Was wird aus Helmut Lang ohne Helmut Lang?

Feuilleton
zuerst erschienen am 7. Februar 2005 in Frankfurter Allgemeine Zeitung, S. 40
Coco Chanels Genom ist entschlüsselt: Wie Modemarken die Signatur ihrer Urheber reproduzieren

Als Helmut Lang am 24. Januar seinen Rücktritt als Designer bekanntgab, stand außer Frage, daß die Marke gleichen Namens weiter existieren würde. Denn die hatte der Mailänder Patrizio Bertelli vor fünf Jahren in die Prada-Gruppe integriert. Nun, da Lang sich beim Skilaufen in den Hamptons oder, wie Jil Sander in ähnlicher Lage, auf einer Mittelmeeryacht vergnügen kann, steht sein Name im Raum. Gerüchte über Langs Resignation sind nicht an die Öffentlichkeit gedrungen. Daß Bertelli, dem neben Jil Sander inzwischen eine ganze Reihe von Luxusmarken gehört, kein besonders sanfter Chef ist, war bekannt.
Helmut Lang seinerseits hat sich seinen Ruf durch ein gerütteltes Maß an stilistischer Sturheit gesichert. Von Anfang an fiel er durch Indifferenz gegenüber Trends und Moden auf. Schon in den achtziger Jahren setzten sich seine Kollektionen mit körpernahen Schnitten, leichten, tragefreundlichen Stoffen und einer schlichten Hell-Dunkel-Palette gegen inflationäre Rüschen, Volumen und starke Farben ab. Helmut Lang stand für eine neue Art der Ehrlichkeit, die das Individuum nicht mit kreativen Statements überschwemmte, sondern diskret in den Hintergrund trat, um den Auftritt der Persönlichkeit zu unterstützen. Damit tat er für das Fin de siècle, was Coco Chanel für die Zwanziger und Christian Dior für die späten Vierziger und Fünfziger geleistet hatte: Er schuf eine neue Art von Klassik, die in Tuchfühlung mit der Epoche die Lehren aus der Geschichte des Herrenanzugs zog und sie in die Damenmode übersetzte. In Helmut Langs Hosen fühlten sich Frauen nicht länger wie wattierte Hochseefischer, Männer legten in seinen schmalen Jacketts den Nimbus des vierschrötigen Chefs ab, und jeder, der in seine Mäntel schlüpfte, wähnte sich mit einem Sex-Appeal begabt, der den Marsch durch die Institutionen zum Gesellschaftsspiel werden ließ.
Helmut Lang hatte wiederentdeckt, daß nichts der Schönheit der menschlichen Gestalt so sehr zugute kommt wie ein Kleid, das sich der Nacktheit anschmiegt, ohne obszön zu sein. Seine Silhouetten verwandelten die Träger in das Negativbild griechischer Statuen: moderne Athleten eines nordischen Klimas, melancholische Realisten, die eine Ahnung ihrer kontrollierten Sinnlichkeit wie ein herbes Parfum umgab. Auf seine Weise hatte auch Christian Dior prosaische Amazonen in knappen, schwarzen Tailleurjacken und figurinenhaften Tellerröcken geschaffen. Seine A-, H- und Y-Linien verschmähten das bunte Drunter und Drüber romantischer Verwirrungen und gehorchten den Gesetzen der Geometrie.
Vor ihm hatte Gabrielle Chanel mit sportlichen Jerseyanzügen, schwarzen Cocktailkleidern und einfach geschnittenen Tweed-Kostümen ihre Version der Klassik erfunden, ein Understatement, dem der Chanel-Designer Karl Lagerfeld bis heute die Treue hält. Er arbeitet in den Chanel-Farben Schwarz, Weiß, Rosé und Puder, revidiert Saison für Saison das Kostüm, hält auf sportliche Linien und garniert das Ganze mit Stepp, Logoknöpfen und Modeschmuck. Indem er so etwas wie den genetischen Code des Chanel-Phänomens ins Werk setzt, verwirklicht er den Traum aller Marken: Sein Haus hat sich von der Lebenszeit seiner Gründerin emanzipiert, denn deren Ideen sind ad infinitum reproduzierbar geworden.
Die Luxusmarke Christian Dior hat eine entgegengesetzte Strategie verfolgt und ist damit nicht weniger gut im Geschäft. Der Namensgeber würde sich wohl im Grabe umdrehen, könnte er einen Blick auf John Gallianos Runway werfen. Der heutige Dior-Designer läßt ein wildes Potpourri von diaphanem Chiffon und Football-Schultern, zerschlitzten Stoffen und Zeitungsaufdrucken, von Pin-up-Dekolletés und Lederleggins paradieren. Daß zumindest Gallianos Haute-Couture-Entwürfe auch eine Hommage an die Dior-Korsage sind, geht im Feuerwerk seiner Dekorationen fast unter.
