicht. Man spricht hier nicht über Alkohol. Bisher verkauft er Kettenaufsatzteile, 35 Euro das Stück. Gut, eine Kette kann da Dutzende von brauchen, hunderte. Aber 35 Euro. Oder Krumpfrollen für ein paar Euro mehr. Ein Flammenprüfstab, ein Nadelleistenträger, ein Ausnadelschutz, ein Abnadelschutzhebel. Kluppenteile, Sperrklinkenachsen, Tastenröllchenachsen. Alles unter 100 Euro. Nur die Masse macht es. „Wenn ich meine erste Maschine verkaufe, dann lass ich es knallen.“

Der nächste Tag. „Fakhr Iran“ steht auf dem Schild. „Stolz des Irans“. Eine riesige Industriebrache mit Ruinen. War mal eine stattliche staatliche Fabrik. In den 1920er Jahren gebaut. Deutsche Architektur. 4000 Menschen produzierten hier Uniformen für die Armee mit deutschen Maschinen. Der Staatsbetrieb wurde aufgegeben. Die Hallen teilweise vermietet. Es riecht nach Öl und Chlor. Sieht aus wie in eine alte Autowerkstatt am Stadtrand. Die eine Ruine ist. Der Spannrahmen, ein Krantz, durch den Vorhänge laufen, „aus den 60ern“, so Bräuner nach einem Blick. An einer Stelle sind Klebestreifen, die zwei Teile der Anlage zusammenhalten. Ein Brenner setze ab und zu aus, sagt wer. Bräuner fotografiert die Innereien. Wird alte Monteure fragen. Ein Brenner bringt mehr ein als ein Kettenaufsatzteil.

Im Auto sagt er „die werden keine neue Maschine kaufen. Niemals.“ Zwingt sich aber zu einem: „Unterschätze die nicht.“ Epak ist ein Stoff-Großhändler, gehört der Familie Alizade. Der junge Mann, der durch die Halle führte, ist der Sohn. Eigentlich sind die Alizades Großhändler. Aber die Familie war unzufrieden mit dem Finishing, dem Veredeln der Lieferanten. Haben das selber übernommen. Vor einem Jahr oder so. Das hier ist der Testlauf. Wenn es funktioniert, sind die Alizades die ersten, die neue Spannrahmen kaufen. Sobald die Sanktionen enden.

Neuer Tag, neue Firma: Torben Bräuner findet heute bei Payabaf in Karaj den Stentex-Spannrahmen, auf dem „die mit der Goldkante“ veredelt wurden. Die Maschine war an einen Gardinenhersteller in Indonesien verkauft worden, von dem an einen Händler im Iran. Einer der drei Brüder, denen Payabaf gehört, Abdul Peidayesh Fard, ein 70 Jahre alter kleiner Mann sitzt hinter dem tiefen Schreibtisch, zufrieden wie ein Zweijähriger im Buggy. Schaut herab auf Bräuner auf der tiefen Couch mit den Knien am Kinn. „Wir haben vor 60 Jahren angefangen, sind drei Brüder. Die Söhne sind auch im Business. Wir haben mit einer Karl Mayer angefangen vor 60 Jahren. Mit unserem Vater. Die Maschine haben wir wieder verkauft. 90 Prozent unserer Maschinen sind deutsch.“ Payabaf hat 44 deutsche Strickmaschinen. Das Finishing mache eine Stentex und eine Artos.

Da, in der Halle steht der Stentex-Spannrahmen mit 20 Kammern, blau, mit Plakette. Eine der 20 Anzeigen blinkt. Ob Bräuner helfen könne. Der lässt Bleche abschrauben. Einige irritieren ihn. „Sind welche für den amerikanischen Markt. Da gibt es Vorschriften, dass Löcher drin sein müssen. Als Sicherung, damit Druck entweichen kann.“ Seltsam, das ist die Ado-Gardinen-Maschine. Wer weiß, was da in Indonesien war. „Brenner kaputt, würde ich sagen.“ Der alte Mann nickt. „Wir hätten die Teile“, sagt Bräuner. Er fotografiert. Bling! nach Reinbek. Bling!

In Yazd, sieben Stunden Autobahn von Teheran, viele Raststätten mit vielen Ziegenspießen. Reis. Sand. Felsen. Waghalsige Überholmanöver. Katie Perry und türkischer Rap im Auto-Radio. Yazdbaf hat 1200 Mitarbeiter. Halle neben Halle neben Halle. Ein Firmengelände wie eine Stadt. In ihr: zwei Montforts mit je 16 Kammern. Montfort ist ein Spannrahmenbauer in Mönchengladbach. Gehört heute der chinesischen Fong-Gruppe. Noch arbeiten 128 Menschen bei Montforts im Technologiecenter. Produktion mit „German Technology“ in China. Eine Artos, späte 90er Jahre, mit acht Kammern. Eine Goller, auch eine Fong-Tochter. Eine Menzel. Zwei Montforts Montex 5000. Eine Babcock Aufdampfmaschine von 1990. Nummer ist 5622.2.180. Das ist ja eine Orgie hier.

Vor acht Tagen hatte sich Torben Bräuner in Khodabakhshians Fabrik auf dem Boden gekniet und die Artos abgetastet. „Da muss doch eine Plakette sein?“ Khodabakhshian antwortete: „Nein.“ Da war keine? „Wir haben die Anlage ohne Plakette gekauft.“ Er vermute, Meier-Windhorst sei eine Wandersage. Sagt Khodabakhshian ironisch. Setzt noch einen drauf: Den habe es wahrscheinlich nie gegeben. Draußen im Auto sagt Bräuner „Verdammt. So nah dran.“ Mhhh? „Welcher Idiot macht so eine Plakette ab?“

Das war vor acht Tagen, Bräuner ist inzwischen heim geflogen. Hier lang, sagt jetzt der Mann bei Yazdbaf, deutet in Richtung des offenen Tores, in die 40-Grad-Sonnen-Hitze. Moment, sage ich mit Eifer in der Stimme, da rechts, das ist doch noch eine Artos. „Ach ja. Alt. Gute Maschine. Problemlos.“ Ein Spannrahmen mit fünf Kammern. Auf den Boden, tasten, tasten, tasten! Ha! Plakette. „Artos Maschinenbau Dr. Ing…“ Ohhh! „… Meier-Windhorst Hamburg 1 Typ 5001 1971 P. No. 70257“.

Message nach Reinbek. Torben Bräuner hat vor ein paar Tagen die Ado-Gardinen-Stentex gefunden, ist mit Aufträgen für Ersatzteile, die rund 60000 Euro einbringen heimgeflogen. „Bling“, jetzt hat er auch noch Fotos einer Meier-Windhorst-Plakette auf seinem Smartphone. Zehn Minuten später die Antwort: „Maschine stand in Italien bei Mizar. Teile auf Lager.“ Die Iran-Sanktionen sind jetzt beendet, wenn er das nächste Mal nach Teheran fliegt, wird Torben Bräuner, das ist jetzt keine gewagte Prognose, eine ganze Maschine verkaufen.