Ha! Ha! Superdoof?

Portrait
zuerst erschienen im November 1993 in Tempo, S. 98-102
Eine seltsame Begegnung der dritten Art mit dem Wortakrobaten Rainald Goetz beschreibt Moritz von Uslar. Traf er ein Genie?

[99] Aufschreiben, Mann, sagt er. Einfach aufschreiben, das ist es schon, ganz klar, ganz einfach, einfach drauf: Die Dinge aufschreiben.

Ein Scheiß, ein cooler Scheiß ist das. Bin ich denn blöd?

Gar nichts schreibe ich auf. Ich schreibe uff – na, so sage ich’s mal und denke, das kapiert doch jeder.

Ich schreibe uff: Nicht die Dinger. Nicht das Denken, Scheißdenken, nicht das Fingern, Fummeln, Rumgeficke, das Nach-Wörtern-Fingern also, keine Formulierungen, Bilder, schöne Sätze. Kein Auf-, dafür das Uffdenken. Uffschreiben. Also druff und druff und immer druff, feste, feste, uffs Papier, muß uffgelabert und uffgedacht und uffgeschrieben werden, so voll uff blöd und voll uff sexy, wie der große Bumm, der Housebeat, der von George Michaels „Killer/Papa Was A Rollin’ Stone“. „Harte Suppe!“ und „Läähsisch!“ und Wir sind ja druff!“ Hat natürlich einen richtigen Anfang, die Geschichte.

Im Hotel „0lympic“, München. Mein Zimmer war das mit der Nummer zwölf, mit Uffschreiben und all dem wirklich coolen Scheiß war nichts drin. Schreiben, lesen, das Telefon abnehmen, einfach sitzen, blöd gucken, einen Text anstarren, das ging an diesem Schreibtisch, so klein und krüppelniedrig, wie der war, alles nicht. Na, ich stand blöd rum, habe den „Kronos“ in die Hand genommen. „Kronos“, das ist das Buch von Rainald Goetz. Ein wunderschönes Buch, so mit Papiereinband, blau-gelb, gerade erschienen in einem Pappkarton mit vier anderen Bänden, alle wunderschön und blau-gelb.

Na, ich stand blöd rum, immer noch, hielt „Kronos“ und blätterte drin rum, da fand ich vorne, so auf Seite sechs, ein Porträt, ein Automatenfoto, das Gesicht von Rainald Goetz. Sehr hart sah das aus und sehr korrekt, gut druff also, so mit 1a-Kurzhaarschnitt, Denkerstirn, Kämpferaugen, und er trug einen Militärblouson. Daneben, so auf Seite sieben, stand: „go go go …“, zwölfmal und im Dreieck hingedruckt, „Moby“ darunter, ein Zitat des New Yorker Techno-DJs also. Ein Supertext. Sieht super aus und klingt auch super, was für ein super Anfang für ein Superbuch! Ich verstand dann auch: ein Sammelband mit neun Geschichten aus neun Jahren. „Jährliche Berichte“, so heißen die Geschichten, „der konkrete Halt wirklich erlebter Geschichten“, so steht’s zur Erklärung vorn drin.

Aus fast jedem Jahr ein Bericht, 1982 der erste, 1991 der neunte, und die Berichte sind also wirklich wahr. Ich fand alles super. Und dachte leise, ganz für mich: „’Kronos‘, Herr Goetz, ist ein Superbuch. Macht es da viel, wenn ich fast nichts verstehe?“

Rainald Goetz war pünktlich, und er sagte sowas wie: „Asozial! Voll der asoziale Zeitpunkt für ein Treffen!“ Es war so halb acht abends, ein Superabend, so ein Münchner Sommerabend, gute Laune, Abendsonne. Windwölkchen kamen runtergepumpt vom Himmel, packungsweise und wie am Fließband, und wir standen draußen, mittendrin, um uns rum nur Bierkrüge und Biertische und Schweinekoteletts vom Grill. Schicke Münchner Mädchen waren da, die mit Dirndl und Chanel-Ohrringen, und ein paar Lackaffen, die mit Edwin-Jeans und Notizblock, Studenten also oder Zeitungsredakteure. Wir standen bei der Lesung des Münchner Autors Helmut Krausser. Rainald Goetz schaute sich auch um, bloß er war viel schneller. Die Hände in den Jeanstaschen, die Schuhe in den Boden reingestellt, Stirn, Augenbrauen, Nase und Kinn in einer Spannungskurve, wie Sensoren, Radargeräte ausgefahren, auf Empfang gestellt, hochempfindlich.

