Der Kippenberger-Skandal, Teil II (Der Verriss)

Kommentar
unveröffentlicht, verfasst am 23. September 2016 in Wien

Selbst über 27 Jahre nach der Veröffentlichung fällt es schwer, diesen Text zu lesen. Er ist so hart, ich habe es nicht bis zum Ende geschafft. Heute verstehe ich, warum die Sache so erstickend für mich enden musste. Kippenberger selbst dürfte noch am ehesten damit fertig geworden sein, denn er las ja nur, was er tatsächlich lebte. Aber die vielen anderen Beteiligten! Sie mussten sich zu Tode schämen. Und so wurde der Text verdrängt und der Autor ins Ausland abgeschoben.

Ihn aus dieser Verdrängung wieder herauszuholen, den Text, war noch schwerer, als es beim ersten Teil dieses ausgeklügelten Kunstprojektes (Die Hymne) war. Dieser erste Teil, der ja nie veröffentlicht wurde – ich berichtete davon – wurde einfach eines Tages auf dem Dachboden gefunden. Der klassische Verlauf, wie bei dem Tagebuch von Mark Twain letztes Jahr. Man findet etwas, von dem keiner mehr weiß, dass es das gab, und veröffentlicht es. Ein Glücksfall, eine „Trouvaille“. Doch was war mit dem zweiten Teil, der ja immerhin ein paar Hunderttausend Leser gehabt hatte? Viel schwieriger!

Dr. Joachim Bessing, selbst eine Legende des letzten Jahrhunderts, war ebenso optimistisch wie ich und druckte binnen einer Woche die „Hymne“, einfach darauf bauend, zeitnah ein Exemplar des zweiten Textes in irgendeinem deutschen Archiv zu finden. Er täuschte sich. Dieser äußerst distinguierte, beherrschte und elegante Herr, immer höflich und liebenswürdig, nie anders als beispiellos eloquent (Tristesse Royale, Untitled) hatte sich offenbar zu einer schwer zu verzeihenden Dummheit hinreißen lassen. Er wusste es nur noch nicht.

Am Sonntag, den 18. September 2016 unternahm ich mit meinem caprigelben Wartburg 353 S eine Autofahrt von meiner Berliner Geheimwohnung aus zum Wannsee, um dort Joachim Bessing in dessen Villa persönlich von den Problemen zu berichten. Es gab womöglich keinen Folgetext für seinen angesehenen Internet-Verlag Waahr, der genau diesen Text – ausgerechnet für die kommende Jubiläumsausgabe – aufwendig angekündigt hatte.

Bessing ließ sich nichts anmerken und führte mich durch das weitläufige Anwesen, das direkt neben dem Literarischen Colloquium Berlin lag. Von einem Balkon aus konnte man direkt in das sogenannte Turmzimmer blicken, in dem ich einst als junger Stipendiat den Roman Deutsche Einheit geschrieben hatte. Später fuhren wir in Bessings Motorboot auf den Wannsee hinaus. Dort, Kilometer vom Ufer entfernt, stellte mein Gastgeber den Motor ab, ließ die nun einsetzende unheimliche Ruhe auf uns wirken und griff dann das eigentliche Thema wieder auf. Seine Stimme blieb ruhig, wirkte aber an diesem Ort inmitten des windstillen Binnenmeeres überaus deutlich, fast schneidend. Ich MÜSSE den Text herbeiführen, das sei „alternativlos“. Ich hätte über das abgenutzte Merkelwort gern gelächelt, aber dafür war nun wirklich kein Platz mehr. Ich zeigte mich einverstanden und wir fuhren zurück.

Bessing verabschiedete mich von der Freitreppe aus, fein die Hand hebend. Ein subalterner Hauswart, der aus Amerika stammte und eine behinderte minderjährige Tochter versorgte, schloss das Tor für mich und den Wartburg 353 S auf. Bald schoss das Fahrzeug mit aufgedrehtem Zweitaktmotor die AVUS-Rennstrecke entlang, wie schon einmal, 1939 mit Bernd Rosemeyer, der dort die zeichnungsgleiche Konstruktion der Auto Union erprobte (die Firma Wartburg baute den Wagen in der kommunistischen Ära dann in Millionen Exemplaren weiter).

Als alle Zeitungs- und Staatsarchive und andere Möglichkeiten ausgeschöpft waren und ich erneut aufgeben wollte, meldete sich auf Facebook der ehemalige Chefredakteur der Zeitgeistzeitschrift Wiener, Wolfgang Maier, bei mir. Er habe vor seinem letzten Umzug noch einige Hefte aus den 80er-Jahren besessen. Vielleicht sei die alte Wohnung noch nicht restlos ausgeräumt, er könne da einmal hinfahren. Sie lag auf dem Land, er verriet nicht, wo genau. Ich versprach umgehend eine ausgiebige Gegenleistung, und er brach tatsächlich binnen 24 Stunden auf, um irgendwo im Waldviertel nach diesen vermoderten Zeitschriften zu suchen. Erfolgreich.

Teilweise war der Text nicht mehr von den modernsten Lesemaschinen des Waahr-Verlages lesbar, aber wir konnten dort per Hand eingreifen und den Originaltext wieder vollständig herstellen. Nun kann ihn jeder lesen, vor allem natürlich die Oberseminaristen der Literaturwissenschaft und der Kunstgeschichte.

Bei all dem Stress und Trouble vergaß ich vielleicht zu sagen, dass dieses ganze Kippenberger-Doppeltext-Projekt trotz aller Dokumentation und Aufklärung natürlich auch ein gigantischer, persönlicher, paradigmatischer Verrat war. Ich habe das lange Zeit verdrängt, so wie Edward Snowden wahrscheinlich immer noch verdrängt und noch lange verdrängen wird und muss, dass seine NSA-Enthüllungen eben auch ein Verrat sind. Ohne eine psychologische Disposition zum zwanghaften Verraten hätte ich die Kippenberger-Texte niemals schreiben können. Es entstand damals sogar ein ganzer Roman, er hieß Die Kunst, die Frauen und der Staat, in dem die Kunstszene rund um den Magneten Martin Kippenberger kongenial beschrieben wurde, und er war tatsächlich schon fertig, als ich das Doppelporträt begann. Dieses Werk konnte dann natürlich auch nicht mehr gedruckt werden, weil ebenfalls zu decouvrierend, wenn auch wärmer im Ton. Ich habe das Verraten-Müssen viele Jahre und Jahrzehnte mit mir herumgeschleppt, ehe ich endlich, im letzten und in diesem Jahr, den finalen Roman ALLES LÜGE schrieb, mein ‚Opus Magnum‘ sozusagen, und meine diesbezügliche Pathologie darin verarbeitete. Er erscheint im Februar 2017 in meinem Hausverlag Kiepenheuer & Witsch.

Viel Spaß dabei wie auch bei dem hier nun präsentierten Dokument Der Verriss.