Das digitale Selbstportrait

von 
Essay
zuerst erschienen Juli 2012 in I Love You Magazine Nr. 8
Fassung der Autorin
Ein narzisstisches Produkt pop-moderner Egomanie oder die repetitive Rückversicherung der eigenen Existenz?

Das digitale Selbstportrait zieht sich wie ein roter Faden durch die mediale Welt. Programme wie Photo Booth oder elektronische Geräte wie Handykameras haben den Prozess der Fotografie vereinfacht. Sie haben die Kosten und den Aufwand verringert und somit den Fokus vom Qualitativen hin zum Quantitativen verändert. Aber die Möglichkeit eine bestimmte Sache auszuüben, führt nicht immer dazu, dass man ihr nachgeht. Die Möglichkeit muss den notwendigen Rezeptor finden, der auf den passenden und längst vermissten Agonisten wartet. Diese Möglichkeit muss den richtigen Knopf drücken. Und dieser Knopf scheint, gefunden zu sein.

Warum genießen wir es so sehr, uns immer wieder selbst zu fotografieren? Warum wollen wir jede Situationen, jeden Augenblick und jede Empfindung festhalten? Weil wir süchtig sind nach unserem Anblick, unserer Existenz? Oder weil wir um diese fürchten, weil wir uns unserer eigenen Existenz nicht sicher sein können, solange es keinen gibt, der sie beobachtet, der ihr antwortet und sie damit erst lebendig macht. „Für Hegel war das Subjekt ohne seinen dialektischen Gegenpol (Allgemeinheit) als individuelles Selbstbewußtsein [sic!] nicht denkbar“ (Riedel 1989, 123). Das bedeutet, dass es kein Subjekt ohne den Beobachter geben kann. Dass wir nicht existieren, bis unsere Existenz von einem Anderen bestätigt worden ist.

Dieses Essay soll sich auf den folgenden Seiten mit der Frage beschäftigen, ob der Vorwurf der sich bildlich darstellenden Egomanie haltbar ist oder ob das Selbstportrait nicht ein Zeichen für die Suche nach unserem Ich ist.

Heute Morgen habe ich einen Raben dabei beobachtet wie er Minute um Minute, Stunde um Stunde gegen sein eigenes Spiegelbild in einem Fenster auf meinem Hof flog. Er versuchte dieses Spiegelbild auszutricksen, lauerte ihm auf und tat oftmals so, als hätte er das Interesse an diesem Spiel verloren, um dann ohne Vorwarnung erneut mit voller Wucht gegen die Scheibe zu fliegen. Er forderte mit Gewalt eine Antwort, eine Reaktion. Vergeblich. Denn schließlich war er es selbst, der sich eine Antwort verwehrte.

Der Blick in den Spiegel und das dazugehörige Erkennen des eigenen Selbst ist für Jacques Lacan der Beginn einer psychologischen Phase, die mit der Entwicklung des Ich einhergeht. Das sogenannte Spiegelstadium (le stade du miroir) ist die Voraussetzung für die Entstehung unseres Selbstbewusstsein, also des Sich-selbst-bewusst-seins. Das Ich, das im Spiegelstadium entsteht, basiert auf einem Bild. Dieses Bild ist zum ersten Mal unabhängig vom Anderen. Es ist nicht die Antwort des Anderen auf mich, sondern eine rein subjektive Perspektive meines Selbst. Wenn bis dato das Kind sich nur durch die Antwort eines Anderen, beispielsweise durch das symbiotische Verwobensein mit seiner Mutter, erlebte, so ist der Blick in den Spiegel das Moment der Selbstidentifikation. Das Bild seines Selbst schaut einem entgegen. Für Lacan ist dieses Spiegelbild das Imaginäre. Das Imaginäre beschränkt sich bei Lacan, anders als im allgemeinen Sprachgebrauch, nicht auf das Scheinbare oder Eingebildete - wenngleich dem Blick in den Spiegel etwas Täuschendes zugrunde liegt - sondern entpuppt sich viel mehr als Ursprungsort narzisstischer Allmachtsphantasien. Das Selbst erlebt sich zum ersten Mal unabhängig vom Anderen. Die eigene Existenz wird erfahrbar, ob des fehlenden Blicks des Gegenübers. Es glaubt, ohne den anderen und nur durch den Blick auf sich selbst zu existieren und verliebt sich sogleich in sein vermeintlich autonomes Ich. Nun ist das mir entgegenschauende Selbstportrait ein solches Spiegelbild. Es ist der Ort der Selbstidentifikation. Es ist die Verbildlichung meines Selbst. Zumindest glauben wir das. Zumindest wollen wir es hoffen. Schließlich ist die Frage nach der eigenen Existenz, des eigenen Existierens schmerzlich und schwer zu beantworten. WER BIN ICH?

