Volkmar Sigusch

Portrait
zuerst erschienen 2006 in der NZZ am Sonntag

„Weil ich ja gehen muß.“ Dieser Satz fällt gegen Ende eines langen Gespräches mit Volkmar Sigusch, dem Direktor des Frankfurter Institutes für Sexualwissenschaft. Das Institut soll geschlossen werden. Nicht abrupt, sondern allmählich, ganz leise und leidenschaftslos. Der Anfang wird durch die Verabschiedung des Professors gemacht. Der 66jährige Sigusch aber ist das Institut. Wer nach ihm kommt, der wird die Sache schon irgendwie betreiben. Mit Sigusch aber verabschiedet sich eine weltweit berühmte Institution dieser seltsamen Wissenschaft von unserer Sexualität.

Was damit verlorengeht – es fällt Volkmar Sigusch nicht leicht, auf diese Frage zu antworten. Den Leiter eines solchen Institutes stellt man sich anders vor. Wie einen Guru. Ähnlich wie Klaus Kinski in „Buddy Buddy“, wo er als Sex-Arzt Dr. Zuckerbrot mit Phallus-Amulett aufgetreten war. 

Professor Sigusch ist durch und durch seriös, er trägt einen grauen Dreiteiler, Krawatte. Auch die Räumlichkeiten sind verblüffend nüchtern eingerichtet. Keine erotischen Bilder, keine Vibratoren in Schaukästen aber überall Bücher. Von der Antike über de Sade bis Freud, Mc Kinsey und Michel Houellebecq – in vielen hundert Bänden wurde hier eine Geschichte der Sexualitität aufgereiht.

Aber es ist nicht nur die Theoretische Sexualwissenschaft, die in dem kleinen Gebäude des Frankfurter Universitätsklinikum betrieben wurde. Siguschs Institut unterhält ebenso eine Ambulanz, in der Menschen mit sexuellen Störungen sich begutachten lassen können.

Was ist das, ein sexuelles Problem? Welche Leiden kommen hier auf den Tisch?

„In den Siebzigern war es die anorgasmische Frau. Da brauchte nur in einer Zeitung zu stehen, das sei jetzt behandelbar, dann meldeten sich 150 Frauen am Tag. Und zu der Zeit traten junge Männer auf, die keinen Samenerguß mehr hatten - das hatte ich noch nicht gesehen, auch mein Chef nicht. Die waren übrigens kerngesund. In den Achtzigern kamen dann die lustlosen Männer. Und jetzt erst, in den neunziger Jahren, kamen die Asexuellen. Frauen und Männer, die überhaupt kein sexuelles Empfinden mehr haben. Kein Verlangen. Nichts. Die organisieren sich inzwischen im Internet. Und seit kurzem gibt es die Objektophilen. Das sind Menschen, die sich in tote Gegenstände verlieben. Mit allen Gefühlen der Liebe. Zum Beispiel in ein Hochhaus. Oder in eine Fähre. Theoretisch finde ich das sehr interessant.“

Das einzigartige an Professor Sigusch ist es, daß er die Jahrzehnte über in zwei Fachbereichen tätig war: Als Kulturwissenschaftler wie als Mediziner. Ein Urologe beispielsweise sucht nach einer Funktionsstörung und empfiehlt dann vielleicht Viagra. Sigusch sieht die Probleme auch stets in kulturellem Zusammenhang.

Hat vielleicht die Erfindung von Viagra sein Institut überflüssig gemacht?

Er lacht. Das ist das Schöne, daß der Sexualwissenschaftler recht häufig lacht – nicht kichert! Die Sexualwissenschaft ist bei allem Leid eine fröhliche Disziplin. „Ich freue mich, daß es mit Viagra ein Mittel gegen Potenzstörungen gibt. Danach hat die Männerwelt jahrtausendelang gesucht – von Ambra bis Zibet ist alles ausprobiert worden. Das allermeiste wirkte überhaupt nicht. Jetzt gibt es Viagra, das erste überhaupt, das man oral einnimmt, man muß sich nicht einmal verletzen. Und es wirkt. Es wirkt aber nur bei leichten Konflikten, bei leichter Angst, Altersschwäche, nachlassende Errektionsfähigkeit – sehr schön! Bei den ernsten Impotenzen mit schweren Konflikten im Hintergrund wirkt es natürlich überhaupt nicht. Da braucht man Psychotherapie.“

Aber woher sollen denn heute noch schwere Konflikte entstehen? Die Konflikte sind doch, so hieß es bei Freud schon, und in den sechziger Jahren dann wieder, durch Verdrängung entstanden. Heute aber leben sich doch alle aus. Sex scheint nicht mehr intim, sondern so allgegenwärtig wie früher nur die Kirche. Überall Nacktheit, überall geht es um Sex. Die Frauenzeitschriften bringen monatlich neue Tips zu Seitensprung, Selbstbefriedigung und Analverkehr. Sex and the City. Sex auf dem Land. Und anders als zu Anfang der Siebziger Jahre, als Sigusch mit seinen Forschungen anfing, bricht heute niemand mehr ein Tabu wenn er homosexuell ist, als Single lebt, in einer Kommune. Jeder kann soviel und auf welche Weise auch immer, Sex haben – oder etwa nicht?

Beileibe nicht, meint Volkmar Sigusch: „Unsere Verhältnisse sind paradox: Einerseits überladen mit erotischen Reizen, auf der anderen Seite große Lustlosigkeit. Viele sind ungeheuer einsam. Es scheint so, als könnte man Sex haben soviel man will. Es ist überhaupt nicht der Fall. Es gibt Berechnungen von befreundeten Kollegen: 95% des Gesamtaufkommens an Sex findet in festen Beziehungen statt. Und nur 5% bei den Singles“.

