Menschen schauen dich an

Essay
zuerst 2005 erschienen in Süddeutsche Zeitung am Wochenende

Tatzi, eine mannshohe Pfote auf zwei Beinen, die kleine Besucher des Zoos in Hannover begrüßt. Nicht bloß an den heißen, bereits an den wärmeren Tagen des Frühlings bekommt ein Erwachsener Mitleid mit so einem - ja was eigentlich: Kerl? Wesen? Zwischending?

Es steckt ein Mensch in jedem Plüschtier, das sich rührt. Ein Hase winkt zum Schlussverkauf – wo Menschen sich zusammenfinden und überall wo Kinder sind, mischen sich solche Kerltiere unter das Volk. Zwischenwesen sind unterwegs auf den Einkaufsmeilen, sie warten vor der Autowaschanlage auf Kundschaft, erscheinen zur Halbzeitpause im Fußballstadion, sie verstärken die schon gute Stimmung, stellen den Inbegriff unserer Ausgelassenheit dar. Man lässt sich gerne die Hand schütteln von einer groß geratenen Pfote. Die Kinder ziehen schon dorthin. Zunächst verharren sie in einem Sicherheitsabstand. Warndistanz nennt man den Bannkreis eines Tieres. Der Hallo-Fuchs der Bausparkasse winkt, die Kinder kommen jetzt näher und streicheln ihm über sein künstliches Fell. Noch recht behutsam, etwas ungläubig: Für Kinder stammt so ein lebendes Stofftier aus jenem Reich, in dem der Weihnachtsmann und das Klingeltonküken zuhause sind. Ist es gerade Winter, dann denkt sich der Erwachsene angesichts eines Zwischenwesens „So ein Nashornpelz wäre heute gar nicht verkehrt“. Spätestens im Sommer aber heißt es wieder „die arme Sau!“, und blitzartig entsteht dabei auch eine Dankbarkeit für den eigenen, immerhin ja wenigstens anständigen Beruf.

Die bloße Vorstellung, jemand könnte sich freiwillig ein Stofftierkostüm anziehen wollen, ist doch bizarr. Die weitergehende Vorstellung, nämlich die, dass es immer irgendwo eine Party gäbe und dort erschienen alle Gäste in Stofftierkostümen, sie stünden so angezogen herum, tränken etwas, knabberten Gemüsesticks und fingen dabei auch an, sich zu streicheln - nicht die Haut, sondern das Fell ihrer Kostüme – diese Szenerie ist grotesk. Mit Karneval hat es nichts zu tun, mit den Fabeln von Aesop schon etwas mehr, vielleicht ist es sogar Kunst. Geben tut es das jedenfalls.

Menschen, Frauen und Männer, die sich als Stofftiere verkleiden nennen sich Furrys. Es gibt Furry-Kongresse, in Amerika gibt es Versandhändler, die entsprechende Zeitschriften, Bilder und Kostüme verkaufen, sogar Furry-Stammtische gibt es, den geräumigsten natürlich im Internet. Die Situation eines in Weimar lebenden Furrys kann man sich vor der flächendeckenden Versorgung mit Internet kaum isoliert genug vorstellen. Wie die eines Briefmarkensammlers, der niemanden zum Tauschen kennt. Dass es aber bei den Furrys in der Hauptsache um den Kontakt und den Austausch mit den gleichartig Interessierten geht, das lässt sich in dem Internet studieren. Da kaum einer als Pferd verkleidet zuhause sitzen will, gibt es Zusammentreffen, die Conventions genannt werden. Im Internet einsehbare Bilder deuten darauf hin, dass sich auf solchen Conventions tatsächlich als Pferde, Bären, Hasen, auch Reptilien und als alles nur möglich tierhafte verkleidete Menschen treffen. Was diese lebenden Stofftiere dort miteinander anstellen, das zeigen diese Bilder aber nicht.

