Mrs Gonzo

Portrait
zuerst erschienen im Juli 2007 in Vanity Fair, S. 118-123
Ihr Mann schluckte Drogen, schoss wie ein Wilder und schrieb wie der Teufel. Mit einer 45er Magnum machte er vor zwei Jahren Schluss, und Johnny Depp feuerte seine Asche ins All. Jetzt wäre Hunter S. Thompson 70 geworden. Zeit für einen Besuch bei seiner Witwe Anita

Am Ende haben wir dann doch nicht geschossen. Nachdem wir zwei Chivas Regal mit Wasser getrunken hatten, fiel Anita Thompson (34), der Witwe des Schriftstellers und Journalisten Hunter S. Thompson, die Kombination für den Safe nicht mehr ein.

Im großen Safe lagern noch die silbernen Magnum-Revolver und kurzläufigen Flinten, mit denen Thompson seine Owl Farm in Woody Creek, Colorado, gegen Eindringlinge und insbesondere Reporter verteidigte - wenn er nicht gerade im Garten auf Gasflaschen feuerte. So wie einst die ersten Siedler, die sich auf dem Weg nach Westen in den Rocky Mountains niederließen und hinter ihren Hütten auf Blechbüchsen zielten.

Anita Thompson mochte keine Waffen, als sie 1997 zum ersten Mal mit einem guten Freund auf die Owl Farm kam. Sie mochte Pulverschnee, und sie mochte Partys. Als abenteuerlustiges Mädchen von Anfang 20 hatte sie ihr Studium in Los Angeles abgebrochen, um in Aspen zwei Jahre lang Snowboard zu fahren und sich im schneefreien Sommer als Kindermädchen über Wasser zu halten.

Den damals 60-jährigen Mann mit Glatze, der in seiner „Kommandozentrale“, auf einem Hocker an der Küchenbar, saß und ihr vor dem Fernseher erklärte, was ein Touchdown ist, kannte sie nicht. „Aber ich mochte seine Stimme“, sagt die Frau, die damals noch Anita Bejmuk hieß. Vom „Gonzo-Journalismus“ (gonzo = verrückt), jener radikal subjektiven, grenzgängerischen Form des Journalismus, die Hunter S. Thompson 1966 mit der grandiosen Reportage „Heils Angels“ erfand, wusste sie nichts. Nicht einmal die Verfilmung seiner Drogenerzählung „Fear and Loathing in Las Vegas“ mit Johnny Depp in der Hauptrolle hatte sie gesehen. „Ich war ganz schön naiv“, sagt die elegante Blondine, deren hohe Wangenknochen die osteuropäische Abstammung verraten. Sie sagt es in gedehntem Colorado-Slang, halb belustigt. Als spräche sie über eine andere Frau.

In den sieben Jahren, die Anita mit Hunter S. Thompson verbrachte - erst als Assistentin, dann als Freundin und noch später als zweite Ehefrau -, verschwand die Naivität. Sie lernte alles über Football und Drogen, sie lernte sehr viel über das Schreiben - und sie lernte, großkalibrige Waffen zu lieben.

Aber an diesem sonnigen Abend kann Anita Thompson den Safe nicht öffnen -obwohl sie zum ersten Mal seit Langem wieder Lust verspürt, schießen zu gehen auf dem grasigen Grundstück, das sich hinterm Haus den Hang hinaufzieht bis zu den roten Sandsteinklippen. Später öffnet sie, in einem Anflug von Übermut, die Schublade von Hunters altem Arbeitsplatz in der Küche. Darin liegen noch Teile des Nachlasses: ein Klumpen Haschisch, ein Plastikbeutel mit 30 Jahre altem Meskalin, eine 9-Millimeter-Pistole. Anita nimmt die Waffe heraus, wiegt sie in der Hand und wird auf einen Schlag nachdenklich. „Ich bin noch nicht bereit“ sagt sie nach kurzem Zögern. „Es ist, als ob Hunter uns dabei zuschaut. Er will nicht, dass wir das jetzt tun.“

[121] An genau diesem Platz, am 20. Februar 2005, um 17.42 Uhr, jagte sich Hunter S. Thompson mit einer 45er Magnum eine Kugel durch den Kopf. Anita Thompson befand sich im Fitnessstudio, unten in Aspen - eine der raren Auszeiten, die das Leben auf der Owl Farm zuließ. Denn Anita Thompson sah ihre Aufgabe darin, ihren Mann, der in den 80er- und 90er-Jahren kaum etwas zu Papier brachte, wieder zum Schreiben zu bringen. Sie erledigte diesen Job sehr gut. „Ich war die Schreibpolizei“, sagt sie ganz abgeklärt. „Jeder braucht eine Schreibpolizei.“

An Anitas Seite trat Hunter S. Thomp­son, der zuvor ein Dasein als lebende Le­gende gefristet hatte, wieder als Autor in Erscheinung - nicht zuletzt mit den aus zynischem Witz und politischer Wut ge­speisten Kolumnen für die Internetseiten des Sportsenders ESPN.

Vor dem Selbstmord rief Anita Thompson ihren Mann an. Er saß an seiner Kolumne und hatte wie immer Pro­bleme. Es war, wie sie sagt, ein liebevolles Gespräch. Plötzlich legte er den Hörer auf den Tisch. Sie hörte ein metallisches Klacken in der Leitung - und dachte, es sei die elektrische Schreibmaschine, auf der Hunter S. Thompson auch im Computer­zeitalter schrieb. Ein paar Stunden später wusste sie: Es war der Revolver.

