Es glänzt und schmeckt nach Eiscreme

von 
Kurzgeschichte
zuerst erschienen am 30. Oktober 2015 auf dem Zeit-Online-Blog „10 nach 8“
Wir sehen die Welt durch unsere Smartphones. Wir brauchen Strom und Wifi. Wir fühlen uns nicht aufgehoben, aber verknüpft. Wir fühlen diesen Grundschmerz des Lebens.

Ich sitze im Großraum-Abteil des ICE von Berlin nach Frankfurt. Ein Mann im anthrazitfarbenen Polyester-Anzug packt eine doppelbändige Arno-Schmidt-Ausgabe aus einer dünnen Zellophanfolie. Er schaut kurz hinein und steckt die Bücher dann wieder in den Pappschuber. Ein jüngerer Mann auf der anderen Seite des Tisches, der eine Eastpak-Bauchtasche trägt, empfiehlt seinem Sitznachbarn ein portables iPhone-Aufladegerät. Er schließt sein Handy an den kleinen schwarzen Block und legt ihn demonstrativ auf den Tisch, obwohl es Steckdosen gibt unter den Sitzen.

Da ich meine AirBnb-Gastgeber nach der Ankunft nicht erreiche, verstaue ich meinen Koffer in einem Schließfach und gehe in ein Restaurant namens Thai Fun im
Bahnhofsviertel. Am Fenster steht „100 Prozent Halal“. Ich nehme Platz zwischen einem älteren Mann mit einem sehr langen grauen Bart, der weite dunkle Beinkleider trägt und ein weißes Baumwolltuch um den Kopf geschlungen hat. Er ist sehr vertieft in sein Smartphone. Auf der anderen Seite des Tisches sitzt ein weiterer alleinreisender Herr mit altmodischer Physiognomie, in dunkelblauem Goldknopf-Jackett. Er bekommt gerade sein Thai-Curry serviert. Als er mein Lächeln aufschnappt, fragt er: „Möchten Sie probieren?“ Ich verneine. Und frage, ob er aus der Schweiz komme. Ja. Das könne man ja leider nicht
verbergen. Ob er geschäftlich hier sei, frage ich weiter. „Sozusagen… Ich bin Berater für Scientology.“ Ich fühle mich, als hätte ich einen sanften Elektroschock bekommen und bestelle die gebratenen Garnelen, die bestimmt aus einer ganz miesen Aquakultur kommen.
Auch er grinst jetzt über seinem Smartphone und reicht es zu mir rüber: Ein dickes blasses Mädchen ist darauf zu sehen. „Meine Enkelin! Süß, oder?“
Ich schlage den Spiegel auf: ein Artikel von Navid Kermani über die neue Weichheit Deutschlands, die sich wie „Puderzucker“ anfühle. Ich blättere durch das Süddeutsche Magazin, das anscheinend zur existenziellen Beruhigung des Menschen erfunden wurde.
Es beinhaltet Möglichkeiten zu Charity, eine Story über die Aufzucht alter Tomatensorten in Frankreich, ein Rezept für geschmorte Rinderroulade und eine Glosse darüber, wie die Ausländer die Deutschen sehen. Axel Hacke mokiert sich über neue Moden in der Hygiene-Industrie, um das traditionelle Bild der bürgerlich-intellektuellen Familie zu untermauern.
„Also, ich finde den Zustrom der Flüchtlinge ja schon bedrohlich für euer Land“, sagt der Schweizer. Er grinst wieder verschwörerisch. „Aber das würde ich hier niemandem öffentlich mitteilen.“ Er zeigt wieder auf sein Curry, um mich daran teilhaben zu lassen. Ich schüttele den Kopf.
Bei Thai Fun sieht es aus, wie es überall aussieht. Weiße Lacktische, mit hellgrünem Kunstleder bezogene Bänke und Energiesparlampen , die von weißem milchigen Plastik umschirmt werden. Die Welt fächert sich woanders auf. Sie differenziert sich eher auf den Smartphones meiner Nachbarn.
Wenn ich in einer fremden Stadt ankomme, gehe ich als erstes zu Starbucks, wegen Wifi und prognostizierbarem Kaffee. In meinem Computer ändert sich ja ständig alles, das reicht mir. Tauche ich in meinen Laptop, bin ich frei. Mit Easyjet-Flug 4711 wieder in ein fremdes AirBnb, in dem aber auch die gleichen Ikea-Möbel wie in Marokko stehen. Ich finde es gar nicht schlimm.

