Roma

Reportage
zuerst erschienen 2000 in Süddeutsche Zeitung

Auf viele, nein, fast alle Fragen nach der gewünschten Qualität von etwas gibt es die eine immer richtige Antwort. Sie lautet: Nicht langweilig, und ganz besonders richtig ist sie, wenn nach der Art und Weise gefragt wird, wie es denn bitte sein soll: Das Café. Wobei die Frage natürlich heißen muß: Ihr Café, denn das ist ja das schöne am Café, am ganzen Café-Gedanken - ich erobere mir dort nicht nur einen Sitzplatz, eine Aussicht, bestelle mir ein Getränk, sondern das ganze Café drumherum wird meins, es kommt ja gratis dazu.

Und selten habe ich eine Welt, die da um meine Tasse, meinen Aschenbecher, meinen Tisch entstand und zu mir kam so herzlich begrüßt, wie die dort, auf der Terrasse des Roma. Dazu muß ich kurz erklären, daß wir durch einen überstürzten Umzug von Hamburg nach München etwa zwei Monate lang keinen Herd und keine Küche hatten - da traf es sich gut, daß genau in diesen Tagen gegenüber unserer neuen Wohnung das schöne Café Roma eröffnet wurde. Wiedereröffnet, um genau zu sein, es gab da wohl vorher schon einmal ein Lokal mit gleichem Namen, viele sagen, es sei noch schöner gewesen, aber das kann ich mir überhaupt nicht vorstellen.

Schon von seiner Einrichtung und der Bemalung her ist das ganze Café nämlich schlicht einmalig. Ich weiß noch genau, wie wir uns zum ersten Mal hinein getraut hatten und dann standen wir an diesem wuchtigen Tresen und wir waren richtig sprachlos.

Und zwar nicht nur wegen der umwerfenden Einrichtung in Schwarz und Rot und Edelstahl; den Lampen an der Decke, die aussehen, als seien sie aus mehreren Tonnen sehr langsam erhitzten und dann in Form gewalktem Weingummi gemacht; auch nicht wegen der raffinierten Trompe l’oeil-Deckenmalerei, die rund um die Gummilampen einen grellen Lichtkegel vortäuscht, der aber gar nicht existiert - nein, es war die Stimmung, die Atmosphäre im Raum. Energieblitze sahen wir fliegen, hin und her. Das lag an den Menschen.

Hinter dem Tresen gab ja ein Wort das andere, aus der Küche war sogar lautes Gelächter zu hören. Im hinteren Teil des Lokals, dem sogenannten Lounge-Bereich mit den Sesseln und Edelstahltischen waren bei langen Zigarren gleich dutzende angeregter Unterhaltungen zu beobachten. Eine junge Kellnerin brachte dem kaugummikauenden Barmann zwei volle Sektgläser zurück. Kollegial dann ihr Hinweis auf seinen Fehler: 

„Du, das ist kein Möet - das haben die an der Farbe gemerkt!“

Das geht doch nicht! dachten wir da noch im Reflex. Aber da waren wir auch noch nicht romaisiert.

Roma ist nämlich, das fand ich sehr bald heraus, eine Lebensart, ein komplexes ästhetisches System, eine neue Welt. Wie die aussieht? Eigentlich unfassbar gut. Gleichzeitig aber doch wieder ganz leicht zu beschreiben:

Die Ladies tragen Python-Twinsets in Apfelgrün und Flieder, dazu Sonnenbrillen im Haar bis tief in die Nacht und wenn es morgens einmal kühler ist, hüllen sie sich ein in ihre Schals aus traumleichtem Pashmina, die übrigens das benachbarte Teppichhaus Sammert sehr preiswert verkauft, wegen Direktimport aus Tibet.

Ihre Männer oder männlichen Begleiter sehen es sehr gern, wenn die Frauen ihren Stil vor dem Roma verströmen, einer ließ seine Frau neulich beim Frühstück die einzelnen Farben der Schals aus ihrer Pashmina-Sammlung aufzählen vor den versammelten Freunden. Als sie dann bei Dunkelblau ins Stocken kam, wollte er ihr auf die Sprünge helfen, wie ein Vater seiner Tochter beim Buchstabierwettbewerb, aber in dem Moment fing das Kind im Wagen zu weinen an, und weil es Samstag war, kümmerte er sich dann sofort selbst darum. Dabei verrutschte seine Sonnenbrille, aber das passiert hier dauernd, da schaut dann auch keiner so genau hin.

Auch wenn der halbnackte mit Bart, den hier alle einfach nur Schorschi rufen mit zwei Flaschen Vollbier die Terrasse betritt, um sich, in Selbstgespräche vertieft, unauffällig mit an einen der Tische zu schummeln, regt das niemand wirklich auf. Dann strömen eben die Kellner gutgelaunt zusammen, bugsieren ihn sanft zurück auf den Platz hinter der weißen Linie und wenn er sich dort weiter auszieht, kommt wenig später die Polizei. Meistens ist er schon weg, wenn sich der Streifenwagen auf die Terrasse wuchtet. Dann sammeln die Polizisten die liegengebliebenen Jacken und Hosen auf und schließen sie in den Kofferraum. Vorher ziehen sie sich dazu noch Handschuhe an.

