Auf Cloud Nummer sieben

Reportage
erschienen am 23. Februar 2014 in Welt am Sonntag, S. 49
Auf der Konferenz „Wisdom 2.0“ in San Francisco sucht die digitale Welt nach Achtsamkeit, Mitgefühl und Gegenwart. Eine Reise ins Ich

Das Leben besteht aus Momenten, sagte der Amerikaner mit der sonnengegerbten Haut, seine Stimme klang ruhig und sachlich: Lasst uns sehen, ob wir in diesem hier versinken können. Die Geräusche erstarben im fensterlosen Tagungsraum des „San Francisco Marriott Marquis“, wo zweitausend Menschen auf cremefarbenen Polsterstühlen saßen oder auf dem verwirrend bunten Teppichboden lagerten.
Einer von ihnen war ich. Auf meinem Tabletcomputer notierte ich diese Eindrücke, und auf meinem Mobiltelefon, das gerade die App mit dem Programm der Konferenz Wisdom 2.0 herunterzuladen versuchte, trafen im Sekundentakt Mitteilungen über die Kosten des im Ausland verbrauchten Datenvolumens ein: 80, 100, 120 Euro. Das WiFi-Netzwerk in der Halle funktionierte nicht, und ich war nach vierzehnstündigem Flug, wegen starker Atlantikwinde verspätet, ohne Rast zum Eröffnungsvortrag gekommen - allerdings nicht ohne vorher festzustellen, dass ich mein Zimmer im falschen Hotel gebucht hatte, denn es gibt tatsächlich zwei „Marriotts“ in der Innenstadt von San Francisco.
Schon während ich vom falschen zum richtigen Hotel eilte, musste ich das Datenroaming aktivieren und den Routenplaner von Google Maps einschalten. Ich folgte den Pfeilen auf dem Bildschirm mit raschen Schritten, alle Flächen auf der geometrisch kürzesten Linie querend, achtlos vorbei an den Backsteinfassaden der alten Kaufhäuser und den treibhausgrünen Parks dieser fremden Stadt, die nach frischem, warmem Regen duftete. Ich kam dennoch zu spät, der Redner sprach seit mindestens einer Viertelstunde, und da ich die App nicht laden konnte, was im Hotelzimmer noch problemlos möglich gewesen wäre, wusste ich nicht, wer da sprach.
Fühlt den Moment, sagte der Mann, er mochte fünfzig oder siebzig sein, und seine Augen, in Großaufnahme auf den Bildschirmen links und rechts der Bühne zu sehen, schienen in eine unsichtbare Sonne zu blinzeln. Fühlt das Hier, das Jetzt. Wickelt das Tun ins Sein ein.
Ich saß hinten links, viel zu weit von der Bühne entfernt und unter einer Öffnung der Klimaanlage, aus der eiskalte Luft senkrecht nach unten strömte. Ich ärgerte mich über den Fehler mit der Hotelbuchung, spielte gedanklich verschiedene Maßnahmen durch und versuchte den Download des Tagungsprogramms abzubrechen, der absurd viel Geld verschlang und dennoch nicht vorankam. Die junge Frau neben mir, eine asiatische Amerikanerin, saß im Lotussitz auf ihrem Stuhl, hielt auf dem Schoß ein ledergebundenes Notizbuch in den Händen und hatte die Lider geschlossen. Ich schloss meine und spürte sofort den Sog einer tosenden Müdigkeit.
Es gibt nichts zu tun, sprach der Mann in die Stille hinein. Es gibt keinen Ort, um hinzugehen. Es gibt nichts zu gewinnen. Jetzt murmelte er: Nichts zu tun, kein Ort, nichts zu gewinnen. Nichts zu tun, kein Ort, nichts zu gewinnen.
