Love your Leid!

von 
Essay
zuerst erschienen April 2014 in I Love You Magazine Nr. 10
Fassung der Autorin
Von der Notwendigkeit der Krise

„Ich bin so wahnsinnig schön depressiv
Ich glaub das ist bis jetzt mein allerschärfstes Tief
Ich könnt´ kotzen und heulen und schrei´n und komponier´n
I love my Leid
Am Besten ist es, wenn die Wände sich bewegen
Kiffen, Trinken, Schlaflos-Sein
Ist hier denn auch ein Sinn?
Ich könnt´ kotzen und heulen und schrei´n und komponier´n
I love my Leid
Mein Liebling, ich hoff´ Du leidest auch
Ein paar Kilo weniger und weg ist dein Venus-Bauch
Ich könnt´ kotzen und heulen und schrei´n und ornanier´n
I love my Leid
Ich hoffe sehr das hört niemals mehr auf
Zugrundegeh´n ist ein schöner alter Brauch
Ich könnt´ kotzen und heulen und schrei´n und emigrier´n
I love my Leid“
(Maxim Biller, I Love My Leid)

Als ich Maxim Billers Stück „I Love My Leid“ zum ersten Mal hörte, war es 2004 und ich 23 Jahre alt. Das waren – wie sich unschwer erkennen lässt – die Nullerjahre und anstatt zu kotzen, zu heulen und zu schreien, arbeitete man frohen Mutes in schicken Werbagenturen mit Kickertischen und Bionade gefüllten Kählschränken. Damals gab es noch kein Burn-Out und auch keine Wirtschaftskrise, Therapie machten nur Wenige und Prosac stand symbolträchtig für die amerikanische, nicht für die deutsche Kultur.

Fünf Jahre sollten vergehen bis ich mich ähnlich wie Maxim Biller fühlte und nicht nur etliche Kilos verlor, sondern sich das Zugrundegehen wie ein roter Faden durch meine tägliche Routine zog. Dieses Leiden war an eine Krise gebunden. An meine erste echte Lebenskrise. Und diese Krise war so wie man sie als Definition im Duden finden kann – nämlich – eine problematische mit einem Wendepunkt verknüpfte Entscheidungssituation. Diese Entscheidung, die ich damals traf, katapultierte mich in einen Zustand, der mir vorgaukelte niemals zu enden. Ich hatte mich Widerwillen von meinem Partner trennen und meinen Job aufgegeben müssen. Diese beiden Tatsachen stellten mich vor die unbeantwortete Frage. Und es dauerte lange, sehr sehr lange, bis ich überhaupt in der Lage war, zu verstehen, was die Frage zum Inhalt hatte. Ich verbrachte meine Tage im Bett und zwar ausschließlich. Wenn mich Freunde besuchen wollten, wies ich sie vorsichtig daraufhin, dass es meinerseits möglicherweise zu einem übermäßigen Tränenverlust kommen könnte, auch wenn es nur um Alltägliches ginge. Das müsse akzeptiert werden. Schließlich gehöre es zur Krise und ließe sich nicht abstellen. Ein jeder hätte mir vermutlich damals und auch heute Medikamente verschrieben oder mir eine Depression attestiert und es gab Etliche, die so aufmunterte Worte fanden wie: „Jetzt hab dich mal nicht so, das Leben geht weiter!“ Aber das Leben ging eben nicht weiter. Und genau dieser Umstand, genau jenes Gefühl macht die Krise aus. Und noch viel mehr. Es macht die Krise lebendig in ihrem überm.chtigen Stillstand. Während die Zeit verging, Menschen arbeiteten, liebten, schliefen und erwachten, blieb meine Zeit stehen. Meine innere Zeit befand sich in einem apathischen Schockzustand, der weder Vergangenheit noch Zukunft kannte, sondern einzig und allein die sich ausdehnende Gegenwart. In dieser Gegenwart gab es genug Raum und auch genug Zeit alles, was man fühlte, dachte oder glaubte, zu hinterfragen, denn nichts und niemand unterbrach diese Gegenwart.

Diese Gegenwart war wie ein Tür- und Fensterloser Raum: frei von Erwartungen und Forderungen. Und diese Gegenwart dauerte anderthalb Jahre. Und was in diesen anderthalb Jahren geschah, würde Foucault vielleicht die Sorge-um-sich-Selbst nennen. Denn in dieser Zeit ging es nicht um Selbsterkenntnis, sondern viel mehr um Wahrheit. Es ging darum, herauszufinden, was eigentlich die Frage war. Denn sie konnte unter keinen Umständen jemals befriedigend beantwortet werden, wenn ihr Inhalt nicht eindeutig geklärt war. Es ging um die „Gewissensprüfung […] und das Sich-Zurückziehen“ (Foucault 2004, 635).