Hunter S. Thompson tat es Ernest He­mingway nach, dessen Zufluchtsort in Idahos Bergen er 1964, wenige Jahre nach Hemingways Suizid, als Reporter für den [122] Gonzo bedeutet hat, reicht es nicht, ein rotes Cabrio zu mieten und den Kofferraum mit Drogen vollzupacken. Der Roman „Fear and Loathing in Las Vegas“, dessen Helden einen solchen Mietwagen benutzen, handelt vielmehr davon, den amerikanischen Traum selbst in seinen psychedelischen Brechungen zu suchen.

Gerade hat Anita Thompson ihr Buch „The Gonzo Way“ beendet, das im August in Amerika erscheint - eine Fibel, in der sie die Philosophie ihres Mannes zusammenfasst. Sie stellt ihn neben den Beat-Literaten Jack Kerouac: Beide waren einem uramerikanischen Freiheitsbegriff verpflichtet. Der krasse Lebensstil ist eine Form, diesen Freiheitsdrang auszuleben - er stellt aber nicht sein Wesen dar.

So beschäftigte sich Hunter S. Thompson viel mit Thomas Jefferson, dem Vater der Unabhängigkeitserklärung, der auch eine Fassung der Bibel erstellte. „Jefferson schnitt aus dem Leben Jesu die Wunder heraus und ließ die Lehren stehen“, erklärt die Witwe. Hat sie mit Hunter S. Thompsons Leben Ähnliches vor?

„Das ist ein guter Gedanke. Die Horrortrips in Las Vegas und all das, das sind Wunder. Obwohl sie tatsächlich geschehen sind. Die zweite Hälfte des Heils-Angels-Buchs schrieb Hunter 1966 innerhalb von vier Tagen in einem Hotelzimmer, nur mit Wild Turkey und Dexedrin.“

Natürlich will Anita Thompson, indem sie die spirituelle Seite betont, keinen Zenmönch aus Hunter S. Thompson machen - dafür kennt sie die Versuchungen des Lebens zu gut. Sie selbst hörte fast ganz mit den Drogen auf - 2003, als sie heiratete: „Einer von uns musste nüchtern sein. Sonst hätte es nie funktioniert.“

So sorgte Anita dafür, dass Hunter seine produktiven Stunden am frühen Morgen nutzte - und warf um Mitternacht die Gäste aus dem Haus, die täglich zum Fernsehen, Diskutieren und Kiffen vorbeikamen. Hunter selbst konnte keine Party beenden. Er liebte Gesellschaft.

„Er war ein wandelnder Magnet. Er zog jeden an, sogar Leute, die keine Ahnung hatten, wer er war. Also konnte er nur schreiben, wenn die anderen schliefen.“

Hunter S. Thompson hatte nicht nur glamouröse Freunde wie den Schauspieler Johnny Depp, der im Keller eine Gästekammer hatte und der ihm seinen letzten

Wunsch erfüllte: Mit einer Rakete schoss er die Asche des Autors in die Atmosphäre. Es gab auch Typen, die nur zum Abhängen vorbeikamen. „Hunter hasste Trunkenbolde, die sich zum Deppen machen. Er setzte Drogen wie Werkzeuge ein. Sein Körper war ein Reagenzglas.“

Natürlich war es nicht immer eine dankbare Aufgabe, Hunter S. Thompsons vernünftigen Gegenpart zu übernehmen. Kämpfe gehörten zum Alltag. Aber Anita Thompson ist eine starke Persönlichkeit. Selbst die ständigen Flirts ihres Mannes nahm sie gelassen. „Das war okay, solange er loyal blieb. Es machte ihm Spaß und ließ ihn sich jung fühlen.“ Man spürt, dass sie seine kindische Seite durchschaute. „Immer, wenn ich ein hübsches Mädchen entdeckte, das smart aussah, wollte ich sie als Aushilfe engagieren.“

Am Ende zeigt mir Anita Thompson den bunkerhaften Keller, den so genannten „War Room“, wo vor 35 Jahren „Fear and Loathing in Las Vegas“ entstand. Der Raum war für Gäste tabu. Er sieht aus wie ein Hobbykeller, die Regale hat der Hausherr selbst gebaut. An den Wänden hängen alte Pin-ups, in den

Schränken stapeln sich Kassetten, die Thompson als junger Reporter besprach – auf einer redet er mit zugedröhnten Heils Angels über eine Massenvergewaltigung, während eine Frau den Hippiesong „Donna, Donna“ singt und Thompson sagt: „Es ist für mein Buch, mein erstes.“

In den letzten Jahren schrieb Hunter S. Thompson nicht mehr im Keller, nur noch in der Küche. Er hatte Rückenprobleme und saß zuletzt im Rollstuhl. Das war wohl ein Motiv für den Selbstmord - neben dem Ärger über das politische Klima in den Staaten, das seiner Vorstellung von Individualismus strikt widersprach.

Nach dem Selbstmord erlebte Anita Thompson, damals 32, ein düsteres Jahr. „Fünf Jahre lang war ich wie die Venus, die um die Sonne kreist. Eines Tages wachte ich auf und merkte: Oh, die Sonne ist nicht mehr da.“ Heute strahlt sie selbst, wirkt ausgeglichen. „Hunter würde dir nur einen Rat mit auf den Weg geben: Wenn du ein junger Schreiber bist, pass auf deine Wirbelsäule auf. Die Wirbelsäule ist alles.“ Beim nächsten Besuch, verspricht sie, werden wir schießen.