Die Backstreet Boys im Freibad

Essay
zuerst erschienen im Oktober 2016 in Stadtaspekte. Sonderausgabe 2, S. 22-25
Fassung des Autorin

Als ich diesen Essay zugesagt habe, war für mich klar, dass ich aus den in meiner Jugend als frustrierend empfundenen Umständen schöpfen wollte, um ein lautes Nein! zur Provinz und ein lauteres Ja! zur Stadt zu proklamieren. Doch nun kann ich nicht. Jedenfalls nicht wie geplant.

Kurz nachdem der Inkubationsprozess für diesen Text (das Bild habe ich aus Joachim Bessings Tagebuch „2016 – The Year Punk Broke“ geklaut) abgeschlossen war, lese ich, was Diedrich Diederichsen über Mike Kelley schreibt: „Mike verteidigte die Provinz nicht wegen eines strukturellen Nachteils, den man aus Gründen der Gerechtigkeit kompensieren müsste, sondern wegen eines inhaltlichen Vorteils.“ Die entsprechende Passage beinhaltet weiter den Satz: „Die Provinz macht die bessere Kunst, weil sie sich an einem kunstfremden und kunstfernen Gegenüber entwickeln musste.“ Ich kann zwar keine eigene Künstleridentität aufweisen, mit der ich diese These am eigenen Leib beweisen könnte. Doch es gibt sie: die Künstler, Musiker, Literaten, die als eigensinnige Provinzler die Stadt in der schönsten, langsam verblassenden Bohemienfantasie befruchtet haben. Dennoch löste diese Sequenz etwas aus: Erst durch meine Provinzerfahrung konnte ich den einfachen Zugang zu kulturellen Gütern als etwas Besonderes wahrnehmen. Erst in der Provinz konnte ich meine persönliche Schrulligkeit gegenüber diesen Dingen entwickeln. Aber es war dann die Stadt, in der ich erkennen durfte: Ich bin nicht allein.

Ich sehe mich mit acht Jahren auf dem Marktplatz von Bad Schmiedeberg in der Dübener Heide. Mit etwas Schwung nehme ich umständlich auf einem Brunnenrand Platz, kümmere mich nicht, dass es sich hierbei um ein Kriegerdenkmal handelt, immerhin wurde mein Einschulungsfoto davor gemacht. Zur Linken der Renaissancebau des Rathauses, geradeaus etwas, das mal ein Kaufhaus war, daneben das Haus meiner Eltern: „Kaffee am Markt“. Die Fassade bröckelt, weil sie schon immer gebröckelt hat. Den Weg zu meiner Schule, zum Spielplatz und zu meinen Freunden kenne ich auswendig. Ich sehe das verfallene Jugendstilkurhaus, den Park. Nachts höre ich die LKW auf der Leipziger Straße durch die Stadt donnern und vor dem historischen Au-tor (das Tor zur Aue) respektvoll langsamer werden. Der Respekt gilt hierbei der Enge des Torbogens. Am Tag sehe ich viele Frauen in Kittelschürzen. Ich weiß, in welchem nachbarlichen Daunenbett ich am liebsten geschlafen habe. Ich weiß, wo ich ein wässriges Grießsüppchen gegessen habe und es trotzdem lecker fand. Dort auf dem Brunnrand sitzend, würde ich mich gerne dazu entschließen, spontan ins Kino zu gehen. Vielleicht gäbe es eine Nachmittagsvorstellung und meine Mutter würde mir das Geld geben. Doch das Kino existiert nicht mehr. Ganz dunkel in meiner Erinnerung ist noch ein Besuch auf knackenden Holzklappsitzen gespeichert. Ganz hell ist weiterhin die Erinnerung an das Plumpsklo, das zum Kino gehört hat.

Wäre es ein günstiger Tag, könnte ich auf ein Brautpaar warten, das nach abgeschlossener Trauung die Treppen herunterlaufen und, sofern man es darüber in Kenntnis gesetzt hat, Kleingeld werfen würde. Nur, das ging schon mal schief und war für beide Seiten unangenehm. Frau Müller geht an mir vorbei. Ich grüße. Mutter will das so.

Endlich in der größeren Stadt. Wittenberg. Endlich zehn Jahre alt. Endlich fünfte Klasse. Endlich wieder Hoffnung. Doch auch hier ist das Kino geschlossen: Post-Wende-Umbau-Restaurations-Maßnahme. Das gilt ebenfalls für den Rest der Stadt. Irgendwann wird ein Theater schließen, worüber ein Freund sehr betrübt sein wird.

Ich radle oft in die Stadtbibliothek. Ich hänge mit Freundinnen ab. Ich stehle ab und zu Stifte. Ich bocke eine alte Schreibmaschine in meinem Zimmer auf. Das Farbband hakt. Ich freue mich auf den Sommer und auf Wimbledon und auf das Freibad in seiner Betonhaftigkeit. Auch das wird irgendwann geschlossen und renoviert oder restauriert oder gar neu gegossen werden. Bei dem Gedanken daran blicke ich an mir hinab und auf die kleine Narbe am Schienbein. Beton bröckelt auch und öffnet Wunden. Sommer 1994. Zwei Jahre später wird auf jenen bröckelnden Tribünenrängen eine Boygroup stehen. Denn wo nichts ist, kann mit Plastikemotionen viel geholt werden. Das Freibad ist gut besucht. Die Backstreet Boys singen und strampeln ihre Verträge ab. Das verfallene Betonfreibad ist auf dem europäischen Karriereweg das, was in den USA eine Mall im Nirgendwo ist.