Was Foucault in der vom 6. Januar bis 24. März 1982 stattgefundenen Vorlesung versuchte zu historisieren, war die Umkehrung des Subordinationsverhältnisses zwischen Selbstsorge und Selbsterkenntnis. Das heißt, anstelle der in der Antike noch weitaus wichtigeren Selbstsorge trat, laut Foucault, die Selbsterkenntnis. Mit Descartes änderte sich der Blick auf das Selbst. Der geisteswissenschaftliche und gesellschaftliche Fokus wurde auf die Selbsterkenntnis und die Selbstwerdung verlagert. Die Aufklärung und der deutsche Idealismus schafften ein theoretisches Gerüst, das den Prozess der Selbstwerdung als Weg zu einem neuen Menschen definierte. Nietzsche führte diese Gedanken in die Postmoderne und kreierte das autonome Individuum. Selbstverwirklichung wurde zum Ziel. Alles andere war zweitrangig.

Aber was macht die Sorge-um-sich-Selbst aus und welche Techniken entstanden in der Antike? Was ist der Unterschied zwischen der vergessenen Selbstsorge und der allgemein proklamierten Selbstoptimierung?

Handeln versus Erkenntnis

Foucault, der sein ganzes Leben hindurch dem Individuum jegliche Autonomie abgesprochen hatte und das Subjekt lediglich durch die Gesellschaft und die darin stattfindenden Machtverhältnisse konstituiert sah, veränderte seine Beziehung zum Subjekt kurz vor seinem Tod grundlegend. Er fragte sich: Kann sich das Individuum selbst konstituieren und entsteht dabei das autonome Subjekt? Wer jetzt an Optimierung denkt, versteht Foucault an dieser Stelle und vor allem den Inhalt der Hermeneutik miss. Denn während die Sorge-um-sich-Selbst einen inneren Dialog voraussetzt, ist der Akt der Selbstoptimierung an das Außen geknüpft und kreiert durch den ständigen Vergleich mit der Umwelt eben ein nichtautonomes, sondern Gesellschaftlichkonstituiertes Selbst.

Zuallererst muss verstanden werden, dass die Selbstsorge in der Antike als lebenslanger Prozess begriffen wurde. Es war kein Moment, kein Augenblick, sondern eine Lebensform. Diese scheinbar über die Aufklärung vergessene Lebensform beinhaltete verschiedene Bausteine, die ein richtiges Leben im falschen ermöglichen sollten. Schaut man sich die antiken Selbsttechniken an, die Foucault in seiner Vorlesung hermeneutisch erarbeitete, dann scheinen sie tendenziell Ähnlichkeiten mit modernen Optimierungstechniken aufzuweisen. Was sie elementar unterscheidet, soll nach und nach in der folgenden Analyse herauskristallisiert werden. Als wichtigste Selbsttechnik sei der Seelendienst zu nennen. Dieser definierte eine Beziehung, in der ein Lehrer, der sich in Alter und Status unterschied, als Berater und Gesprächspartner einer Person diente. Die Andersartigkeit des Anderen war dabei eine wichtige Voraussetzung für den aktiven Austausch zweier Persönlichkeiten. Vielleicht erinnert diese Beziehung an die im ausgehenden 19. Jahrhundert sich entwickelnde Psychoanalyse. Der einzige Unterschied: das Ziel der Analyse war die Freilegung des wahren Selbst, während die Seelendienst-Beziehung als Austausch von richtigen Handlungsanweisungen verstanden wurde. Ein weiterer Aspekt der antiken Selbsttechnik kann als Kontemplation oder Zwiegespräch verstanden werden. Das Wiederholen „wahrer Reden“, also bestimmter Erkenntnisse, führt zur Internalisierung des Verstandenen. Gelerntes und Gesehenes wird im Geist erneut aufgegriffen, immer wieder durchdacht und anschließend verinnerlicht. Dabei entsteht ein Quasi-Subjekt, das uns bewohnt. Eine Art Gesprächspartner, der im Gegensatz zum Seelendienst im Inneren agiert und nicht im Außen. Wenn man so will, kann dieser Prozess als Selbstbildung verstanden werden. Aber diese antike Selbstbildung, die aus der Beziehung zu sich und dem Anderen entsteht, unterscheidet sich eklatant von der modernen Selbstbildung, bei der das Individuum glaubt, sein Selbst entstünde durch eigene Funktionalisierung und Optimierung.

