Im Freiraum des Schweigens

von 
Reportage
zuerst erschienen am 19. Oktober 2014 in Welt am Sonntag, S. 49-50
Das koreanische Kino ist zurzeit das beste der Welt - ein Rätsel, das sich nur in seiner Heimat lösen lässt. Ein Besuch auf dem Filmfest in Busan

Ich sitze am Fenster meines Love Motels in Haeundae, dem Strandviertel von Busan in Südkorea, lausche auf etwas, das wie Brandung klingt, trinke langsam eine 0,33-Liter-Flasche Soju, einen milden Reisschnaps, den sich die Leute möglichst gegenseitig einschenken, und denke, ich bin ein Idiot. Nicht nur, weil ich in der Brandung auch etwas früher das Rauschen von Lamettafetzen im Wind hätte erkennen können, fransigen Wimpeln, die draußen flatternd auf das „Wa“ hinweisen, wo sich obdachlose Liebende für ein paar Stunden einmieten oder Budget-Reisende für einige Tage. Die Zimmer sind billig und eindrucksvoll ausgestattet, mit Whirlpool, Gleitcreme, zwei Computern, Rotlicht und Decken ohne Bezug, aber so dünn und fest, dass sie täglicher Wäsche standhalten mögen.

„Der Idiot“, schreibt der Philosoph By-ung-Chul Han, „ist seinem Wesen nach der Unverbundene, der Nichtvernetzte, der Nichtinformierte. Er bewohnt das unvordenkliche Draußen, das sich jeder Kommunikation und Vernetzung entzieht.“ So geht es mir seit Tagen. Schon am Flughafen von Seoul war es mit dem Sprechen vorbei, als hätte ich mir selbst die Zunge abgeschnitten, wie Choi Min-sik im Film „Oldboy“, Park Chan-wooks düsterem Meisterwerk von 2003, dem eigentlichen Grund, warum ich hier bin.

Die Koreaner machen zurzeit das beste Kino der Welt. Am Anfang konnte ich es gar nicht glauben. Aber noch der zehnte Film, den ich sah, hatte dieselbe Kraft - Zielstrebigkeit, Zweifel, Härte, Liebe, keine Spur von Eitelkeit, der Stil schnörkellos, Ausdruck ohne Umschweife, die flinke Eleganz der Nouvelle Vague und die brutale Direktheit amerikanischer Thriller der Siebziger. Dazu eine Perfektion der Bilder und des Schnitts wie bei David Fincher oder Martin Scorsese. Ich wollte herkommen, um es mit eigenen Augen zu sehen. Jeden Oktober findet das Busan International Film Festival statt, das wichtigste auf dem asiatischen Kontinent. Wenn das koreanische Kino ein Rätsel ist, lässt es sich vielleicht in seiner Heimat lösen.

„Toilet available“ stand über den Schiebetüren im Expresszug vom Flughafen nach Seoul. Die zum platten Dutt gezwirbelten Haare der püppchenhaften Schaffnerin zitterten keinen Millimeter, als sie auf die Frage, ob sie Englisch spreche, den Kopf schüttelte. Koreanische Transportbedienstete, das war auch schon auf dem Flug mit Asiana Air so, tragen Uniformen, wie man sie von Pan-Am-Plakaten der Fünfzigerjahre kennt: enge, figurbetonende Kostüme, Ton in Ton, mitunter mit Hütchen. Auf der Fahrt nach Busan im Südosten des Landes im KTX, einem Hochgeschwindigkeitszug, der mit 350 km/h durch die Hügellandschaft saust, vorbei an Reisfeldern und Atomkraftwerken, gab ich das Sprechen allmählich auf.

Ich wusste es noch nicht, aber in den nächsten Tagen würde ich immer stiller werden, mich morgens in der Sauna, die auch zum Zimmer gehört, manchmal beim Selbstgespräch ertappen, und mir bald auch das abgewöhnen. Am letzten Tag meiner Reise würde ich mit dem Bus zum Tempel Haedong Yonggungsa gelangen - nur, weil eine freundliche Frau mit Downsyndrom Zeichen machte; sie hatte mein Ziel erraten. Haedong Yonggungsa, seit 800 Jahren einer launischen Meeresgottheit geweiht, liegt am östlichsten Punkt des Landes. Als Nächstes kommt Japan. Die Gischt sprüht über die Klippen auf den goldenen Buddha und zwei grinsende Goldschweine. Ich hätte leicht ein Mönch mit Schweigegelübde sein können.

Der Philosoph Byung-Chul Han ist vor Jahrzehnten in die andere Richtung gereist. Aus Seoul, wo er Metallurgie studierte, nach Deutschland, um sich für Philosophie und katholische Theologie einzuschreiben. Inzwischen ist er Professor in Berlin, wo er darüber nachdenkt, was der globale Kapitalismus mit den Menschen macht. Ich will mir hier nur ein paar Filme ansehen. Wie „Oldboy“, in dem ein Mann von der Straße entführt und siebzehn Jahre in einem Hotelzimmer festgehalten wird, ohne dass er weiß, wieso. Später zerkaut er einen zuckenden Oktopus. Seine Augen sind so tot wie das Tier lebendig. Im Todeskampf suchen die Tentakel Halt auf den müden Wangen des Mannes. Kurz darauf wird er mit seiner Tochter schlafen.