Rainald Goetz sah also alles, war superschnell und redete und redete, steckte sich mal eine Zigarette in den Mund, warf sie weg und steckte sich eine neue an, redete und sah noch [100] immer alles. Und was er ansah, das wurde von seinem Lachen getroffen, von seinem supernetten Lachen, so krachlaut und hysterisch, mit Brustbeben, geballten Fäusten, Kopf, der nach hinten in den Nacken donnert, nach vorne schnellt und sich zur Ruhe schüttelt, ein echtes Hahahaa. „Super!“ rief ich. „Super! Super!“ Und heimlich dachte ich: Der haut den Lackaffen ganz sicher noch eins rein.

Später - Helmut Kraussers Lesung hatten wir kaum zugehört, so doof sahen die Zuhörer aus beim Zuhören und Nicht-Doof-Tun, so laut und lustig war Rainald Goetz, der das Stillsitzen auf seinem Stuhl nicht hinbekam und in den leisen Lesesaal sowas hineinrief wie „Harte Suppe!“ und „Ha! Ha! Superdoof!“ –, später also, als zehn Uhr schon durch und es draußen dunkel war, da trat Rainald Goetz mal zu mir hin, so auf blöd, normal und herzlich, sagte dann: „Verstehst’ schon: ein asoziales Treffen. Heute abend kam Daviscup im Fernsehen.“

Im Zimmer Nummer zwölf. Da standen Preßholzschrank und Minibar und Scheißschreibtisch. Ich lag auf meinem Bett herum, die Füße in die Decke eingewickelt, den „Kronos“ auf dem Kissen: „Das Polizeirevier“ von 1982, der erste Text. Rainald Goetz denkt, er wird beobachtet, und bald kann er gar nichts anderes mehr denken. Es geht ihm also richtig schlecht und nur dann ein wenig besser, wenn er ein Bad nimmt früh um acht, sich anguckt, was das Fernsehen bringt, ein, zwei Bier heruntertrinkt auf ex. Dabei kämpft er – ohne Erfolg und ohne Rückschlag – gegen das „Zwangsgrübeln“ in seinem Kopf. Muß elend ausgehen, geht es auch. Rainald Goetz träumt von „hinsetzen“ und „richtig ausruhen“, und dann hofft er mal auf anhaltenden Schneefall. „Vielleicht kann ich für immer nur noch innerlich zerstörte und zerstörende Dinge denken. Ich will doch nur ein ganz normaler Bürger sein.“

Weiter: „Wir Kontrolle Welt“ von 1983, der zweite Text. Rainald Goetz will Kontrolle, die Kontrolle über alles, über „Zeitungen und Magazine“, „Papierhaufen“, über das Fernsehen und seine Stars, Uschi Glas und Roy Black und Eduard Zimmermann, über die moderne Welt, die scheiße ist, und das „Hirntoben“ in seinem Kopf. Härteste Kämpfe, die das „Wir“ sich liefert mit der „Welt“, und die „Welt“ steht bestens da, das „Wir“ steckt Schläge ein, Kopfschläge, und geht zu Boden: „Irgendwann haut es die Fassung raus. Da hört das Denken auf. Zuviel Schmerz macht dumm.“ Kommt hoch, auf die Beine, trumpft noch einmal auf: „Denken Arbeiten Kämpfen Siegen. Being Number One: Is Up To You.“ Und geht k.o.: „Österreich-Deutschland 0:0. Der Vollmond scheint. Das Herz tut weh. Immer dieselbe Scheiße.“

Weiter: „Drei Tage“ von 1988, der sechste Text. Rainald Goetz hat plötzlich gute Laune. „Text, Bier, Ecstasy“, so steht es unter der Überschrift. Und das sind sie, Rainald Goetz‘ drei Drogen, mit denen er denken, arbeiten, gute Laune haben kann. „Text“, das ist „Spex“, die Zeitschrift, für die Rainald Goetz viel geschrieben hat, das ist TEMPO, die Zeitschrift, die Rainald Goetz geliebt und gehaßt hat, weil sie „alle Richtigkeiten so tief in den Schwachsinn hineinverschleppt, bis nur noch Falschheit sichtbar ist“, das ist das deutsche Feuilleton, das Theater, der Soziologe Niklas Luhmann und „…die härteste Droge, die ich kenne“: „Bier“, das ist ganz klar gut, und das wird getrunken, zum Beispiel im „Café Baader“, in dem „wir heute die Biere trinken nachts“. „Ecstasy“, das lernt Rainald Goetz kennen, lieben, richtig einsetzen, das schluckr er in sich hineine mit „sehr zitternder Hand“, und das ist „unzerstörbar“, sehr nahe an der „echt geilen Droge GÜTE“, dem „Triumph aller zarten Kräfte gegenüber aller Gewalt“.