Es fällt auf, daß die Bücher in seinem Regal vornehmlich westlicher Herkunft entstammen. Warum beschäftigt man sich in unserem Kulturkreis so intensiv, man könnte auch sagen: mit primitivem Eifer mit der Sexualität? In den Kulturen, die wir als primitiv erachten, bei Menschen die nackt leben, bei solchen ohne Literatur, steht Sexualität nicht derart im Vordergrund.

Sigusch sieht den Bruch mit der Aufklärung zwischen 17. und 18. Jahrhundert. „Es ist in unserer Kultur, der europäisch, nordamerikanischen, eine Sexualform herausgestanzt worden, selbst das Wort dafür gab es bis dahin nicht. Es gab eintausend Wörter von Nisus bis Venus. Amore bis Piaggere. Und dann gab es den Kollektivsingular „Sexualität“. Einerseits also Dramatisierung, andererseits Verdrängung, Verleugnung, Tabuisierung – diese brisante Mischung war es, die das Sexuelle groß gemacht hat. Ich sage immer: Da gibt es heute nur noch den Vatikan, der das Sexuelle groß macht. Aus dem Grund halte ich internationale Kongresse für Unsinn. Unsere Sexualität gibt es nicht in Asien. Man hat dort einen ganz anderen Umgang mit Spiritualität, man mäßigt die Wünche durch rituelle Handlung. Es ist nicht wie bei uns, wo man ständig neue Wünsche erfindet, um Produkte dafür absetzen zu können. Und das injizieren wir jetzt der ganzen Welt! Durch die Globalisierung des Kapitalismus.“ 

Hier sieht Professor Sigusch die künftige Aufgabe seines Institutes. Aber daraus wird nichts werden. Und er sagt diesen Satz: „Weil ich ja gehen muß“.

Volkmar Sigusch hat seine Karriere zu einer Zeit begonnen, da in den Industrieländern noch starke Tabus, vor allem das Unwissen über alle Sexuelle vorherrschend war. Daß er noch heute in den USA als führender Experte anerkannt ist – „dort werde ich scherzhaft Doktor Siguse genannt“ – hat vor allem mit seiner Rolle als junger Pionier zu tun. Als Mitdreißiger bekam er beispielsweise den Auftrag des deutschen Bundesgerichtshofes, einige von Beate Uhse auf den Markt gebrachte Sexspielzeuge zu begutachten „Die verlangten meine Einschätzung, ob damit ein übermenschlicher Orgasmus herbeigeführt werden kann.“ Der junge Professor erklärte den Hohen Herren, daß es nur eine Sorte Orgasmus gibt. Seine derzeit mit Gunter Schmidt veröffentlichte Studie über die Reaktion von Menschen auf pornographisches Material war die erste ihrer Art und wurde in den USA mit einem Vorwort des Präsidenten Richard Nixon veröffentlicht.

Sigusch, der bei Adorno und Horkheimer studiert hatte, ist einer der letzten Protagonisten von ’68, die nun von den Erben ihrer Revolution abserviert werden. Das Feindbild jener Revolte hatte in der unaufgeklärt konsumorientierten Gesellschaft bestanden. Das heutige Leitbild ist beinahe überaufgeklärt, dabei total komsumfixiert. Alles, so Sigusch, ist zur Ware geworden. Sex sells - aber befriedigend finden das immer weniger Konsumenten. Es blühen Neurosen, es gärt Frustration.

Die „ungeheure Einsamkeit“, von der Sigusch spricht, wird angesichts der mit Liebe und Sex gepflasterten Umwelt als privates Versagen empfunden. Die Industrie bietet Abhilfe mit noch mehr Büchern und Filmen, mit Partnerschaftsbörsen und raffinierten Masturbationshilfen per Telefon und im Internet.

Daß einer wie Volkmar Sigusch mit seinem sperrig betitelten Institut nicht zur Soforthilfe taugt, sondern allenfalls kritisieren kann, sich mit Gedanken äußert, macht ihn in den Augen einer am Liebesglück irre werdenden Gesellschaft tatsächlich überflüssig. Das Viagra hat nicht Professor Sigusch entwickelt, es stammt aus den Laboratorien der Pharmazeutischen Industrie. 

Wenn er lacht, wenn er plaudert, selbst wenn er fachliches referiert, wirkt der Professor beneidenswert jugendlich, er verströmt eine ansteckende Heiterkeit. Anzunehmen, daß er seine Schäfchen längst ins Trockene gebracht hat – weltweite Bestseller, Vortragsreisen, über drei Jahrzehnte in gutbezahlter Professur. Sorgen macht er sich dennoch, sie sind uneigennützig. Mit Sorge beobachtet er den Trend, selbst in den Medizinischen Fakultäten alle Bereiche einzusparen, die anscheinend unrentabel sind. So wird in Frankfurt nicht bloß das Institut für Sexualwissenschaft zugemacht, seit längerem schon finden sich die Abteilungen Ethik sowie Geschichte der Medizin verwaist. „Alles, was sich nicht auf der Stelle finanziell rentiert hat keine Chance mehr. Vor allem betrifft das die nachdenklichen Disziplinen. In der Medizin wird nicht mehr nachgedacht. Keiner reflektiert mehr die Entwicklungen und die Fehler, die gemacht werden. Die Weichen, die jetzt falsch gestellt werden. Das wird ein böses Erwachen geben.“

Er ist sich da sicher. Es ist ihm anzusehen. Dann klart sich seine Miene auf und er lacht noch ein letztes Mal. „Aber es wird noch dreißig Jahre dauern.“