Die Intelligenz in den Fingerspitzen

Portrait
zuerst erschienen am 24. August 2014 in Welt am Sonntag
Zum Tod des Yogalehrers B. K. S. Iyengar

Zunächstmal kann es gar nicht stimmen, dass B. K. S. Iyengar, der wichtigste Yogalehrer des 20. Jahrhunderts, letzten Mittwoch in einem Krankenhaus in Poona gestorben ist. Wenn je ein indischer Guru das magische Alter von 108 Jahren erreichen würde, dann er – das wusste ich, als er vor vier Jahren mit eisernem Griff meine Knöchel in die Matte drückte, damals schon 91 Jahre alt. Ich drehte einen Film über die Entstehung des modernen Yoga und hielt es für nötig, mich selber als Versuchskaninchen zu inszenieren. Noch nie hatte ich es geschafft, ohne fremde Hilfe in den Kopfstand zu kommen, und nun kniete ich vor dem berühmtesten aller Yogalehrer und wollte es lernen. Die Kamera vergaß ich sofort, denn Iyengars Autorität war viel einschüchternder. Er ergriff also meine Handgelenke, erklärte, in dem Spalt zwischen Knöchel und Matte sitze die Angst, und presste sie mit titanenhafter Kraft auf den Boden. „Und jetzt gehen Sie in den Kopfstand“, sagte er. Ich tat es und konnte es.

Aber es war nicht immer so leicht. Erst hatte er mir abgesagt, auf hauchdünnem Luftpostpapier, das wie aus einer anderen Zeit in meinen Briefkasten flog. Ich war dennoch hingefahren und erhielt Audienz in der Bibliothek. Das war ein festes Element seines Tagesablaufs, dessen öffentlicher Teil morgens um halb zehn begann. Dann betrat er den Yogasaal seiner Schule in Poona, einem achteckigen Gebäude, rundum dekoriert mit Reliefs von ihm selbst in akrobatischen Yogahaltungen. Die etwa fünfzig Schüler aus aller Welt, darunter auch viele Inder, praktizierten schon, jeder für sich, und genossen, ohne es sich anmerken zu lassen, Iyengars Aura, die allmählich den Saal füllte. Er suchte sich bescheiden eine Ecke und begann mit seinem zweistündigen Programm: wenigen Haltungen, in denen er bis zu dreißig Minuten blieb, einen kleinen Küchenwecker zur Kontrolle auf dem Boden. Er benutzte auch Hilfsmittel wie Seile und Klötze – einer seiner vielen Beiträge zum Yoga, der es auch weniger gelenkigen und sogar gehandycapten Schülern ermöglicht, in schwierige Haltungen zu gehen. Dann zog er sich zu Mittagessen und Mittagsschlaf zurück, und um halb vier setzte er sich an seinen Schreibtisch in die Bibliothek. Auch dort Veränderung der Atmosphäre; stockender Atem bei den Studenten an den Regalen, Herabdimmen der Gespräche… An seinem kleinen Tisch beantwortete er Briefe, diktierte und korrigierte seine über zwanzig Bücher und empfing Bittsteller wie deutsche Filmemacher. Es gelang mir, ihn von meinem Projekt zu überzeugen, und wir vereinbarten als Beginn der Dreharbeiten Guru Purnima, den Feiertag im Juli, der den geistigen Lehrern gewidmet ist.

Das erste Interview war eine Offenbarung. Iyengar war ein wunderbarer Redner, der, anders als bei seinem feurigen Temperament zu erwarten, sehr leise und gewinnend sprach, kraftvolles indisches Englisch, mit Lust an Wortspielen. Er erzählte von seiner Kindheit im südindischen Bundesstaat Karnataka, wo er 1918 geboren war, vom frühen Verlust des Vaters und den vielen Krankheiten, die er als Teenager hatte. Mit sechzehn nahm ihn die Familie seiner Schwester auf, die den Yogameister Tirumalai Krishnamacharya geheiratet hatte. Iyengar lernte von ihm in kurzer Zeit die kompliziertesten Yogahaltungen und befreite sich von seinen Krankheiten. Er verehrte seinen Guru, litt aber auch unter dessen intellektuellem Hochmut und der Wucht seiner Ohrfeigen (mit denen er selber später nicht sparsam sein sollte), und so nahm er das Angebot, nach Poona zu gehen, wo ein Yogalehrer aus der Krishnamacharya-Schule gesucht wurde, dankbar an: „Ich war ein Tiger, der dem Guru-Käfig entkommen war.“