Der Optimierungszwang

In meiner Krise zog ich mich zurück und entwickelte in diesem Raum ohne Fenster und Türen nichts anders als ein Quasi-Subjekt, das mit mir in Kontakt trat. Dieses Quasi-Subjekt half mir bei der Findung der Frage und der Antwort, denn der gegenseitige Dialog kreierte ein Wechselspiel, dessen Dialektik zu echten Erkenntnissen führte und weit entfernt von destruktiven Gedankenspiralen war. Trotzdem nahm ich im gesellschaftlichen Sinn nicht am Leben teil. Ich war nicht effizient, nicht arbeitswillig, nicht sozial. Auch wenn ich in Wirklichkeit vielleicht das erste Mal autonom war, wirkte ich auf mein Umfeld instabil und nicht leistungsfähig. Viele hätten diese anderthalb Jahre Rückzug abgekürzt. In Form von Kuren, Medikamenten oder Ablenkungen jedweder Art. Schließlich lässt einem das Jetzt keine Zeit für Kontemplation, sondern fordert stetige Optimierung. Dieser Optimierungsdruck entsteht durch nichts anderes, als die Fülle an Vergleichsmomenten, die soziale Netzwerke kreieren. Damals in den Nullerjahren, als man begann seine Erfolge nicht nur zu feiern, sondern mit der halben Welt teilen zu wollen, entstanden Facebook, Instagram und Twitter. Heute prägen diese medialen Kanäle den Umgang mit uns selbst. Wir stehen unbewusst unter dem ständigen Zwang, uns zu verbessern. Weshalb? Weil wir uns vergleichen. Verglichen haben wir uns auch früher: mit den Freunden, den Nachbarn oder Verwandten. Sobald die Zahl derer, mit denen wir uns aber vergleichen müssen exponential anwächst, weil sich unser Netzwerk vergrößert, nimmt die natürliche Gegenüberstellung eine pervertierte Form an, bei der wir nur verlieren können. Denn während beim antiken Seelendienst noch eine Beziehung zum Anderen entstand, verkommt das Vergleichsverhältnis zu einem narzisstischen Wettlauf gegen sich selbst. Dabei funktionalisieren wir den Anderen, der lediglich als Spiegelbild für unseren eigenen Optimierungsprozess dient. Peter Sloterijk nennt diese Leistungsideologie „Vertikalspannung“ und glaubt darin, das Fehlen der großen Ideen entdecken zu können. Die Metaidee scheint jene Lücke geschlossen zu haben, die die Umwertung aller Werte auslöste und den Menschen in den freien Fall katapultierte.

Wir entwickeln Apps, mit denen wir die Optimierungsparameter unserer Netzwerkmitglieder verfolgen können. Immer aus dem tiefen Wunsch heraus, ganz oben zu stehen und jene Skala anzuführen, die die Gruppe der vermeintlichen echten Selbste widerspiegelt. Da haben Krisen nichts zu suchen. Schwere Zeiten hindern am Aufstieg. Und noch viel mehr. Der Abstieg wird voller Aufregung vom Netzwerk verfolgt, beäugt und bewertet.

Mehr Raum für Krisen

Wer heute zu viele Tage bewegungslos, tatenlos und energielos im Bett verbringt, wird von der Gesellschaft als Mitglied infrage gestellt. Mit dem stimmt was nicht; dem muss geholfen werden. Krisen werden zu Burn-Outs und Depressionen pathologisiert. Der heilende Charakter ist dieser Phase vollends abgesprochen worden. Dabei wird vergessen, dass die Krise jene Sorge-um-sich-Selbst fordert, die bis dato nicht erfüllt wurde. Die Krise ist kein Zeichen für den Verlust des eigenen Selbst und das Aufgeben der Selbstbildung, sondern sie ist jene problematische mit einem Wendepunkt verknüpfte Entscheidungssituation. Eine Krise meistert man nicht leichtfü.ig. Eine Krise überlebt man auch nicht unverletzt. Verletzungen gelten als Schwäche und Krisen gelten als Versagen. Das Existenzrecht wird beiden seit Jahren abgesprochen. Viel zu lange schon wird mit einer Vehemenz gegen Kontemplation und Kontrollverlust angegangen. Was dabei aber wirklich auf der Strecke bleibt, ist der Mensch. Und im weitesten Sinne, die Seele des Menschen. Sie funktioniert nicht wie eine Maschine oder wie ein Räderwerk. Ihr können nicht dysfunktionale Teile entnommen und optimierte eingesetzt werden. Der menschliche Rückzug gehört zur bewussten Auseinandersetzung mit dem Außen. Wer sich dem entzieht, bleibt emotional auf der Strecke. Wer die Beziehung zu sich selbst nicht pflegt, kann auch keine Beziehung zu anderen pflegen. Die eigene Objektivierung führt letztlich zu Objektivierung des Anderen. Ziel und Zweck der Sorge-um-sich-Selbst ist es, nicht das Selbst von der Welt zu trennen, sondern es als rationales Handlungssubjekt auf die Ereignisse der Welt vorzubereiten. Und diese Vorbereitung braucht Zeit, Geduld und das Zwiegespräch.

Ich möchte an dieser Stelle mit einem Auszug aus Foucaults Anmerkungen zur Hermeneutik-Vorlesung enden: „Welcher Art auch immer die Übungen sind, eins verdient festgehalten zu werden: Sie werden alle in Bezug auf Situationen vollzogen, die dem Subjekt widerfahren können. Es geht also darum, daß [sic!] sich der einzelne als Subjekt der Handlung, als Subjekt der rational und moralisch verantwortbaren Handlung konstituiert. Die Tatsache, daß diese Lebenskunst insgesamt um die Frage nach der Beziehung zu sich selbst zentriert ist, darf einen nicht täuschen: Die Umkehr zu sich selbst darf nicht gedeutet werden als ein Aufgeben aller Aktivitäten, sondern eher als die Suche danach, was die Aufrechterhaltung der Beziehung zu sich selbst als Verhaltensprinzip und –regel gegenüber den Dingen, den Ereignissen und der Welt überhaupt erlaubt.“