Als ich hochschreckte, applaudierten die Leute im Stehen. Es waren sportliche Geeks mit schwarzen Kapuzenpullovern, das Apple-Logo auf der Schulter wies sie als Angestellte des Unternehmens in Cupertino aus, grauhaarige Frauen mit weiten, pastellfarbenen Kleidern, Geschäftsmänner mit braunen Cordsakkos und hellblauen Button-down-Hemden. In meiner Nähe standen ein junger Chasside mit Schläfenlocken und steifem Rock und ein kahl rasierter Kinnbartträger, der mit hocherhobenen Händen so frenetisch klatschte, dass er an Robert De Niro in „Taxi Driver“ erinnerte. Der Mann auf der Bühne, erfuhr ich von meiner Nachbarin, war Jon Kabat-Zinn, früher Professor für Molekularbiologie am MIT, jetzt Meister der Achtsamkeitsmeditation und Anführer jener „Mindful Revolution“, die das „Time“-Magazin Anfang Februar auf seinem Titelblatt ausrief.
Die Teilnehmer von Wisdom 2.0 hatten im Schnitt 700 Dollar dafür bezahlt, diese Schule der Achtsamkeit zu besuchen, aber das konnte nicht der Grund dafür sein, dass es nach jedem Vortrag stehende Ovationen gab. Auf den Visitenkarten, die ich mit nach Hause nahm, standen Titel wie President, Marketing Manager, Owner, Senior Consultant oder Executive Director. Es waren leitende Angestellte mit hohen Spesenkonten oder Unternehmensgründer aus dem Silicon Valley, die zwischen den Sitzungen rastafarbene Moleküle oder nackte Gottheiten an die Papierwände eines „Kunst-Inkubators“ aus Oakland malten. Sie suchten offenbar Zuflucht vor genau jener neuen Aufmerksamkeitsökonomie, deren Ingenieure, Geldgeber und Konsumenten sie doch waren.
Menschen müssen gesehen, getroffen und gehört werden. Das stand in riesigen Buchstaben auf dem Monitor, als Arturo Bejar seinen Vortrag hielt, in ultraviolettes Licht getaucht wie ein Zauberer in Las Vegas. Bejar ist der technische Leiter von Facebook, und er wiederholte die Wörter zum Einprägen oder Mitschreiben, als präsentiere er neue Erkenntnisse aus dem Forschungslabor des Unternehmens: Menschen müssen gesehen, getroffen und gehört werden.
In der Verbindungsübung nach dem Vortrag wurden alle aufgefordert, sich ihren Sitznachbarn zuzuwenden. Schenkt ihnen ein Lächeln, sagt ihnen etwas Nettes, fragt sie das, worauf ihr am neugierigsten seid!
Als Beobachter, der sich seine Notizen nicht für den Eigengebrauch machte, fühlte ich mich naturgemäß isoliert und scheute davor zurück, plötzlich in anspruchsvolle Partnerübungen hineinzugeraten. Aber es ließ sich nicht vermeiden. Ich zählte mit der Buchhalterin eines Venture-Kapitalgebers abwechselnd von eins bis drei, wobei jeder, der sich verzählte, lachend die Hand in der Luft schütteln musste, als habe er sich die Finger verbrannt: Wuhu! Dieser Aufruf in Kombination mit dieser Geste, so die weiblichen Pausenclowns, die auch Improvisationstheaterkurse auf den Campus von Twitter, Yelp oder Linkedin anbieten, sei der Shortcut für den Satz: Ich habe versagt!
Jetzt wollte ich Dinge regeln. Ich besorgte mir ein gedrucktes Programmheft und rief bei dem Buchungsportal an, über das ich mein Zimmer reserviert hatte. Das, so sagte man mir an der Rezeption, sei der einzige Weg, um vom falschen ins richtige „Marriott“ umziehen zu dürfen. Das Buchungsportal war in Amsterdam ansässig, wie ich an einem sehr langsamen Internetrechner in einer Abstellkammer des Hotels mühsam herausfand. Ich verbrachte 32 Minuten in der Warteschleife der Hotline und tigerte mit dem Telefon in der Hand durch die Lobby, bis sich in der entfernten Zeitzone ein freundlicher Mitarbeiter meldete. Samt dem Handy reichte ich ihn an die ebenfalls freundliche Rezeptionistin weiter, sodass beide sich darauf verständigen konnten, meinen physisch anwesenden Körper im Hier und Jetzt ins Tagungshotel einzuchecken.