Oder „Memories of Murder“ von Bong Joon-ho, in dem zwei vertrottelte Polizisten einen Killer immer wieder verpassen, der, wenn es regnet und im Radio ein trauriges Lied läuft, schöne Frauen mordet. Oder Kim Ki-duks „Bin Jip“, in dem ein Junge in Wohnungen einbricht, um dort die Nacht zu verbringen. Bis er ein Mädchen trifft, das seinen Ehemann nicht liebt, und es mitnimmt. Er spielt Golf am Draht, dann reißt der Draht, der Ball durchschlägt eine Windschutzscheibe, zerschmettert einer Frau den Kopf. Ein Mann liegt tot in seiner Wohnung, der Junge kann nichts dafür, muss trotzdem ins Gefängnis, wo er lernt, sich unsichtbar zu machen. „Beim Filmemachen“, wird Kim Ki-duk später erzählen, in einer Fragerunde auf dem Festival, „lasse ich mich immer davon inspirieren, wie warm oder wie kalt die Gesellschaft ist, in der wir leben.“

Jetzt, in meinem „Love Motel“, wo nur die Wimpel flattern, Taxis rattern und die Nacht elektrisch sirrt, überlege ich, ob der Junge und das Mädchen in „Bin Jip“ auch nur ein einziges Wort wechseln. Ich glaube nicht. Was für ein faszinierender Film. Wie ein Abgrund, der sich nicht ausloten lässt. Man wirft seine Fragen hinein und, sosehr man die Ohren spitzt, hört sie nie auf einen Grund schlagen. Ob Byung-Chul Han Deutschland am Anfang so fremd war wie mir Korea? Ob er sich damals wie ein Idiot gefühlt hat?

Unten die Rezeption ist eine Wand mit Werbung. Der Schlüssel wird einem durch ein kleines Loch zugeschoben. Ist das noch Diskretion oder die nächste Stufe der Kommunikationsverweigerung? Am Strand, ein paar Straßen weiter, vorbei an Straßengrills und fluoreszierenden Love Motels, lassen sich flüsternde Pärchen im Partnerlook über die Promenade treiben, flankiert von trüb glimmernden Luxushotels, dem „Novotel Ambassador“, dem „Pale de CZ“, dem „Haeundae Glory“. Auf der anderen Seite das Lamettaglitzern des Meeres. Es scheint Brauch unter den Pärchen, sich hinter die künstliche Dünung zu verziehen und Feuerwerk in die Dunkelheit über der Brandung zu jagen. In der Luft summt eine Drohne. Wenn ich die Augen zusammenkneife, erkenne ich die darauf installierte Kamera.

„Der Idiot“, schreibt Han, „kommuniziert nicht. Ja er kommuniziert mit dem Nicht-Kommunizierbaren. So hüllt er sich ins Schweigen. Der Idiotismus errichtet Freiräume des Schweigens, der Stille und der Einsamkeit, in denen es möglich ist, etwas zu sagen, das es wirklich verdient, gesagt zu werden.“

Was ist ein solcher Freiraum des Schweigens, der (eigenen) Stille und der Einsamkeit, in dem möglichst Wesentliches gesagt wird, wenn nicht das Kino? Ich sitze viel darin in diesen Tagen. Die Kinos umzingeln das Busan Cinema Center, eine futuristische Riesenwelle, entworfen vom Architekturbüro Coop Himmelblau, das in Frankfurt vor Kurzem die neue Europäische Zentralbank fertiggestellt hat. Die Kinos heißen Lotte Cinema Center, Megabox Haeundae, CGV [50] Centum City oder Community Cen­ter. Den Verkehr zwischen ihnen re­geln Polizisten mit Leuchtstäben. Auf den ersten Blick sehen sie wie Schlag­stöcke aus.

Der erste Film, den ich sehe, ist „Wild Flowers“, das Debüt des jungen Regisseurs Park Suk-young. Drei jun­ge Mädchen hetzen durch Seoul, Ruß im Gesicht, in abgerissenen Winterja­cken. Sie geraten an einen Zuhälter, reißen aus, träumen von einem Glück, das so wackelig ist wie die Kamera. Dazu ein taubstummer Elektriker und ein Gangster, der sich verliebt. Der Film ist ein Etüdentriumph, groß in seiner Bescheidenheit. Draußen vor dem Kino steht der Regisseur mit dem traurigsten der Mädchen. Es sieht immer noch nicht froh aus. Park spricht ein paar Brocken Englisch, das Mädchen nickt eifrig, ich bin auch schon ganz aus der Übung.

