Paul Nizon – „Ich sage, die Liebe dauert ewig“

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Portrait
zuerst erschienen am 25. Januar 2014 in Die Welt/Literarische Welt, S. 7
Siegfried Unseld prophezeite ihm Weltruhm. Doch bis heute ist der unbändige Autobiograf Paul Nizon ein Geheimtipp. Dabei schreibt kaum einer schöner und denkt radikaler. Ein Besuch in Paris

Schwer zu sagen, was finsterer ist: das Schachtelzimmer auf der Rückseite des kleinen Hinterhofs im Pariser Quartier Montparnasse oder der Blick von Paul Nizon. Zum Glück hat der Fotograf ein gutes Objektiv dabei. „Ne bouge pas“, nicht bewegen, sagt er, von Lächeln ist nicht die Rede. Dann geht der Fotograf. Es ist elf Uhr morgens. „Darf ich Ihnen einen Wein anbieten?“, sagt Paul Nizon.

Nizon ist Mitte achtzig. Vom Alter hält er so viel wie von Weintrink-Konventionen. Er geht nicht am Stock, sondern hat ihn nur dabei, wenn er die kleine Wohnung - zwei Zimmer, Küchenzeile, Chaiselongue, Schrank mit eigenen Büchern - zum Mittagessen verlässt. Sein Haar ist voll und lang, eine widerspenstige Strähne fällt in die Stirn. Das halbe 20. Jahrhundert hat er es so getragen, auch damals in Zürich, als Max Frisch den jungen Schweizer Freund zu Siegfried Unseld ins Hotel schleppte. Der sah ihn sich an und schloss vom Dichterhaar und den Dichtersätzen auf den Dichter. Überhaupt beschloss Unseld, es mit einem Genie zu tun zu haben. Auf den Gedanken kann man immer noch leicht kommen, wenn man Nizon so unmittelbar vor sich hat. Nur damals die Leser hatten ihn leider nicht unmittelbar vor sich und versäumten es deshalb, in ausreichender Zahl seinen ersten Roman zu kaufen, von dem Unseld geschworen hatte, dass er ein Welterfolg werden würde.

Das war vor 50 Jahren, der Beginn einer Geheimtipp-Karriere fernab der Bestsellerlisten, Lektüre, die sich Liebhaber mit roten Ohren unter dem Ladentisch reichten. Der Roman, von dem nicht wie geplant eine Million, sondern 1500 Exemplare weggingen, hieß „Canto“. Es stehen die unglaublichsten Sätze drin. Zum Beispiel: „Es mag verstimmen und das Wasser zum Überlaufen bringen: eine Zeitlang war ich als Hurenhirt tätig.“ Oder: „Der riesige Tomking durchwalzt mit Allüren einstiger Salonlöwentätigkeit die Salons, aus gewaltiger Körperimposanz küsst er Hände, und sein ganzes Beschützerpotenzial steht breit über der beglückten Dame.“

Die um die Jahrhundertmitte einflussreiche Kunst des Informel - eine verschmitzte Abstraktion, die zwar die Auflösung aller Formen bezweckt, aber laufend selber Formen schafft -trifft auf einen zarten Machismo. 1959 verbringt Nizon, er ist dreißig, einen Sommer in Rom, als Stipendiat des Schweizer Instituts. Er hat einen Doktor in Kunstgeschichte, er liebt das Informel, den Graubündener Existenzialisten Giacometti, mehr aber noch die Frauen und am allermeisten sich selbst.

Es wäre ein Irrtum, Nizon für eitel zu halten. Nizon pflegt stattdessen ein erotisches Verhältnis zum eigenen Ich, eins von der unstillbaren Art, er spürt in sich hinein, tastet sich ab und wird mit der Skulptur doch nie fertig. Bücher über Bücher hat er sich umkreist, sich in sich hineingebohrt, unablässig. Die sieben Bände der Gesammelten Werke - 1999 in dem Verlag erschienen, dem er im Gegensatz zu den Frauen immer die Treue gehalten hat: Suhrkamp - tragen Titel der Innenschau: „Untertauchen“, „Im Bauch des Wals“, „Im Hause enden die Geschichten“. Nizon nimmt einen Schluck Wein und sagt: „Ich weiß, was mir fehlt: dass ich kein Erzähler bin.“ Nichts ist weniger wahr. Und doch ist was dran.

