Cocteau Twins Cantonesisch

Reportage
zuerst erschienen am 3. März 1995 in Süddeutsche Zeitung
Hongkongs Musikproduktion im Schnelldurchlauf

In Henry Kwoks Büro sieht es aus, wie es sich für ein Indie-Label gehört: ein durchgesessenes Sofa, die Wand mit irgendwas bemalt, Musikzeitschriften und CDs stapeln sich überall, und manchmal tauchen schwarzgekleidete Menschen mit asymmetrischen Frisuren auf und stellen ihren Kaffee darauf ab. Die Sound Factory ist Hongkongs einziger Musikverlag mit offenen Ohren für ungewöhnliche Töne. Sehr ungewöhnliche. Henry Kwok liebt Noise, Krach. Schreiende Computer, die Nerven töten wie ein Zimmermann im Akkord Nägel einschlägt. Anti-Mama- Sound von Cocteau-lesenden Abiturienten, der nur im Übungsraum gedeiht und einmal im Jahr vor 15 Besuchern im alternativen Fringe Club oder in der Music Union erklingt.

„Ja, ich mag die Musik wirklich“, meint der 33jährige Kwok sanft lächelnd und klemmt seinen Daumen in den Gürtel mit der großen Löwenschnalle. Wir hören uns Zuni an, eine dieser nie aussterbenden Multimedia-Kunst-Bands, die auf seltsame Festivals eingeladen werden und auf der ganzen Welt seltsame Freunde haben, die sich gerne lange, meditative Musik anhören, die mit 15 Sekunden Stille anfängt und dann leise brummend über acht Minuten dauern. Plus Extended Version live vom Toga International Art Festival 1992.

Dies ist die größtmögliche Opposition zu Canto-Pop, der extrem erfolgreichen leichten Muse, die ganzen Heerscharen von jungen Mädchen zwischen Singapur und Beijing durch die Pubertät hilft. Objekte ihrer Begierde: Junge Männer, die schon mit 27 nur noch mit Weichzeichner photographiert werden, schauen traurig und manchmal ein bißchen wild, naja, trotzig, von den Postern und singen ohne allzu große Stimmbreite Pop-Muzak mit ein wenig Nachgeschmack, wie eine rockige Version von Disney-Filmmusik.

Im Gegensatz zu Vietnam z. B. sind alle Mega-Stars in Hongkong männlich. Canto-Pop wird seit Jahren von den vier Königen beherrscht: Aaron Kwok, Jacky Cheung, Leon Lai und Andy Lau. Sie haben eigene Jeansmarken mit ihrem Bild auf der Gesäßtasche, erscheinen jeden Tag in den Klatschspalten, die ebenso alltäglich rätseln, ob sie jetzt eine Freundin haben - einer soll angeblich schwul sein! Ihr Bild kann man aus dem Automaten ziehen, und sie lächeln einem von Schulheften zu. Bei ihren stets Wochen im voraus ausverkauften Konzerten werden ganze Herden von Stofftieren auf die Bühne geschmissen; manche Mädchen klauen dafür aus Papas Geldbeutel; es wird geweint und geschrien und dann im Unterricht geträumt und an den Ratgeber-Onkel von Teenie-Zeitschriften geschrieben. Die vier Könige des Canto-Pops sind vertraglich an den Fernsehsender TVB gebunden und dürfen nicht bei der Konkurrenz auftreten.

Weibliche Stars werden oft aus Miss-Hongkong-Wahlen geboren. Einmal im Jahr sorgt dieses Ereignis für höchste Einschaltquoten. Es gibt Wetten, Favoriten und kritische Artikel. Und dann einen neuen Star. Ob Pop oder Kino, ist egal, denn auch die Schauspielerinnen fangen irgendwann zu singen an. Und die Popstars, männliche und weibliche, spielen in Filmen mit. Für beides braucht man ein nettes Gesicht und den Star-Faktor.

Hongkongs Hitparade hat nichts mit internationaler Musik zu tun. Nur sehr selten verirrt sich ein Titel von außerhalb in die Top Ten. Und wenn, dann als Coverversion, gesungen in cantonesisch, der Sprache Südchinas. „Faye Wong nimmt mehr und mehr Songs von Indie- Bands auf, Cocteau Twins z. B., das ist wenigstens ein Fortschritt“, meint Henry Kwok. Faye Wong hat auch einen niedlichen Punk-Haarschnitt.

„Reggae ist sehr erfolgreich in Japan und erobert gerade Südkorea. Nächstes Jahr wird Reggae in Hongkong ankommen. Außerdem wird es neue Musik aus China geben, etwa in der Richtung Ryuichi Sakamoto, moderne Trends, gemischt mit traditionellen Klängen.“

Dieser Meinung ist auch Ronny Lau von der Music Union, einem CD-Verleih mit samstäglicher Live-Musik für Mitglieder. Man kann dort mexikanisches Bier trinken, „Face“ lesen und Birkenstocksandalen kaufen. Ronny Lau glaubt allerdings nicht an Reggae und auch nicht an Canto-Rap: „Ein Desaster! Die großen Musikproduzenten wollen keine Musik entwickeln. Für sie ist es nur Geschäft, schnelles Geld.“

Hongkong ist die einzige Stadt, in der ein Beatles-Konzert Verluste gemacht hat. Einmal im Jahr wird Michael Jackson angekündigt und kommt dann doch nicht. Kein Club hat eine eigene Musikanlage. Es gibt keine Übungsräume, und bevor eine Band einigermaßen ihre Instrumente spielen kann, hat sie sich meist frustriert wieder aufgelöst.

AMK hält schon seit 1989 durch. Sie sind eine echte Indie-Band mit Gitarren, Holzfällerhemden, 18-Loch-DocMartens und drei Headbanging Fans. Die Mittzwanziger studieren, arbeiten beim Radio und in einem Kulturzentrum. Auf die Frage nach ihren Themen in der Musik: „Fight the power! Love and dreams!“ Zu mehr als Träumen wird es wohl nicht reichen.