Kein amerikanischer Teenager, der eine grellgeschminkte Dior-Show auf dem Fashion-Channel sieht und sich darauf eine Flasche „Poison“ zum Valentinstag wünscht, wird ahnen, wie nüchtern und streng Monsieur Dior die Frau sah. Und doch ist es Bernard Arnault, dem Chef des über Dior herrschenden Luxuskonglomerats LVMH, gelungen, einen Hype zu erzeugen, der dem von Christian Diors „New Look“ die Waage hält. Hier steht der Traditionsname nicht mehr für einen bewährten stilistischen Code, sondern einfach für das große Pariser Spektakel und freche, unbekümmerte Femme-fatale-Mode überhaupt. Viele Modehäuser haben sich mit Kompromissen zwischen den extremen Haltungen von Chanel und Dior versucht und neue Designer gefunden, die einen Nino Cerruti, Hubert de Givenchy oder Yves Saint Laurent auf ihre Weise interpretieren. Keinem ist bisher jedoch der kongeniale Coup gelungen.
Nicht nur Modeadressen fehlt immer häufiger das menschliche Signifikat zum signifikanten Markennamen. Wenn deutsche Autohäuser im Ausland produzieren, tschechische, irische oder hiesige Bierfabrikanten in anderen Ländern Lizenzen verteilen und eine Marke wie „Liberhaier“ als pseudodeutsches Fabrikat in chinesischer Hand zum zweitgrößten Kühlschrankproduzenten der Welt aufsteigt, dann haben die Akteure des Weltmarkts ein Identitätsproblem. Um ihre Stellung als Prestigemarken zu halten, haben viele Unternehmen Imagekampagnen initiiert, die das Vertrauen der Verbraucher zurückgewinnen sollen. Dabei geht es nicht mehr in erster Linie um die Qualität der Ware, sondern um Gefühlswerte, die sich um den Markennamen ranken, um einen poetischen Mehrwert, der „die materielle Zufriedenheit transzendiert“, wie es Marc Gobé in seinem Buch „Emotional Branding“ formuliert.
Seth Godin, der mit der lila Milka-Kuh werbende Autor von „Purple Cow“, rät zum Guerrilla-Marketing, zur Brand-Einführung nach dem Schneeballeffekt. Da ein starker Auftritt in den Massenmedien selbst altvertrauten Marken keinen Verkaufserfolg mehr sichert, schlägt er vor, den Werbeetat in die Produktentwicklung zu stecken und etwas Außerordentliches zu erfinden, das die Scouts unter den Konsumenten begeistert. Die Statistik zeige, daß die Masse den exzentrischen Käufern folgt: „Wirkliches Wachstum“, so Godin, „kommt mit Produkten, die verärgern, brüskieren, abstoßen, die zu teuer oder zu billig, zu schwer, zu kompliziert oder zu einfach sind - zu irgendwas eben.“
Wenn er recht hat, dann täte Patrizio Bertelli nicht gut daran, noch große Summen in Helmut Lang zu investieren. Die Marke hat die Kurve der Avantgarde-Käufer und nachfolgenden Massenkundschaft schon durchlaufen. Sie wird ihre Gewinne nur noch mit Nachzüglern machen, denen entgeht, daß der Österreicher nicht mehr auf der Kommandobrücke steht. Statt dessen sollte Miuccia Pradas Ehemann entweder einen Newcomer aufbauen, für den zur Zeit nur eingefleischte Fashion-Victims schwärmen, oder nach dem Dior-Vorbild einen kongenialen, aber stilistisch konträren Designer engagieren, der die Marke Helmut Lang ein zweites Mal mit völlig neuem Inhalt beleben müßte.