Diese Frage quält uns bewusst oder unbewusst. Ihr nachzugehen haben sich Philosophen zur Aufgabe gemacht. Das normale Individuum fragt nicht mehr laut, sondern winselt leise vor sich hin; versucht im Produzieren seines eigenen Bildes, dem unbeantworteten Schreckgespenst auf die Spur zu kommen. Wenn Populärwissenschaftler wie Richard David Precht mit Büchern, die „Wer bin ich - und wenn ja wie viele“ heißen, auf die Bestsellerlisten gelangen, dann wird deutlich, wie sehr uns die Frage immer noch umtreibt und uns das Bedürfnis nach einer Antwort verfolgt.

Kann uns das Selbstportrait eine Antwort auf diese Frage liefern? Erhalten wir eine Bestätigung unserer Existenz durch den imaginären Blick auf unser leibliches Ich? Ist das Selbstportrait ein Bild unseres nach Außen strebenden Seins?

Ein kurzer philosophischer Exkurs in zwei konträre Sichtweisen des Ich-Gedanken soll folgen und uns helfen, der Ursache für die fast schon ans Manische grenzende Wiederholung des Festhaltens unserer Seinszustände, näherzukommen.

Eine der Sichtweisen glaubt, dass das Ich nur durch den Blick des Gegenübers existiert; die andere, dass das Ich als ein auf sich selbstbezogenes Sein begriffen werden muss. Ersteres lässt eine Reflexion und ein Erkennen seines Selbst nur durch den Anderen zu, Letzteres erlaubt dem Individuum, seine eigene Existenz unabhängig vom Anderen zu begreifen.

Vertreter der zweiten Betrachtungsweise sind Kierkegaard und Nietzsche. Dabei gehen beide davon aus, dass der eigenen Existenz in der Reflektion näher gekommen werden kann. Die Bedeutung des Anderen geht bei jenem Prozess der Selbsterkenntnis allerdings verloren.

Bei Kierkegaard findet diese Reflexion geistig statt. Nietzsche präferiert jenen Prozess, ausgehend vom Leib zu vollziehen. Denn nicht der Blick nach Innen, sondern die Betrachtung der konkreten Geschichte des eigenen Lebens offenbart dem Individuum das Ich. Allerdings sei zu beachten, dass „das direkte Befragen des Subjekts über das Subjekt und alle Selbstbespiegelung des Geistes darin seine Gefahren hat, daß [sic!] es für seine Tätigkeit nützlich und wichtig sein könnte, sich falsch zu interpretieren“ (Nietzsche 1954, 75). Ist die Selbstfotografie entlang der Geschichte unseres eigenen Lebens diese Betrachtung, die Nietzsche als wahrhafte Offenbarung des Ich glaubt, erkennen zu können? Meint Precht Selbiges, wenn er nach der Anzahl unserer Ich fragt? Sind wir die Summe unserer Teile, die sich nicht mehr geistig erfassen lassen, sondern nunmehr bildlich - quasi vom Leib ausgehend - darstellen? Denn schließlich ist auf dem Bild nur unser Äußeres erkennbar, unser sich veränderndes Sein, unsere Geschichte des Lebens. Ein visuelles Tagebuch unserer Existenz, das uns dabei helfen soll, unser individuelles Dasein, in ein großes Ganzes zu zwängen; in eine Abfolge aus Ereignissen. Sind wir dieser dehnbare Kaugummi, der mit unserem Tod reist? Ist das unser Ich, dem wir versuchen durch eine Aneinanderreihung von Jetzt-Momenten eine möbiusbandartige Struktur zu verleihen, in dem wir am liebsten in jeder einzelnen Sekunde ein Bild von uns schießen, in jeder Millisekunde festhalten, wer da in die Welt schaut? Es ist nicht einfach, immer nur aus sich herauszuschauen, ohne sich dabei sehen zu können. Aber hilft der repetitive Druck auf den Auslöser, um unser Dasein zu bestätigen? Wird nicht nur erst durch das schallende Lachen des Anderen unser Witz lustig, durch die Tränen unseres Gegenübers unsere böse Zunge auch wirklich böse und findet durch das raunende Stöhnen des Geliebten unsere Begierde nicht erst wirklich zum Ausdruck?