In „Canto“ schreibt er, es gebe Menschenfreunde und Steinfreunde, er sei eben ein Steinfreund. Man könnte auch sagen, Nizon war immer schon der Berg, der auf den Propheten wartete. Prophezeien ist seine Sache nicht. Da sieht die Dramaturgie vor, dass einer kommen wird, an den andere glauben sollen. Das ist dann ein Roman. Nizon kann so etwas nicht schreiben. „Ich habe doch nur ein ganz kleines Figurenpersonal“, sagt er. „Wie Giacometti“, sage ich. Da lacht er, der sonst doch gar nicht finster guckt, das sieht nur auf den ersten Blick so aus, sondern ernst und erhaben, fast wie ein Prophet, aber eben mehr noch wie ein Berg. Er bebt richtig vor Lachen. „Das stimmt“, sagt er, „das könnte mich eigentlich trösten.“

Obwohl er das gar nicht nötig hätte. Die Franzosen lieben ihn heiß und innig - ganz wie einen Propheten, der nur in der Fremde etwas gilt. Der französische Name hilft bestimmt, dabei war der Vater Russe, den es nach Bern verschlug. Der Ex-Kokser, Ex-Werber, Ex-Zyniker Frederic Beigbeder, längst selber großer Liebender und Schriftsteller, Ikone der Pariser Literaturszene, hat mal ein Buch gemacht mit den besten Romanen des zwanzigsten Jahrhunderts. Nizons „Jahr der Liebe“ von 1981 ist auf Platz zwei. „Mir hat Beigbeder mal gesagt“, sagt Nizon, „in seinem Herz sei es auf Platz eins.“

Zum Dank hat Nizon kürzlich in Beigbeders Film „L’amour dure trois ans“ mitgespielt. „Er sagt: ,Die Liebe dauert drei Jahre‘ “, sagt Nizon, „und ich sage: ,Die Liebe dauert ewig.‘“

Von seiner dritten Frau Odile - mit der er eine weitläufige Wohnung mit Wendeltreppe nahe des Palais Royal teilte, zwei Gehminuten vom Louvre - lebt Nizon seit ein paar Jahren getrennt. Und doch unterläuft ihm immer wieder die Wendung: „mit meiner Frau.“ Dann verbessert er sich: „meiner Ex-Frau.“

Brigitte, Marianne, Odile. Der Dreiklang ist das Herzstück von Nizons Liebesthema, Namen wie aufsteigende Noten. Wie man „Star Wars“, „Titanic“ oder „Indiana Jones“ sofort an zwei, drei Akkorden des Hauptmotivs erkennt, so erkennt man nach wenigen Seiten egal welchen Buchs unweigerlich Nizon.

Brigitte war eine brave Schweizer Hausfrau. Nizon verließ sie und die beiden Kinder, kurz nachdem „Canto“ erschienen und die „Neue Zürcher Zeitung“ ihn als leitenden Kunstkritiker eingestellt hatte. Nizon ging auf Reportagereise nach Barcelona, sprang ins Taxi, ließ sich in den nächstbesten Nachtclub fahren, verliebte sich mit voller Absicht in eine Tänzerin, vergaß den Auftrag, die Redaktion, die Ehe, das Bürgertum, den Unterschied von Tag und Nacht. Das einzige, woran er sich erinnerte, war er selbst.

In billigen Studentenbuden schwelgte er in Askese, sieben Jahre lang. Verdaute den Schock, nicht der nächste Max Frisch geworden zu sein. Lag auf der Lauer nach dem Leben. Ließ Tinte auf die Tage regnen und blätterte sie um. Heiratete Marianne, eine Künstlerin, die er glücklich und traurig machte. Eines Tages trifft er, inzwischen 46-jährig, Odile, die beste Freundin seiner Tochter, keine zwanzig. Nach der ersten Nacht in London, wo sie studiert, zieht er sich eine „Liebesvergiftung“ zu. Verlässt nach Monaten, in denen er Lokale verwüstet und Menschen schlägt, Marianne und lebt fortan mit Odile in der Zuflucht Paris, der Hauptstadt der Künstler und der Liebenden, am Anfang in einem von einer Tante ererbten Zimmer im Afrikanerviertel um die Metrostation Barbes-Rochechouart. Durch den Hausflur, in den sich die geplatzte Kanalisation ergießt, stapft er unters Dach.

In Immobilien hat sich Nizon seitdem empor verkauft; die Tantenwohnung ist längst gesund saniert. Nur die Liebesvergiftung, die hat er immer noch nicht auskuriert. Eben hat das Telefon geklingelt, Odile war dran, sie ist gerade aus Florida zurückgekommen. „Sie war mit einer Reisegruppe da“, sagt Nizon. Nicht das Wort „Reisegruppe“, das gar nicht zu ihm passt, ist erstaunlich, sondern mit wie viel Wärme es sich aussprechen lässt.