Ich schaue mir Kickstarter-Videos an. Ein futuristisches Navigationsgerät fürs Fahrrad bekommt zehnmal so viel Funding wie ein Dokumentationsfilm über Joan Didion.
Mein Freund Marek simst mir eine Auswahl lieblicher Emojis und kommt kurz darauf im Thai Fun vorbei. Er hat gerade seinen Bachelor in Visueller Gestaltung gemacht und arbeitet jetzt mit 3D-Animationen. Er lächelt mich an.

„Ich werde halt immer wieder überschüttet von so LOVE, ich kann gar nichts dagegen machen.“ Er hält seine Hände vor die Brust und zieht sie nach vorn, als würde er ein riesiges Herz sichtbar machen, um es dann wieder im Brustkorb zu verstauen. „Ich kann das alles kaum glauben. Ich bin so dankbar. Ich war letztens in Berlin und alle sind so nice. Ich habe echt niemanden kennengelernt bis jetzt, der schlimm war.“

„Naja, das liegt wahrscheinlich an dir.“ Er hat mir ein Cornetto-Eis mitgebracht, das schon ein kleines bisschen angetaut ist.
„Wusste nicht, ob du lieber Erdbeere oder Nuss magst. Aber die meisten mögen ja Nuss.“ Er trägt blütenweiße hochgekrempelte Jeans-Shorts und ein weißes Ralph-Lauren-Shirt, das an den Ärmeln bis zu den Schultern hochgekrempelt ist. Seine Wimpern sind lang.
„Ich will nicht sterben“, sagt er.
„Ich schon. Das Leben ist so anstrengend.“ Er blinzelt mich an mit den überlangen Wimpern, als verstünde er nicht, was ich sage.
„Aber der Schlaf ist doch schon wie eine Art Tod. Das reicht doch.“
„Ich träume so viel“, sage ich. „Ich finde Schlafen wahnsinnig anstrengend. In den letzten Jahren habe ich ein Traum-Tagebuch geführt. Das ist dicker als mein normales.“ „Ich träume nie“, sagt er. „Immer alles schwarz.“

„Das muss sehr entspannend sein.“ Wir lachen.

„Naja, das liegt wahrscheinlich daran, dass du immer so relaxed bist.“ Er schaut ernst und geradeaus.
„Also, das scheint auch nur so. Mir geht es nicht immer gut. Manchmal fühle ich mich so LOW und ich weiß gar nicht, warum. Es ist ja alles in Ordnung.“
„Das ist so der Grundschmerz des Lebens“, sage ich altersweise. Ich fühle mich wie eine Trauma-Expertin, die in einer Talkshow auftritt. Ich beiße mir auf die Lippe.

Aber Marek nickt. „Wahrscheinlich. Immer weitermachen“, sagt er. Er sagt, dass sein Kaugummi schon ganz hart gekaut sei, ob er den irgendwo hintun könnte.
Ich reiche ihm ein Stück Serviette.

„Wie findest du mich? Ich finde dich nämlich echt nett.“
„Ich dich auch.“
„Und was denkst du über mich?“
„Ähm, das sage ich dir jetzt nicht. Ich bin Schriftstellerin, das wäre ja langweilig.“
„Und was denkt deine Freundin Helena über mich?“
„Ouf. Ich glaube, sie kennt dich gar nicht. Aber ich denke mal, dass sie dich auch nett findet.“
Als säße ich mitten in Facebook, in einer angenehmen Kaskade von Likes. Es ist okay. Wir machen weiter. Es glänzt und schmeckt nach Eiscreme. Es ist alles nach allen Seiten hin offen, wie die Fenster auf den Smartphones. Ich fühle mich nicht aufgehoben, aber verknüpft. Ich fühle mich nicht erkannt, aber immerhin gemocht. Und eigentlich freue ich mich auch auf das Navigationsgerät fürs Fahrrad.