Es deutet auf ein verwickeltes, dabei aber nicht unsympathisches Gefühlsleben hin, wenn einer für Stofftiere so tief empfindet, dass er sich selber wünscht, ein solches zu sein. Sympathisch, weil es zeugt von einer starken Fantasie. Bekanntlich finden sich Stofftiere auch in den Betten von Erwachsenen. Auf der Sofakante alleinlebender Damen und Herren werden Teddys und Puppen aufgereiht und das nicht allein aus einer Leidenschaft für das Sammeln, sondern deren Anwesenheit wegen. Der Mensch braucht eben etwas, das ihn unentwegt anblickt und das er auch einmal herzen darf. Doch kann die Fantasie eines Furrys noch weiteres leisten: Er betrachtet die Bilder, auf denen sich ein Delphin beispielsweise an ein Fuchsmädchen schmiegt. Das sind dann keine Fotografien, eine solche Begegnung ist ja nicht möglich, die erotische Kunst der Furrys besteht oft aus den Buntstiftzeichnungen auf einem Papier. Ein habhafteres Miteinander des fantasierten Stoff-Ichs mit denen von anderen findet in den Chat-Räumen des Internets statt. Es ist ein Austausch, der ganz ohne Visualisierung auskommen muss, er findet wiederum allein in der Fantasie statt, man charakterisiert sich dort durch Angaben zur Tier-Mensch-Person: Ich bin ein Hase, der große Angst vor Bären hat, aber die Amseln liebt – und wer bist Du?

Also ein Spiel. Der Furry wünscht sich ein Fabelwesen zu sein, eine Spielart des Menschen, eine Tiergestalt, die ­– wie in den Fabeln von Aesop – diskutieren kann, lieben auch, begehren – sie denkt wie ein Mensch. Nicht ganz allerdings, denn das Denken des Furry-Wesens bezieht sich nicht auf Menschen, sondern bloß auf andere Furrys. Diese Unterscheidung ist wichtig, denn ansonsten wäre das Land der Furrys längst eine Spielwiese für Zoophile, also Menschen, die es nach dem sexuellen Kontakt zu den Tieren drängt.

Es gibt Überschneidungen der Gebiete von Furrys und Zoophilen, die allerdings von den Letztgenannten her betrieben werden. So dringen in die Chat-Räume der Furrys auch an dem Sex mit Tieren interessierte Zoophile. So stark scheint bei solchen der Wunsch nach der Intimität mit einem Tier zu sein, dass als ein Objekt hierfür auch der als Stofftier verkleidete Mitmensch genügt.

Die dunkle Seiten des Teddybären

Um sich in den abstrakten Texten der Chat-Räume möglichst genau darstellen zu können, verwenden Furrys einen ihre Fantasien beschreibenden Code, der sich aus mehreren Zeilen von Buchstaben und Zahlen zusammensetzt: Wer als Hase unterwegs ist, schreibt FLH, wer regelmäßig die Conventions besucht C++ und so fort. Ein ähnlich aufgebauter Code wird auch von den Zoophilen verwendet. Mit beiden Codes sind es Sprachen, die jeweilige und sehr spezielle Gefühlslagen auszudrücken versuchen. Ein PL3 innerhalb des Zoo-Codes bedeutet „Ich habe eine bescheidene Sammlung von Plüschtieren“, das dahinter gesetzte H besagt, das sich an zumindest einem davon „eine strategisch plazierte Höhle“ oder „ein strategisch plazierter Dildo“ befindet. Wer dazu noch ein P schreibt, gibt damit zu, sein Plüschtier überall mit sich herumzutragen - der Arbeitskollege mit dem Nashorn auf dem Schreibtisch erscheint nun in neuem Licht.

Die Übergriffe von Zoophilen auf Stofftiere und Furrys lassen sich mit dem strafrechtlichen Hintergrund erklären: Es ist strafbar, Bilder zu besitzen oder zu verbreiten, auf denen Menschen bei sexuellen Handlungen am Tier zu sehen sind. Es ist nicht strafbar, Bilder zu besitzen oder zu verbreiten, auf denen Menschen bei sexuellen Handlungen an Stofftieren oder an als Stofftier verkleideten Menschen zu sehen sind. Dieses fände sich unter dem Sammelbegriff der Pornographie – wo es doch eigentlich Fantasie heißen müßte. Das Wahrmachen ihrer Fantasien ist es, was den Furrys den Zulauf seitens der Zoophilen beschert. Der Furry macht sich als ein Zwischenwesen auf in ein Zwischenreich, es besteht an der Grenze zwischen dem Menschen und dem Tier. Wo es dem Furry als Mangel bewusst wird, dass er sich nur in den Texten des Chat-Raumes als Tier ausleben kann, bemächtigt sich der Zoophile genau dieser Vagheit der abstrakten Unterhaltungen und imaginiert sich dort unter die scheinbaren Tiere. Das Zwischenreich schillert. Beide Gruppen kommen dort nicht recht zum Zug.