Wir leben in einer Welt, in der unser eigener Blick auf uns selbst scheinbar ausreicht, um uns als Ich und Individuum zu fühlen. Wir leben in einer Zeit, in der das Foto von einem Antlitz zu einem face mutiert ist. Denn Photoshop und die Digitalfotografie machen es uns möglich, dieses Antlitz von uns selbst, nicht nur zu verändern, zu verbessern, sondern sogar zu löschen und solange zu reproduzieren bis wir uns darauf gefallen. Byung-Chul Han sagt in seinem aktuellen Buch Transparenzgesellschaft: „In der digitalen Fotografie ist jede Negativität getilgt. Sie bedarf weder der Dunkelkammer noch der Entwicklung. Kein Negativ geht ihr voraus. Sie ist ein reines Positiv. Ausgelöscht ist das Werden, das Altern, das Sterben: ‚Nicht nur teilt es (das Foto) das Schicksal des (vergänglichen) Papiers, es ist, auch wenn es auf härterem Material fixiert wird, um nicht weniger sterblich: wie ein lebender Organismus wird es geboren aus keimenden Silberkörnchen, erblüht es für einen Augenblick, um alsbald zu altern. Angegriffen vom Licht und von der Feuchtigkeit, verblasst es, erschöpft es sich und verschwindet […].’ Roland Barthes verknüpft mit der Fotografie eine Lebensform, für die die Negativität der Zeit konstitutiv ist. […] Die digitale Fotografie geht mit einer ganz anderen Lebensform einher, die sich immer mehr der Negativität entledigt. Sie ist eine transparente Fotografie ohne Geburt und Tod, ohne Schicksal und Ereignis“ (Han 2012, 20).

Wenn Nietzsche noch von der Betrachtung der eigenen Geschichte ausgegangen ist, um sich seinem Ich zu nähern und dieses zu begreifen, dann konnte die analoge Fotografie – vielleicht sogar das Selbstportrait – einen Beitrag zu diesem Prozess leisten. Die digitale Fotografie allerdings ist der Ausdruck des Imaginären. Es ist eine Ich-Täuschung. Wir schaffen uns ein Bild von unserem Selbst, das wir als vermeintlich wahre Darstellung unseres Ich verkaufen. Wir posieren, retuschieren und löschen solange bis wir mit unserem Selbstbild zufrieden sind. Wir machen Duckfaces, fotografieren uns aus vorteilhaften Perspektiven und stellen den Regler für den Kontrast in Photoshop hoch. Der Ausstellungszwang beraubt uns unseres eigenen Gesichtes. „Es ist nicht mehr möglich, das eigene Gesicht zu sein. […] Problematisch ist nicht die Zunahme von Bildern an sich, sondern der ikonische Zwang, zum Bild zu werden.“

Dabei bemächtigen wir uns gelernten Mimiken und Gesten. Wir manipulieren bewusst oder unbewusst unsere Beobachter durch oktroyierte Schönheitsideale. Wir machen uns selbst zu Werbeplakaten, die auf die ökonomische Befriedigung von Bedürfnissen abzielen. Die Verbildlichung erwartet immer auch einen Blick – aber dieser Blick bleibt aus, denn ein Blick ist ein Verweilen, ein Entdecken und ein Dahinterschauen. Aber hinter der Oberfläche der digitalen Selbstfotografie steckt kein Ich mehr, sondern eine Täuschung, ein gelernter Ausdruck, eine Forderung und ein tiefes Tal völliger Bedeutungslosigkeit.

Wir glauben durch die Präsentation unserer Bilder, eine Nähe zum Betrachter zu schaffen und wir glauben, durch die Bilder unserer unterschiedlichen Daseins-Zustände eine Nähe zu uns selbst zu schaffen. Aber diese Nähe verkommt zu einer Distanzlosigkeit. „Die Distanzlosigkeit ist nicht die Nähe. Sie vernichtet sie vielmehr. Die Nähe ist reich an Raum, während die Distanzlosigkeit den Raum vernichtet. Der Nähe ist eine Ferne eingeschrieben. Sie ist daher weit. So spricht Heidegger von einer ‚reinen die Ferne aushaltenden Nähe’“ (Han 2012, 26).

Das digitale Selbstportrait ist also weder ein Produkt egomaner Selbstliebe, noch eine sich wiederholende Rückversicherung der eigenen Existenz. Denn die eigene Existenz ist nicht in der täuschenden, photoshopbearbeiteten Bildsprache, zu finden. Das digitale Selbstportrait ist eine konstruierte Identität. Es ist kein Bild vom eigenen Ich, auch keine Aneinanderreihung des eigenen Lebens - es ist die repetitive Zurschaustellung gelernter Schönheitsideale. Es ist die Verzweckung unseres Ich. Keine Selbstliebe, keine Selbsterkenntnis, sondern ein Selbstausverkauf. Es ist eine werbewirksame Maßnahme. Für uns selbst und den Markt. Als verlogenes „Shaka“ bei der Selbstbetrachtung oder als Benzin für den i like-Motor im Social Web. Die Frage nach unserer Identität, nach dem wer wir sind, bleibt damit unbeantwortet. Die Suche nach unserem Ich ergebnislos.

Auch der Rabe hat aufgegeben. Er sitzt erschöpft vor dem Fenster und putzt sich aus Verlegenheit.