Weiter: „Ästhetisches System“ von 1991, neuester und letzter Text im „Kronos“ der beste aller Supertexte. Beginnt mit: „Hier kommt die Geschichte eines rundum glücklichen Jahres.“ Führt über: „Du weißt, daß uns nichts wirklich Schlimmes passieren kann denn im Grunde sind wir okay.“ Und endet mit: „Und friedlich zog die Zeit uns zugeneigt dahin.“ Dazwischen steht Geschichte, ganz normale Geschichte, Alltag, Abenteuer, Alltagsabenteuer, Schwingen, Alltagsschwingen, das Hin und Her und Auf und Ab der Launen, beste, elendste, höchste Sehnsucht, Erlösung, größtes Glück überhaupt. Und dann steil nach unten: irrste Wirrnis, Zweifel, Zeitstillstand, größte Scheiße überhaupt. Doch diesmal macht das Glück die Scheiße platt, besser noch: Das kleinste Glück kann den größten Scheiß erledigen. Kleines Glück, das ist für Rainald Goetz das Größte – „saubere Hände, kalter Verstand, heißes Herz“ –, das sind die Glückssekunden, Überraschungen, die kleinen Wunder, Wendungen, der Sekundenrausch, der explodieren muß zum Dauerrausch, zum Weltwunder, zu größtem Glück.

Und im Text heißt das: Freunde, beste, liebste Freunde – Olaf, Alfi, Michi, Woody, Hell heißen die DJs, die Helden des Nachtlebens. Mit denen kann Rainald Goetz Bier trinken, auf Reisen gehen, den Freundschaftsmüll zur Seite räumen, gute Laune haben, also „sauber ablachen“ und „gut einen angammeln und ufflabern an den Nachmittagen bei einer Portion Eis“. Und Rainald Goetz liebt seine Freunde, tritt zu ihnen hin, starrt sie an, horcht sie aus hält sie fest, hat sie bei sich, ganz nah, jetzt und in alle Ewigkeit.

[101 Anzeige] [102] So kann er loslegen, Rainald Goetz, der Erzähler, das Ich, die Hauptperson, die unter seinen Freunden, in seiner Gang nie mehr ist als eine von vielen Hauptpersonen. Rainald Goetz legt nicht los, er rast nach vorne, besinnungslos, kämpferisch, kühn, totalitär und roh, mit sperrangelweit aufgerissenem Hirn und Herzen, will erleben, was los ist, da draußen, im Nachtleben, in der „Nähe der Boxen und Musikmaschinen“, im „zwei Uhr Nacht Geschiebe im superrammelvollen ,Babalu‘“, auf Reisen, in Ostberlin auf „aufgerissenen Wegen, in Schächten, auf wankenden Brücken“, auf Ibiza in den „Zinnen einer weißen Ferienburg“. Dort oben in der Ferienburg finden Rainald Goetz und seine Freunde dann Stille, Frieden, Zuversicht und noch etwas: „Wir konnten uns alles erklären, gegenseitig, durch Schweigen und Zeigen oder durch Reden. Wir waren nämlich Menschenkinder.“

Ich lag da, gespannt, erschöpft, aufs Angenehmste mit mir selbst beschäftigt, und fühlte die Gedanken aufstehen, sich bereit machen, entrümpeln und neu einrichten in der Welt des „Kronos“. Häßlich, idiotisch häßlich starrte mich das Zimmer an. Und ich starrte zurück, idiotisch, als säße Madonna neben mir, splitternackt, Sid Vicious, blutüberströmt, Jimmy Dean, der auf einem Grashalm kaut. Sollte ich Fragen stellen? Nachfragen? Das, was Kritiker „kritisch hinterfragen“ nennen? Rein ins Unverständliche, das Verständliche herauszufragen?