Wo das Zwielicht endet, beginnt das Einkaufen. Das Cine de Chef, in dem man auch vorzüglich essen kann, wie eine Karte anpreist, liegt im fünf­ten Stock des Shinsegae Centum City Department Store, den das Guinness­buch als größten Shoppingkomplex der Welt führt. Neben zahllosen Ge­schäften, Hermes, Michael Kors et ce­tera, gibt es auch eine Eislaufbahn, ei­ne Golf Driving Range, eine Kunstga­lerie und knapp 20 Kinosäle. Im größ­ten, genannt Starium, sehe ich später „The Pirates“, einen koreanischen Blockbuster, der davon handelt, dass ein kaiserliches Siegel auf dem Weg von China nach Joseon, in einen Vor­gängerstaat des heutigen Korea, von einem Wal verschluckt wird. Es ist wie „Pirates of the Caribbean“, nur mit mehr Geschichtsbewusstsein.

Auch der andere koreanische Blockbuster des Jahres, „Roaring Currents“ mit „Oldboy“-Darsteller Choi Min-sik, der Gravitas ausstrahlt wie der späte Marlon Brando, erzählt ei­nen Gründungsmythos des Landes. Im späten sechzehnten Jahrhundert schlug Admiral Yi Sun-sin - erst kurz zuvor der Folter entkommen, weil man ihn für einen Doppelagenten hielt - die japanischen Invasoren in die Flucht. Es ist die asiatische Vari­ante der Thermopylen-Schlacht. Yi verfügte wegen Unfähigkeit seiner Vorgänger nur noch über ein Dutzend Schiffe. Er empfing die japanische Flotte von über 300 bei Myeongny-ang, einer tückischen Meerenge voller Strudel und Strömungswechsel. Dank seinem taktischen Genie versenkte er ohne Verlust knapp vierzig gegneri­sche Schiffe. Die Japaner flohen. Wä­ren sie durchgekommen, daran lässt Kim Han-mins Epos keinen Zweifel, wäre die Hauptstadt gefallen. Die Bilder sind erhaben, der Patriotismus ist bombastisch. Im Sommer haben „Ro­aring Currents“ siebzehn Millionen Koreaner gesehen, als erste einheimi­sche Produktion hat er allein zu Hau­se über 100 Millionen Dollar einge­spielt. In Deutschland gibt es noch keinen Verleih.

Auch Choi Min-siks Admiral Yi ist schweigsam. Er spricht durch das Leid in seinen Augen. Es ist eine kol­lektive Traurigkeit, die am wenigsten ihm selbst gilt. Es ist, als schaue er aus einer weit entfernten Zukunft auf die eigene Gegenwart zurück, unge­fähr so wie der Zuschauer, der sich jetzt dieses ultrarealistische Spekta­kel ansieht. Später am Tag treffe ich den großen koreanischen Regisseur Park Chan-wook im 30. Stock des „Park Hyatt Hotels“. Er zieht eine di­gitale Leica aus der Tasche und foto­grafiert die Silhouette der Skyline in der untergehenden Sonne. Er möchte wissen, wo Wetzlar liegt. Wir kom­munizieren über einen Dolmetscher. Er erzählt vom Fährunglück im Früh­jahr, als mehr als 300 Menschen star­ben, meist Kinder. Die Politik, sagt er - angeführt von Präsidentin Park Geun-ye, deren Vater, der Diktator Park Chungee, 1979 vom eigenen Ge­heimdienstchef erschossen wurde -, habe ein Schweigegebot erlassen. Auf dem Festival läuft die Dokumentati­on „The Truth Shall not Sink with Se-wol“ von Lee Sang-ho. Darin sieht man einen Tauchunternehmer mit seiner Taucherglocke jenen Schülern zu Hilfe kommen, die in Luftblasen überlebt haben. Die Behörden sabo­tierten die Aktion, in den Medien hieß es, er störe die Bergung. Ich be­komme keine Karte, schon voll, heißt es. Später berichten Zuschauer, das Kino sei halb leer gewesen.

„Wir sind zu schnell in die Moderne vorgestoßen“, sagt Park, und sieht zu Boden. „Die Traditionen sind über­formt.“ Tatsächlich wirkt Busan von hier oben wie ein Traum aus Beton. Die Garküchen, die Fischmärkte, wo ver­witterte Frauen unablässig Aale zer­schneiden, deren Einzelteile noch lange zucken wie die Oktopus-Tentakel in „Oldboy“, liegen unsichtbar im Schat­ten von hundert Hochhäusern. „Der Kapitalismus ist den Menschen im Westen wesentlich“, sagt Park. „Sie ha­ben ihn hervorgebracht. Dem asiati­schen Wesen ist er übergestülpt. Des­halb sind wir innerlich zerrissen, nicht nur äußerlich wie die Europäer. Das zeigen unsere Filme.“

Ich sitze im „Love Motel Wa“, trin­ke Soju und lese Byung-Chul Han, der über den Idioten schreibt, aber ge­nauso gut das Kino meinen könnte: „Der Idiot ist kein Subjekt. Eher eine Blumenexistenz: einfache Öffnung zum Licht.“