In Poona begann für Iyengar Anfang der 40er Jahre die spannende Phase der Selbsterforschung. Hatte er sich die Yogahaltungen von seinem Guru nur äußerlich abgeschaut, so blickte er jetzt in sich hinein, spürte feinsten Reaktionen seines Körpers auf die Haltungen nach, modifizierte seine Praxis entsprechend und gelangte so zu einer tiefgreifenden Kenntnis der menschlichen Anatomie. Daraus entwickelte er sein System, nach dem heute in den Iyengar-Schulen auf der ganzen Welt unterrichtet wird: mit minutiöser Arbeit am alignment, der richtigen Ausrichtung des Körpers. Für unseren Film demonstrierte er das mit seiner Enkelin Abhijata. Blitzschnell und unerbittlich identifizierte er kleinste Ungenauigkeiten in den Haltungen, etwa dem Rad: „Roll die Haut zusammen. Fersen hoch und Knöchel senkrecht über die Fersen. Jetzt zieh die Knöchel ein und heb sie. Heb dich nicht aus dem Handgelenk!“

Sein Stolz darauf, der große Selfmademan des Yoga zu sein, war übrigens sehr ungewöhnlich für einen traditionellen Inder, zumal für ein Mitglied der Gelehrten-Kaste der Brahmanen. Bei meinen Reisen für den Film begenete ich sonst immer nur Menschen, Pattabhi Jois etwa, dem Vater des Ashtanga-Yoga, die darauf bestanden, ganz wie ihr Lehrer zu unterrichten, der seinerseits treu weitergegeben hätte, was er von seinem Lehrer gelernt habe. Diese Berufung auf die Tradition ist so sehr Teil der indischen Kultur, dass es im Sanskrit sogar einen Begriff dafür gibt: Parampara. Iyengar hingegen erzählte sebstbewusst, nie ein Yogalehrbuch gelesen zu haben (die klassischen Texte der Yogaphilosophie sehr wohl und sehr gründlich). Dafür schrieb er später selber das bis heute wichtigste: Light on Yoga, zu dem Yehudi Menuhin das Vorwort schrieb. Menuhin, damals einer der berühmtesten Musiker der Welt, war Iyengar 1952 begegnet. Er wurde sein Schüler, befreite sich mit Yoga von seinen Verspannungen und sagte, für ihn sei es wichtiger, täglich Yoga zu praktizieren als Geige zu üben. Er führte Iyengar in Europa und den USA ein und machte ihn zum bekanntesten Yogalehrer seiner Zeit. Auch wenn weitere Schüler Krishnamacharyas wie Indra Devi oder Pattabhi Jois andere Formen des Yoga populär gemacht und damit das heute beliebtere dynamische Yoga etabliert haben, – es war Iyengar, der im Westen überhaupt erst ein breites Bewusstsein für diese Kunst geschaffen hat.

Am Ende des Interviews erzählte Iyengar, wie er allmählich gelernt habe, seine Intelligenz bis in die Spitze seiner Finger zu schicken. „Wie wollen Sie Gott kennen, wenn Sie nichtmal Ihren großen Zeh kennen? Bis heute sind die Asanas (Yogahaltungen) meine Gebete, Meditation in Aktion. Denn ich kann das Endliche ausweiten, um das Unendliche zu erreichen.“ Er erzählte so anschaulich, dass ich mir wünschte, mit seinem Körper zu verschmelzen, um die Erfahrungen zu machen, von denen er sprach. Hier war ein Mann, der allein durch Worte, durch den Geist, einen körperlichen Effekt auslösen konnte. Der nachwirkte in mir, in der Yogapraxis natürlich, aber auch beim Schwimmen und sogar beim bloßen Liegen auf dem Bett. Und genau das ist Yoga: die Verkörperlichung des Geistes. Und die Vergeistigung des Körpers.