Über den Schauspieler Jean Gabin hat Nizon mal geschrieben: „Er ist aus einem Stück, integer. Ist er zornig, ist er es ohne Maske, ein Ausbruch des Zorns, der leibhaftige Zorn. Ist er zart, dann auf dermaßen reine herzerwärmende Weise. Man ist aufgehoben bei ihm, der in seiner Person nahtlos aufgeht.“ Vielleicht ahnt es Nizon nicht, aber das ist ein Selbstporträt. Wenn Nizon lacht, klaren alle zugezogenen Züge auf, wenn er grummelt, grummelt er. Vielleicht hätte er nicht all diese Bücher schreiben müssen, wenn er sich selbst so ins Gesicht sehen könnte.

„Ich bin super empfänglich für Frauenreize“, sagt er. „Ich bin ein Jäger - gewesen -, mein ganzes Leben lang. Ich suchte nicht nach einer Lebensgefährtin, sondern ich wollte das Wild, das mich elektrisiert hat, erlegen. Und dann ging es überhaupt gar nicht weiter, meistens. Mit einigen Ausnahmen, weil die Begierde zunahm und unstillbar wurde, und es dann zu einem Verhältnis kommen musste. Aber das hat in meinem langen Leben nur dreimal stattgefunden.“ Obwohl da „Hunderte oder Tausende“ waren; „ich weiß es nicht, ich bin kein Buchhalter“.

„Es gibt ja Leute, was mir unvorstellbar ist, wenn ich das höre“, sagt Nizon, „die eine Beziehung und Familie und Geborgenheit beim Weibe suchen. Natürlich gehört das alles dazu, aber im Moment“ - er schreit fast - „doch nicht als Lebenszweck, oder?“

Nizon merkt nicht, wie nizonhaft er allmählich wird, seine Stimme verschmilzt mit der Stimme seiner Bücher. Er spricht, aber es kommt einem so vor, als ob er schriebe. Er sagt: „Ich bin ein armer Schreibsoldat, der an dieses Zeug gekettet ist. Ich bin gar nicht zu haben. Das war auch der Klageklang meiner ganzen Frauen, dass ich mit dieser verdammten Literatur verheiratet bin. Das macht natürlich auch meine Attraktivität aus. Einer, der nicht zu haben ist, ist natürlich wahnsinnig attraktiv.“

Das alles hat längst eine Intensität, in der der Kopf heißläuft. Gut, dass eine zweite Flasche Wein da ist. Später gehen wir essen, leider hat in seiner Straße die „Kantine“, wie er sagt, zugemacht, wir stapfen durch die Kälte. Nizon hat den Stock dabei, er benutzt ihn wirklich fast gar nicht. Jedenfalls nicht zum Draufstützen. Eher wie ein Zeremonienmeister seinen Stab, um die Bedeutung der Worte klopfend zu unterstreichen. Gleichzeitig klingt das metallische Pochen wie der Taktschlag eines Metronoms, Zeilensprünge in der Zeit. So kämpfen wir uns durch den schneidenden Wind, Nizon hat einen bunten Wollschal umgeschlungen, den Kopf mit Hut tief in den Kragen des schwarzen Ledermantels geduckt. Nizon ist immer gelaufen, man will nicht sagen, flaniert, dafür ist er viel zu unsentimental. Er muss im Laufe der Jahrzehnte - wie der andere große Pariser Straßenkünstler der Literatur, Patrick Modiano, den er nie kennengelernt haben will, unglaublich eigentlich - jede Straße der Stadt durchwandert haben.

Wenn Bücher Wege wären, die einer im Laufe seines Lebens zurücklegt, und das sind sie ja, dann wäre das Tagebuch die Langstrecke. Besonders das von Paul Nizon. Seine Romane sind kraftstrotzende Hundertmeterläufer, Sprints auf eine Ziellinie hin. Parallel hat er sich mit enormer Ausdauer die Journale abgerungen. Sie sind sein geheimes Hauptwerk, eine „grandios-rigorose Tagebücherei“, wie er selbst sagt, „frei, wild, zart, in eigener Sache, aber zeitdurchtränkt“.

Von diesem ausufernden, fünf Jahrzehnte überspannenden Director’s Cut der Selbstversenkung gibt es jetzt ein Best-of. Auf lila Broschur prangt in klassizistischen Riesenlettern der Name des Autors, und der Titel quetscht sich, seiner Aussage zum Trotz, kleinlaut in die Ecke: „Die Belagerung der Welt.“ Nizon sagt: „Der Umschlag knallt ganz schön rein, oder?“ Innen drin knallt es noch mehr, das radikalste Leben, auf einen Pageturner reduziert, so wie man beim Kochen einen Geschmack auf seine Essenz reduziert. Auf Seite 217 zum Beispiel der Satz: „Wenn ich mich an ein Buch begebe, ist es, wie wenn ich für die Fremdenlegion signieren wollte, ich kann es nicht anders sagen.“

Nizon ist Nizon, weil er die Dinge sagt, wie er sie nicht anders sagen kann. Für heute sagt er: „Adieu.“