Ich lese Bravo. Ich entdecke das Cover einer Zeitschrift, die Tempo heißt. Ich sehe Kate Moss. So dünn. Es wird die Frage gestellt: „Wie besiege ich meinen Chef?“. Ein paar Monate nach dieser Entdeckung traue ich mich beim Kiosk nach einer neuen Ausgabe zu fragen. Die Frau sagt: „Eingestellt.“ Ich wundere mich über die Frakturschrift der FAZ. Die Mitteldeutsche Zeitung hat so etwas nicht. Ich hänge ab. Ich gucke fern.

Letzte Ausfahrt Elster/Elbe. Ich bin 13 und werde bis 18 bleiben müssen. Es sind 16 Kilometer nach Wittenberg, wo ich weiterhin zur Schule gehe und wo bald wieder das Kino öffnet. Elster hat die Elbe und eine Hauptstraße, wieder eine Bundesstraße, auch hier wieder LKW in der Nacht. Doch diesmal kein Au-tor. Kein Respekt. Zu Fuß sind es 30 Minuten vom Ortseingangs- bis zum Ortsausgangsschild.

Hier komme ich regelmäßig an einem Jugendclub vorbei. Die Sekundarschüler des Dorfes sind dort, und sie rauchen. Ich rauche auch. Ich lese. Ich versuche Basketball zu spielen. Ich beginne zu fotografieren. Lade Freundinnen ein. Nehme die Kamera mit in die Schule. Filme und Bilder entwickle ich selbst. In einer Nacht verbrauche ich 100 Blatt Barytpapier.

Ich bin viel zu Hause. Meine Hausaufgaben mache ich lieblos. Ich gucke fern: altes Hollywood, gerne Technicolor, gerne Schwarz-Weiß, hin und wieder Nachrichten, manchmal weint jemand so wie der General hinter Prinz Charles. Charlotte Roche und Markus Kavka erklären mir, woran ich nicht direkt teilhabe: Popkultur. „Hamma wieder was gelernt.“ Ich nicke oft. Ich höre viel Rap-Musik. Rock-Klassiker, liebäugle mit Indierock. CDs kaufe ich bei Edeka und über Ebay ersteigere ich mir meine erste Platte. Hin und wieder Partys, Besuche, Kino, Freunde schreiben per SMS. Ich vermeide die Teilnahme an den Autorennen vor dem Supermarkt am Ortseingang. (Ich habe bis heute keinen Führerschein.) Ich richte mir eine E-Mail-Adresse ein. Hin und wieder ein langer Samstag in Berlin. Das Internet beginnt die Zeit aufzufressen.

Mit 18 ziehe ich nach Hamburg. Dort genieße ich das tägliche Pendeln zwischen Eidelstedt und Wandsbek, die Besuche in Winterhude, Altona, Schanzenviertel. Das Fahren durch die Stadt.

Ich assistiere. Ich ströme durch die Stadt auf Locationsuche. Ich stolpere in meinem Kleidermarkt-Secondhand-Look in Modelagenturen rein. Ich weiß jetzt, was ein Foodstylist ist. Ich schleppe Zarges-Boxen und mobile Blitzanlagen, oszilliere zwischen Calumet, PPS und der Dunkelkammer. An einem Tag sind wir bei den Darbovens, um zwei Gemälde abzulichten. Links neben den Öl-Bildern eine große serielle Arbeit, die wir nicht mit der Großformat aufnehmen. Jemand sagt: „Hanne Darboven“. Ich schaue noch mal hin.

Ich höre viele Sprachen und bin oft im Kino: Passage oder Abaton mit Katje. Ich gehe auf Konzerte, entdecke den Vorteil größerer Buchläden, lerne viel von Plakaten, Aufklebern und Graffitis. „Fixstern im Schanzenviertel. Wo die Hilfe sein muss.“ „Diese Wand bleibt bunt. Und Hafen sowieso. Basta!“ In der Alten Postsortierhalle lockt die Ausstellung Urban Discipline. Nachts versuche ich mich nicht überfallen zu lassen. Klappt auch fast. Ich überwinde Schwellenängste, gehe in ein Museum, das weder Völkerkundemuseum noch Pergamonmuseum ist. Die Deichtorhallen zeigen drei Ausstellungen an irgendeinem Sonntag: Wolfgang Tillmans – Aufsicht, The Contemporary Face – Von Pablo Picasso bis Alex Katz und Elizabeth Peyton. Ich gönne mir alle drei, auch wenn dann weniger für Aldi bleibt.

Ich bleibe hängen, Wolfgang Tillmans nutzt Gaffa-Tape und keine Rahmen. Ich bin über alles ziemlich begeistert.

Meine Mutter ruft an. Sie berichtet von einem Dorf in Mecklenburg-Vorpommern, in dem es nichts mehr gibt außer einem Supermarkt, Friseur und Nagelstudio. Menschen leben noch dort, so erzählt man sich.