Eine Frage der Perspektive

von 
Essay
zuerst erschienen Januar 2014 in Wald Magazine Nr. 3
Fassung der Autorin
Mode als Ausdruck der eigenen Vergänglichkeit

Es war ein viel zu warmer Wintertag, so wie es etliche gegeben hatte. Ich glaubte schon die ersten Knospen an den Kastanien sehen zu können, musste aber schnell feststellen, dass es lediglich Sprossen waren, die in den letzten Sommertagen mit letzter Kraft entstanden waren. Niemals hatten sie die Chance gehabt, geboren zu werden und zu saftigen grünen Blättern heranzureifen, sondern waren dazu verdammt, in einer Art Raupenstadium zugrunde zu gehen. Und während ich diesen existenzialistischen Gedanken nachhing, hörte ich vom Tresen, der sich unweit meines Tisches befand, Ruflaute, die erst vorsichtig ertönten und dann immer lauter wurden: „Los, tu´s endlich. Schnapp mich. Es sieht dich schon keiner.“ Ein Haufen bunter Zeitschriften lungerte da vor sich hin und wurde vom Berliner Publikum ignoriert. Ich sah die Gala, Bunte und InStyle. Letztere hatte ich noch vor ein paar Jahren, sogar ohne mich dafür zu schämen, in meinen Supermarkt-Korb gelegt. Nachdem der Frühling nun also in weite Ferne gerückt war, stand ich auf, ohne mich vorsichtig umzuschauen, und griff mutig zu. Schnell blätterte ich durch die gefühlten 100 Seiten Werbung, die sich im ersten Teil jeder gedruckten Zeitschrift befinden, scannte Stars, von denen ich noch nie gehört hatte und entdeckte vermeintliche Trends, die mit so unfassbaren Titeln wie „Veggie-Nails“ für vegane Nagellacke, „Aufstand“ für Hochsteckfrisuren und „Zip-Code“ für Rei.verschlüsse an Hosen angepriesen wurden. Und irgendwann gelangte ich zu jenem bekannten InStyle-Teil, der mich schon immer fasziniert hatte und gleichzeitig irritierte. Dort wurden Trends passend für jedes Alter gestylt. Ob man nun 20, 30, 40, 50 oder 60 war – Fellwesten schienen angesagt, allerdings nur in einer dem Alter entsprechenden Kombination aus anderen Kleidungsstücken.

Nun lernte ich früh, dass man sich mit Ende 30 die Haare bis zur Schulter abzuschneiden hatte und erinnerte mich an eine Nachbarin, die mit 70 eine silberviolette Dauerwelle trug. Damals war ich jung, zehn Jahre höchstens, und keiner konnte ahnen, dass Cher einmal 70 werden würde und bei David Letterman in Hotpants und Netzstrumpfhosen säße.

Also schloss ich die Augen und sah beide vor mir. Die dauergewellte Eminenz mit Hauskittel, die sich meine Nachbarin schimpfte und Cher. Die eine hielt sich an alle gängigen Regeln, die Frauen auferlegt wurden und die von der InStyle so selbstverständlich proklamiert werden, dass man glauben könne, sie hätte Recht. Und die Andere, widersetze sich diesen.

Bäumchen wechsel dich

Natürlich fordert die InStyle von keiner 70-Jährigen mehr ihr Haar in ein lustiges Farbspektakel zu verwandeln, aber sie tut etwas, das dem ähnlich ist. Sie kommuniziert Codes, an die sich gehalten werden muss. Und zwar altersabhängig. Auch, wenn der Code „silberviolettes Haar und Kittel bedeutet ältere Dame“ mittlerweile ausgedient hat, so wird doch ein neuer Code kreiert, der absolut Identisches ausdrückt: über meine Kleidung gebe ich mein Alter zu verstehen. Diese Tatsache scheint mir in Anbetracht der Veränderungen der letzten – sagen wir mal 50 Jahre – doch extrem statisch.