Der Werbeagenturchef Douglas Atkins publizierte kürzlich „The Culting of Brands. When Customers become true Believers“. Ausgehend von der These, daß Kultgemeinden die Kirchen der Zukunft sind, in denen das Individuum sich verstanden und vernetzt fühlen kann, preist er Marken, denen es gelungen ist, eine symbolische Heimat zu schaffen. Eine heutige Kultmarke muß für Atkins noch viel mehr leisten als ein für sich stehendes Produkt nach Art des VW Käfer, „das seine Bedeutung wie ein isoliertes Kruzifix verströmt“. In einer dichtbesiedelten Ökonomie geht es darum, „jeden einzelnen Moment des Alltags“ mit der Markenidee zu „kolonialisieren“. Für diesen fröhlichen Imperialismus steht bei Atkins Apple Computers ein, eine Firma, die mit iPod, iMac und iBook große Teile des wachen Konsumentenbewußtseins an sich gebunden hat. Umstandslos vergleicht der Autor den Apple-Vorstand Steve Jobs mit Christus, Mohammed und Buddha: „In einer von Markensymbolen angetriebenen Gesellschaft wäre es seltsam, wenn es keinen kommerziellen Messias gäbe.“
Wollte Bertelli mit Jobs wetteifern, müßte er für Helmut Lang coole iPod- und iBook-Lederhüllen entwerfen lassen, wie es zur Zeit schon Hedi Slimane bei Dior Homme und Tomas Maier für Bottega Veneta tut. Darüber hinaus wäre ernsthaft an eine Helmut-Lang-Ausstattung für größere BMW- und Mercedes-Benz-Limousinen zu denken. Eine Helmut-Lang-Interior-Design-Linie, von der Art, wie sie Armani bereits nach China exportiert, wäre der nächste Schritt. Auch hätten wir ein Anrecht auf ein Helmut-Lang-Benimmbuch, wie es die amerikanische Designerin Kate Spade jüngst vorlegte, und auf ein Helmut-Lang-Hotel in den Karpaten nach dem Vorbild des australischen Palasts von Donatella Versace sowie auf eine Ausweitung des Helmut-Lang-Kunstprogramms, das mit Jenny-Holzer-Parolen in seinem Pariser Shop schon in den Kinderschuhen steckt, aber nach dem Vorbild Miuccia Pradas zu einer veritablen Helmut Lang Foundation erweitert werden könnte. Wir können uns Abenteuerurlaube in Helmut-Lang-Taxis vorstellen, die uns von einer New Yorker Existentialistenkneipe zur nächsten kutschieren, und hätten auch nichts gegen ein Lang-Seminar an kränkelnden deutschen Universitäten, in dem man sich der romantischen Doppelgänger-Literatur annähme und an Phantom-Proxi-Strategien feilte, mit denen Patrizio Bertelli den vakanten Platz des Designers durch magische Doubles besetzen könnte.
Nachdem die Superbrands sich damit vertraut gemacht haben, daß sie aufregend, schräg, unkonventionell, unterhaltsam, glaubwürdig, einfühlsam, geheimnisvoll und unberechenbar sein müssen, fehlt nur noch eine letzte Stufe auf dem Emotionsbarometer: Man muß sie auch lieben! Der Saatchi & Saatchi-Vorstand Kevin Roberts trat dem Klub der Markenpropheten mit „Lovemarks“ bei, einem Buch, das reich an Beispielen für die Verführungskraft des großen Geldes ist. Seine Firma hatte den Auftrag, einen Werbespot für Telecom Neuseeland zu entwerfen, und kam auf die Idee, den Cat-Stevens-Song „Father and Son“ zu verwerten. Dabei ergab sich das kleine Problem, daß es zu Cat Stevens - ähnlich wie bei Helmut Lang - kein Signifikat mehr gab. Der Sänger war 1977 zum Islam übergetreten, bekennt sich nicht länger zu seiner Pop-Laufbahn und heißt inzwischen Yusuf Islam. „Andernorts wäre dies das Ende der Geschichte gewesen, aber unsere Leute nahmen sie als persönliche Herausforderung an. Sie glauben wirklich, daß nichts unmöglich ist. Also wurde ein leidenschaftlicher Bittbrief an Yusuf entworfen.“ Nach nervtötendem Warten beginnt nach Wochen das Agentur-Fax zu laufen. Heraus kommt ein Blatt mit nur einem Wort: „Yes“.
Yusuf, erzählt Roberts, sei von dem Filmspot überzeugt worden, der die „emotionale Wahrheit“ seines Liedes illustrierte. Wenn ein Werbespot Cat Stevens wiederbeleben kann, dann sollte Bertelli auch Helmut Lang ins Dasein zurückrufen können. Man stelle sich eine Helmut-Lang-Metropolis vor, voller schwarz uniformierter Menschen, die in kühlen Kaffeehäusern Techno-DJs lauschen. Von der Melange-Tasse über die smarten Outfits bis zum tatenlustigen Personal wäre alles als authentisches Helmut-Lang-Ambiente käuflich, wenn, ja wenn der sein Plazet dazu gäbe. Patrizio Bertelli hält am Fax-Gerät Wacht, und endlich beginnt es zu rattern: „Na ja“ steht auf dem Blatt. Wenn das nicht Liebe ist.