Inzwischen kannte ich vor Müdigkeit kaum noch meinen Namen. Im Starbucks in der Eingangshalle sah ich einen Zenmönch in alabasterfarbenem Gewand auf seinen Kaffee starren. Ich kannte das Gesicht aus einem Zeitungsartikel über die letzte Wisdom-Konferenz, den ich im Flugzeug gelesen hatte: Es war Chade- Meng Tan, einer der dienstältesten Softwareentwickler von Google. Heute ist er dort für Motivation und Mitgefühl zuständig, er hat einen TED-Vortrag vor den Vereinten Nationen gehalten, sein Bestseller heißt „Search Inside Yourself“ und ahmt auf dem Cover die Optik der Suchmaschine nach.
Als ich vor Raum 3 stand, in dem eine Sitzung über „Digital Detox“ stattfinden sollte, waren die Türen verschlossen. Wegen des langsamen Internets und des Wartens in der Hotline war ich wieder verspätet, keine Bitten halfen, die Veranstaltung war überbucht. Ich ging also zur Hauptbühne zurück, wo Larry Rosen sprach, Psychologieprofessor an der California State University. 67 Prozent aller Teenager, so erklärte er, schauen öfter als alle fünfzehn Minuten auf ihr Telefon. Eine Studie mit Studenten habe ergeben, dass bei starken Nutzern, denen man ihr Smartphone für eine Stunde wegnimmt, schon nach zehn Minuten ein starkes Angstgefühl einsetzt, das sich im Verlauf steigert. Ich fühlte mich schlecht, doch auch die anderen im Publikum schauten immer wieder auf ihre schimmernden Touchscreens, viele twitterten unter dem Hashtag #wisdom2conf einzelne Aussprüche der Redner, manche fotografierten sogar ihre mit Zeichnungen ausgeschmückten Mitschriften und posteten die Bilder, ich konnte es in der App, die inzwischen installiert war, in Echtzeit verfolgen.
„The brain is always thinking“, stand nun groß auf den Monitoren: Das Gehirn denkt immer. Der Psychologe empfahl deshalb, es alle zwei Stunden für fünf bis zehn Minuten herunterzufahren, durch ein Gespräch zum Beispiel, ein Bad, einen Mittagsschlaf oder eine Meditation, das stärke Impulskontrolle und Konzentrationsfähigkeit. Loïc Le Meur, ein Internetunternehmer, Blogger und ehemaliger Berater von Nicolas Sarkozy, belegte die These mit seiner Bekehrungsgeschichte: Fünf Start-ups habe er gegründet und verkauft, in zwanzig Geschäfte investiert, fünfzehntausend Tweets auf Facebook abgesetzt, als einer der Ersten die Google-Glass-Brille getragen. „Mein Hirn“, bekannte er dann, „brauchte eine Pause.“ Seit er meditiere, könne er wieder auf ein Flugzeug warten, ohne sich zu langweilen. Er könne auch negative Gefühle zulassen, Schuld oder Scham zum Beispiel, und sie wie Wolken betrachten, die am Himmel vorüberziehen.
Ich versuchte, mir das Chaos aus unangenehmen Nebengedanken, das sich im Verlauf dieses ersten Konferenztages zusammengeballt hatte, wie eine Wolke vorzustellen und diese durch meinen Geist ziehen zu lassen, aber dann war es doch eher so, dass mich die elektrisch geladene Wolke bis hinaus auf den Bürgersteig vor dem Hotel begleitete, wo ich vergeblich ein reguläres Taxi zu stoppen versuchte, es war Freitagabend. Der Portier besorgte mir schließlich mit der neuen App Uber einen tiefschwarzen Geländewagen, in dessen Fond es nach Marihuana roch.