Längst wissen wir, dass sich Symboliken in der Mode vermischt haben. Ich kann Turnschuhe tragen, ohne Sport zu machen. Ich kann Hüte aufsetzen, ohne zum Pferderennen zu gehen und Overknee-Stiefel über mein Bein streifen, ohne anschließend für Oralsex 50 Euro zu kassieren. Dort, wo früher Standesgrenzen herrschten oder man seinen Beruf mithilfe seiner Kleidung zum Ausdruck brachte, herrscht nun willkürliches Treiben. Und noch mehr: Codes werden vom Menschen längst manipulativ eingesetzt. Wer also glaubt, durch die Kleidung den Kontostand der jeweiligen Person eruieren zu könne, sei darauf hingewiesen, dass beispielsweise mittellose Rapper, die vom Verkauf schlechtem Cracks leben, sich mit dicken Goldketten behängen, um ihre monetäre Potenz zum Ausdruck zu bringen. Wie weit es in Wirklichkeit um das Vermögen bestellt ist, weiß niemand. Selbiges gilt für Norwegerpulli tragende Millionäre, die lieber Smart fahren als Aston Martin.

Noch vor 200 Jahren stand gebräunte Haut für ein Leben als Bauer und weiße für das Leben am Hof. Dies veränderte sich mit der Industrialisierung. Menschen schufteten in lichtarmen Fabriken und Wohlhabende schlürften Cocktails am Strand von Capri. Gebräunte Haut symbolisierte auf einmal Freizeit und daraus ableitend: Geld. Bis plötzlich in den 90er Jahren Solarien aus dem Boden schossen und man sich für fünf Euro, den St. Tropez Teint herbeizaubern konnte, um zu wirken wie ein Privatier auf seiner 100 Meter langen Yacht. Die Katze beißt sich dabei in den Schwanz. Die immer schneller werdende mediale Verbreitung der jeweiligen Codes führt zu einer Verkürzung der Halbwertzeit eben dieser. Dabei kommt es aber auch zu einer angenehmen Verwässerung der Bedeutung von Codes. Während gestern noch Intellektualität durch Hornbrillen ausgedrückt wurde, stehen Hornbrillen nur noch für den Begriff des Hipsters, nicht mal mehr für ihn selbst. Codes unterliegen einer ständigen Veränderung und weil sie so hochgradig fluktuativ sind, haben sie an enormer Kraft verloren. Das kann verurteilt oder eben freudig angenommen werden.

Das große Festhalten

Während Codes mittlerweile eine Halbwertszeit von vielleicht fünf Jahren haben und mitunter sogar saisonal variieren, schwört die InStyle in ihrer Alters-Rubrik darauf, dass Overknees nur Prostituierte anziehen sollten oder besser ausgedrückt, dass eine 50-Jährige kurzes Haar und knielange Röcke zu tragen hat. Es scheint als würden sich die Codes vertikal in immer kürzerer Zeit verändern, aber horizontal eine Stagnation erleben. Damit meine ich nicht, dass dagegen nicht individuell angegangen wird, sondern dass es gesellschaftlich nach wie vor verpönt ist.

Nur Wenige trauen sich, außerhalb der Schemata der Altersdogmen zu agieren. Und wenn sie dies tun, dann werden sie beschimpft, beleidigt und ausgelacht. Wir kommen an dieser Stelle ohne Namen aus, die für jene alterlosen Alten stehen, die sich dem unveränderlichen Code entgegensetzen. Die Vorwürfe reichen von „sie würden nicht in Würde altern“ bis zu „die denken immer noch, sie wären 20“. Denken sie wirklich, sie wären 20? Oder sind sie es nicht einfach nur leid, ihr baldiges Ableben zur Schau stellen zu müssen. Als würde man nach wie vor Mittellose zwingen eine Kleidung zu tragen, die ihre Armut erkennen lässt oder Wohlhabende mit einer Markierung versehen, so dass jeder schon mal Google-Brillen-mäßig Bescheid weiß.