Dein Teddy, ein besserer Mensch

Als die Rock-Band Sonic Youth 1992 ihr Album Dirty veröffentlichte, da waren in dem Beiheft der CD zwei Fotos des Künstlers Mike Kelley abgedruckt. Darauf sieht man einen nackten Mann und eine Frau, die auf einem großen Plüschhasen reiten, auch benutzen sie einen Teddy wie Toilettenpapier. Mike Kelley ist bekannt für seine Installationen, in denen er Stofftiere zu großen Ballen zusammennäht. Den Bären, Küken und Hasen wurde dabei durch die Gesichter und Körper gestochen – es schaudert einen bei dem Anblick. Kaspar Hauser besaß sein hölzernes Pferdchen, mit dem er sprechen konnte. Ein amerikanischer Hersteller hat inzwischen einen gesichtslosen Balg mit grünem Velourbezug entwickelt, dessen Innenleben sich bei Berührung sanft räkelt. Als Zielgruppe des „Umarmung“ genannten Motorkissens gelten vor allem Senioren, denn es hilft ja allein nichts, recht alt  werden zu dürfen, wenn man dabei vor allem einsam bleibt. Die Wehrlosigkeit der Stofftiere, die angesichts der Werke von Kelley ins Auge sticht, kann in anderer Situation als eine große Duldsamkeit erlebt werden; als Treue sogar. In größeren Notlagen kann ein Stofftier den einsam Leidenden Trost spenden: An Frauen, die während des Jugoslawienkrieges den Massenvergewaltigungen zum Opfer fielen, wurden Teddybären verteilt. Ein Stofftier stellt keine Fragen, dennoch steht es einem bei.

Es ist wohl mehr in den Furrys, als bloße Verspieltheit und überschießende Fantasie. Wer in Einsamkeit und mit dem Gefühl lebt, nicht verstanden zu werden, der erlebt die Kameradschaft seines Stofftieres zunächst als Treue und Verlässlichkeit, als einen Trost. Aber bei anhaltendem Gefühl wird es sich so ergeben, dass die Suche nach anderen Menschen ersetzt wird durch das Überwechseln des einsam sich Fühlenden auf die andere Seite, die nämlich der Stofftiere, die vorbehaltlos Liebe entgegenbringen können, die niemals lügen. Es reicht dann nicht aus, sich an ein Stofftier wenden zu dürfen. Man will das eigene, das menschliche Leiden beenden und fortan selbst ein solches Wesen sein.

Dieses Werden ist keine Flucht aus der Welt, die Furry-Szenarien spielen sich weitgehend auf dem Planeten Erde ab. Es ist eine Flucht aus dem Dasein, für die meisten der Furrys ist es damit aber auch eine, die nur in den Freistunden erlebt werden kann. Die Affinität der Furrys zum Internet entstand nicht allein durch dessen Angebot, weltweite Kontakte zu jeder Stunde möglich machen zu können. Es ist auch der Charakter des Computersystems, an sich bereits eine Art von neben draußen gelegener Welt zu sein. Den Furrys droht in dieser Welt keine Gefahr, den Zoophilen schon. Sie bewegen sich darin am Grenzsaum der Illegalität. Ein Furry trägt den Grenzsaum eher in sich. Das Zwischenreich, das er bevölkert, löst den Widerspruch zwischen dem Menschen und dem Tier. Es gibt eine Internetseite, darauf werden auf verschiedene Weise die Methoden erläutert, „sich in ein Pferd zu verwandeln“. Ein Absatz behandelt ganz nüchtern die Fortschritte der plastischen Chirurgie. Ebenso wird die Entdeckung des für den Haarwuchs verantwortlichen Genes vorgestellt – es wird also bald möglich sein, sich ein Fell wachsen zu lassen. Auch von der Zersägung und Neuausrichtung des Knochenbaues wird fabuliert. Ernst gemeint ist aber wohl vor allem der erste Satz: The human body is a surprisingly mutable object.

In den frühgeschichtlichen Darstellungen finden sich die Götter wiederkehrend als Zwischenwesen: Menschen mit Tierköpfen, Tiere mit Menschenköpfen, sprechende Wesen von unpräziser Gestalt. Die Ureinwohner Südamerikas flohen vor Cortez‘ reitenden Horden, da sie Pferd und Reiter jeweils als Einheit, als eine rasende Gottheit fürchten mussten. Bis es aber soweit ist, dass Menschen sich in eine Tiergestalt operieren lassen, verkörpert das  Zwischenwesen eines Furrys die angenehmen Seiten von Stofftier und Mensch: Intelligenz und Duldsamkeit. Sprache und Treue. Liebe und Kuscheligkeit. Daran sollte man denken, wenn ein riesiggroßer Duracell-Trommler sich nähert. So einem reicht man dann gerne die Hand.