Wir lallten Topspeed, immer laut, immer lustig, immer blöd, und wir saßen draußen auf dem Land, Kuchenstücke, Tee und eine Tischdecke zwischen uns und um uns rum die Äste eines Apfelbaums, der in das Holzhaus hinter uns hineingewachsen war. Im Gras lag ein roter Plastikball, die Sonne schien, irgendwo fuhr ein Traktor los. Da sagte Rainald Goetz: „Ein totaler Scheiß ist das. Immer das Gerede um das Nichtverstehen. Ich sage doch auch nicht dauernd: Das verstehe ich nicht.“ Weiter schien die Sonne, und Tee und Kuchen schmeckten bestens. Da sagte Rainald Goetz: „,Soziale Praxis‘, das ist ein Kronos‘-Text, ist mein Lieblingstext, der beste, genau der, den ich immer schreiben wollte. Da sitzt jedes Wort. Da liebe ich jeden Satz. Da verstehe ich nicht, was nicht zu verstehen ist.“

Wunderschön schien die Sonne durch die Äste auf den Rest der Kuchenstücke. „Lies doch einfach, was da steht!“ sagte Rainald Goetz. Er spielte mit den Zigaretten, schob die Packung so zurecht, daß der Packungsrand parallel zur Tischkante lag. Die Hände zu Fäusten geballt in die Augenhöhlen reingedrückt, sagte er: „Lies meine Texte, und dann kannst du ja gute Laune kriegen oder sowas. Richtig: Komme gut druff! Das ist doch was! Du kannst auch schlecht druff kommen. Das ist vielleicht auch etwas.“ Wir lallten weiter, hingerissen vom Topspeed des Gelalles, vom Klang der Wörter, vom Rhythmus. „Harte Suppe!“, das rief Rainald Goetz, wenn ihm etwas nicht in den Kopf reinging. „Läähsisch!“, das rief er, wenn er einverstanden war. „Na klar“, so fängt Rainald Goetz einen Satz an, „beim Dichterwettbewerb in Klagenfurt 1983, als ich mir die Stirn aufschnitt, da kam die Polizei, mich zu verhören. Ich denke, das war in Ordnung von der Polizei.“ „Na klar“, sagt er, „Klagenfurt ist saugut zum Ablachen. Finde ich saublöd, da nicht hinzufahren.“ Und: „Na klar, ich schreibe mal wieder einen Roman. Gibt doch keinen Grund, das nicht zu tun.“ Rainald Goetz sagt auch: „Klar, ich werde mal in Berlin wohnen. Nicht in Kreuzberg, nicht in Schöneberg, im Wedding vielleicht. Ich muß ein paar Prolos sehen, wenn ich morgens aus der Haustür trete.“ Endlos gingen wir spazieren, dann rasten wir die Autobahn entlang, hörten Eros Ramazzotti und die Pet Shop Boys. Vor einem Baggersee machten wir mal halt und Rainald Goetz schwamm Schmetterling, bis das ruhige Wasser in Wellen die Bäume am anderen Ufer naßklatschte.

Das Scheißzimmer Nummer zwölf war mir so was von egal. Rainald Goetz: ein großer Schriftsteller, ein Popstar, Held und Abenteurer, alles das, was ein  Schriftsteller 1993 leisten muß, damit er cool vorneweg in die Zukunft reinschreibt – das ging mir durch den Kopf.

Sie hat natürlich ein richtiges Ende, die Geschichte und sie endete nicht im Hotelzimmer: „Bleib hier stehen. Ich bestelle uns gerade ein Notbier.“ Rainald Goetz stellte das große Gelbe mit dem klei nen Weiß zwischen die zwei anderen Biere und zog aus seinem Glas den Restschaum runter. Gemeinsam tranken wir vom Notbierglas, als der Bumm, der große Bumm, der Housebeat von George Michaels „Killer/Papa Was A Rollin’ Stone“ in den Tanzsaal reinbumste, ein weißes Rieseln von der Decke runterbrach, die Tänzermassen raus zur Mitte schoben. Ein Tanzmädchen mit Knallbrüsten hob die Arme, ein Tanzjunge mit nacktem Oberkörper drehte Pirouetten auf dem Kopf, da rief Rainald Goetz: „Mein Gott, wie ich schwitze! Wie ein Schwein. Schwitzt du auch so?“

Draußen standen wir, auf. den Terrassen der Diskothek „P1“, mittendrin in der kühlen Nachtluft, zwischen Biergläsern und Goldknopfblazern und dem Summen der Nachtstimmen. „Ich weiß jetzt, wie mein Text anfängt““ schrie ich dazwischen. „Schreib es uff! Schreib’s einfach uff!“ das schrie Rainald Goetz zurück. „Die Geschichte uffschreiben, das ist es, ganz klar, ganz einfach, einfach druff! Das ist der wirklich coole Scheiß!“