Wir alle haben nur eine bestimmte Zeit auf dieser durchs Weltall fliegenden Murmel. Und diese Zeit ist kurz. Verdammt kurz. Wer sich dies klarmacht, kriegt ohne Umwege sofort Angst. Diese Angst ist nicht unbegründet oder paranoid. Sie steht für das Menschsein persé. Sie steht für das Grauen der Vergänglichkeit, das uns eines Tages alle heimsuchen wird. Ob wir uns nun einen Kittel und eine abgefahren hässliche Frisur zulegen, um offenkundig unser näher rückendes Verlöschen anzukündigen oder eben den Pulli unserer Achtjährigen Tochter tragen und dazu die zerrissene Jeansjacke des pubertierenden Sohnes, um ziemlich offensiv unsere Antihaltung dem Tod gegenüber auszudrücken – fest steht, dass sich beide Ausdrucksformen um das eigene Ende drehen.

Die eine kündigt es an und die andere verweigert die Ankündigung. Denn Kleidung ist Ankündigung. Sie teilt dem Gegenüber mit, was man kann, weiß und will; wo man steht und woher man kommt. Mithilfe sich verändernder Codes werden ununterbrochen jene Ankündigungen in den öffentlichen Raum getragen. Die eine lautet: Ich will nicht sterben; und die andere: Ich bin schon tot.

Nein, nein, nein

Die dem Tod abgewandte Haltung steht ohne Zweifel für eine rebellische Kraft, für ein lautes Nein und wer den Frauen oder Männern dieser Welt Vorwürfe aufgrund dieses lauten Neins macht, hat sich dem Tod entweder noch nicht gestellt oder längst ausgeliefert. Vielleicht sind die Vorwurfsvollen auch wütend, dass so offenkundig, die Angst vor dem großen Abgang ausgedrückt wird. Möglicherweise, weil dieser Umgang eine ständige Auseinandersetzung einfordern würde. Sich mit 50 Jahren ein Kleidungsstück überzuwerfen, das 20-Jährigen vorbehalten ist, ist keine Ignoranz dem eigenen Alter gegenüber, es ist der Kampf gegen das schleichende Vergehen. Dabei spreche ich nicht von Fashion-Statements, die auch an einem Teenager albern wirken würden, sondern von der bewussten Weigerung überholter Altersdogmen.

Vor wenigen Wochen wurde eine wundervolle Dokumentation des britischen Senders Channel 4 veröffentlicht. Alle paar Minuten poppte diese wie selbstverständlich im Facebook-Newsfeed auf. „Fabulous Fashionistas“ heißt sie und beschäftigt sich mit eben jenem Aspekt des Älterwerdens, den ich versucht habe auf den letzten Seiten herauszuarbeiten. Nämlich der Abkehr irgendwelcher Kleidungsnormen, deren Einhaltung gesellschaftlich eingefordert wird. Mit Absicht wurden dort sechs Frauen begleitet, die sich zu keinem Zeitpunkt ihres Lebens einer Schönheitsoperation unterzogen haben, sondern natürlich gealtert sind. Trotzdem verzichtete keine dieser Frauen – alle samt über 80 Jahre – darauf, sich nach wie vor individuell auszudrücken und einen alterslosen Kleidungsstil zu wählen. In einem Interview sagt eine von ihnen: „And yes, you think about death but you choose life.“

Das Leben zu wählen, ist genau jene logische Folgerung, die sich aus der Auseinandersetzung mit dem Tod schließen lässt. Sich mit 50 oder 60 nicht schon vom Leben zu verabschieden und den Tod am Leib zu tragen, ist keine wirrköpfige Schizophrenie oder eine lächerliche Ignoranz, es ist die Konsequenz einer ganz bewusst gewählten Perspektive dem Lebens gegenüber.