In San Francisco sind in letzter Zeit viele Anwendungen entstanden, die Dinge des täglichen Lebens neu organisieren: Verkehr, Gesundheit, Wohnen. Der Berliner Freund, mit dem ich verabredet war, arbeitet bei Airbnb, einem Marktplatz für Untervermietungen, der sich zu einer sehr erfolgreichen Alternative zum Hotelgewerbe entwickelt hat, mit mehr Seele und mehr Authentizität.
Auch die jungen und bestens ausgebildeten Mitarbeiter von Airbnb - so erzählte mir der Freund beim Abendessen im Barbecue-Restaurant, er hat für jedes Essen einen Gutschein über 75 Dollar - wohnen auf Firmenkosten zur Untermiete, wenn sie für ein paar Wochen im Jahr in der Zentrale arbeiten. Einmal im Monat verrichtet das Team Sozialarbeit und räumt zum Beispiel einen städtischen Park auf. Zur Unternehmensphilosophie gehört eine Vorstellung vom Gemeinwesen, wie es sich in der Lebenswirklichkeit manifestiert.
Am nächsten Tag stand Arianna Huffington auf der Bühne, die Gründerin der „Huffington Post“. Atmen Sie alle Sorgen und unangenehmen Gedanken aus, sagte sie in ihrem griechischen Einwandererenglisch, schließen Sie die Augen. Dass Huffington selbst für zwanzig Sekunden mit geschlossenen Augen auf der Bühne stand, bemerkte ich nur, weil ich zu schnell wieder hinsah und meinen Blick durch den im Kollektiv erblindeten Saal schweifen lassen konnte.
Huffington sprach davon, dass sich zuletzt viele einflussreiche Unternehmer und Stars zur Meditation bekannt haben. Eine Coming-out-Bewegung, so nannte sie es, und sie sprach als ihre Anführerin. Rupert Murdoch sei dabei und Jerry Seinfeld, auf dem Weltwirtschaftsforum in Davos habe es 27 Sektionen zum Thema Achtsamkeit gegeben.
Sie selbst, so Huffington, sei früher erfolgreich, aber unglücklich gewesen. Alles sei falsch gewesen mit der Art, wie sie lebte. Seit sie die Achtsamkeit entdeckt habe, schlafe sie 7 bis 8 Stunden, lese echte Bücher und unterstreiche darin Sätze, schalte ihr Telefon ab und schaue sich keine Fernsehnachrichten mehr an - obwohl sie ein Nachrichtenunternehmen führe, das 24 Stunden am Tag Nachrichten produziere. Das sei kein Widerspruch, sagte danach Jon Kabat-Zinn, der dieses Jahr mit Arianna Huffington in Davos eingeladen war. Sie seien eben nicht im Nachrichtengeschäft, sondern im Weisheitsgeschäft.
In welchem Geschäft bin ich unterwegs, fragte ich mich bei der nächsten Meditation, was suche ich hier? Und warum tut mein Geist die ganze Zeit das, was er nach der Lehre der Achtsamkeit unterlassen sollte: urteilen? Bin ich wirklich nach San Francisco gereist, um eine zynische Geschichte mitzubringen über eine Bewusstseinsindustrie, die so tut, als könnte sie die von ihr selbst erschaffenen Paradoxien durch Schließen der Augen zum Verschwinden bringen?
„Das digitale Jetzt“, so hieß ein Vortrag, den die indische Autorin Abha Dawesar am Morgen des dritten Tages hielt. Trotz Jetlag war ich früh aufgestanden und hatte das Frühstück ausfallen lassen, um ihn nicht zu verpassen. Ich habe gerade ein Croissant in der Morgensonne gefrühstückt, sagte die junge Frau auf der Bühne, da kam ein Vogel geflogen und pickte nach den Brosamen. Der Saal dämmerte im Neonlicht vor sich hin, die Monitore vergrößerten die Augen, die Nase und die Lippen der Sprecherin ins Riesenhafte, und ich ging nach draußen, wo das Sonnenlicht die Bürgersteige aufleuchten ließ und im Schatten die Zeit stillzustehen schien.