Den Kellnern geht das glaube ich zu weit. Sie haben sich an den Schorschi gewšhnt, wie an alles andere im und am Roma. Überhaupt steht der Kellner hier seinen Gästen viel näher als sonstwo. Fast könnte so der Eindruck entstehen, er sei gar nicht wirklich im Roma angestellt, sondern ein zufällig vorbeigekommner Freund des Gastes, der sich eben nur gern anders anzieht und den Kellner spielt, wie andere Kinderpost. Das ist natürlich charmant und macht gute Laune. Zum Beispiel wenn ich versuche, ein hartes Ei zu bestellen. Da passiert es dann gerne, daß ein weiches kommt. Das reklamiere ich natürlich dann beim Kellner, aber nicht, weil ich keine weichen Eier mag, sondern wegen der netten Sache, die dann kommt. 

Kellner: „Weich? Hat er kein hartes gemacht? Soll ich ihm das sagen?“

Ich: „Ja bitte. Ich hätte gern ein hartes.“

Kellner: „Das dauert aber.“

Macht nichts. Während wir also gemeinsam auf ein neues Ei warten, erzählt der Kellner seinen Kollegen vom Mißgeschick der Küche. Aus der Unterhaltung erfahre ich so einiges aus dem Privatleben des Kochs. Und das muß alles stimmen, denn zehn Minuten bringt mir der Kellner ein neues Ei, ich klopfe es auf, während mir einige um mich herum sitzende Kellner gespannt dabei zusehen - wieder weich.

Kellner: „Habe ich gleich gewußt. Nehmen sie es trotzdem?“

Ja sicher. Am Nebentisch sitzt wie jeden Morgen dieser ältere Österreicher und ißt Spargel. Seine Frisur ähnelt von weitem einem Turm, und um seine Erscheinung noch interessanter zu gestalten, hat er sich die Haare in einem Möhrenton gefärbt. Das wäre aber gar nicht nötig gewesen, er ist von sich aus interessant. Er sitzt nämlich täglich acht Stunden vor dem Roma, so lange also, wie andere im Büro. Aber er sitzt dort im Büro. Sein Schreibtisch steht vor dem Café und alle Viertelstunde läutet sein Telefon (C-A-F-F-E-E). Dann steht er auf, geht ein wenig auf dem Vorplatz herum und schreit in sein Telefon: „Ja, ich bin gerade unterwegs“, dann verhandelt er etwas und setzt sich dann wieder hin. Manchmal schlägt er beim Telefonieren leicht auf den Apparat oder simuliert ein Funkloch, um sein Unterwegssein dramatischer zu gestalten.

Allein für solche Geschichten muß man ja eigentlich dauernd ins Café. Und nicht wegen der Eier. Im Wiener Café Bräunerhof gibt es beispielsweise einen Kellner, der sieht nicht nur aus wie Hansi Hinterseer, der benimmt sich auch genau so beim Servieren und Berechnen, ich glaube sogar, es ist der Skiveteran Hinterseer, den wahrscheinlich irgendjemand mit einem Geheimwissen erpresst und dazu zwingt, in Thomas Bernhards Lieblingscafé als Kellner zu arbeiten.

Und deshalb, weil ich nie genau weiß, ob es wirklich jemand ist oder nur einer, der aussieht wie jemand, habe ich mich über den kleinen Mann zuerst auch nicht gewundert. Das war ausnahmsweise an einem Abend, und wir saßen vor dem Roma und tranken einen Rotwein, der nicht schmeckte, was aber egal war, weil deswegen waren wir ja nicht gekommen. Es war dieser Abend an dem die Terrasse vor dem Schumanns gegenüber zum ersten Mal geöffnet war und dementsprechend überfüllt, und ich kam gerade aus der Toilette im Roma und lief in einen sehr kleinen Mann. Den hatte ich glatt übersehen. Als ich mich entschuldigen wollte, war er schon durch die Tür. Ich sagte dann: „Ich habe das Gefühl, ich bin gerade mit Lothar Matthäus zusammengestoßen.“

Und tatsächlich war es Lothar Matthäus, der sich wenig später wieder setzte, an den Tisch gleich neben uns. Dort saßen auch noch zwei Männer und zwei Frauen mit Sonnenbrillen in den Haaren und daneben stand ein Kellner und schenkte Weißwein nach aus dem Kühler.

Es wurden dann einige Witze gemacht an diesem Tisch, die ich mir aber nicht merken konnte, weil ich die ganze Zeit auf die Frisur von Lothar Matthäus starren mußte. Das Haar war wohl gerade frisch geschnitten; über seinen Ohren war die Haut noch auffallend bleich. 

Einer der Herren schlenderte dann zu einem im absoluten Halteverbot abgestellten Mercedes, griff in eine Zigarrenkiste auf dem Rücksitz und teilte großzügig aus in die Runde. Wir lehnten dankend ab.

Eine der Frauen versuchte sich dann eine dünne Zigarette anzuzünden, was nicht klappte, weil ihr Feuerzeug streikte. Die Männer an ihrem Tisch vergaßen sich um sie zu kümmern; sie waren ins Gespräch über die Zigarren, die sie rauchten, vertieft.

Gerade wollte ich mit meinem Feuerzeug hinübergehen zu ihr, da rupfte Matthäus der Frau die Zigarette aus den Lippen, sagte: „Was soll der Mist?“, in die Runde und schleuderte das Ding gegen den schwarzen Wagen, wo es abprallte und liegenblieb, auf der Maximilianstraße in München, auf dem breiten Bürgersteig.

Das war dann aber auch der einzige und letzte Augenblick, in dem ich einmal dachte, daß ich nie mehr wiederkomme, ins Roma.