Der letzte Traum

Reportage
zuerst erschienen im Oktober 2010 in Der Spiegel 41/2010, S. 120-122
Ein Land, herausgefallen aus der Zeit: Während die einstigen Verbündeten längst neue Wege beschritten haben, trotzt das kommunistische Regime jedem Wandel. Nur die Hoffnung auf eine Wiedervereinigung mit dem Süden bleibt lebendig.

Sanfte Landung. Eine schier endlose Piste führt vorbei an Gemüse- und Maisfeldern, niedrigen Kiefernhainen und Stacheldrahtabsperrungen. Nach zehn Minuten holpert der Airbus dem bescheidenen Flughafengebäude entgegen. Der „Große Führer“ Kim Il Sung grüßt milde von einem riesigen Porträtgemälde auf dem Dach. Morgen hält die Partei ihre erste Versammlung seit 30 Jahren ab. Die Welt ist nicht dabei und spekuliert aus der Ferne über die künftige Führung.

Die Tafel in der Ankunftshalle ist leer. Ein einziges Flugzeug landet hier an normalen Tagen, aus Peking, manchmal auch aus Wladiwostok. Mit einem nordkoreanischen Wagen geht es ins Zentrum von Pjöngjang. Die zwei Tauben im Markenlogo machen nicht nur dem Fahrzeugnamen, Pyeonghwa (Frieden), alle Ehre, sondern symbolisieren auch, dass es sich um ein Joint Venture mit Südkorea handelt.

Neben mir sitzt Karin Janz, eine 51-jährige Berlinerin, die seit 2005 das Büro der Welthungerhilfe leitet, die einzige permanente Basis einer deutschen Hilfsorganisation in Nordkorea. Mehr als ein Drittel der hiesigen Kinder gilt als mangelernährt. Nach den Flutkatastrophen Mitte der neunziger Jahre verteilte die Welthungerhilfe Hilfsgüter, dann entstanden Entwicklungsprojekte mit landwirtschaftlichen Kooperativen. Den Leuten beizubringen, wie sie Obst und Gemüse anbauen können, sei besser, als Getreide zu verteilen, sagt Frau Janz.

Sie übergibt mir ein Handy, mit dem ich sowohl in Nordkorea als auch international telefonieren kann. Man habe es schon vor ein paar Jahren mit dem Mobilfunk versucht. Doch aus Angst vor Spionage und der Furcht, die Welt könnte mehr erfahren über das abgeschottete Land, als der Führung lieb ist, zog der Staat die Telefone wieder ein. Schließlich wurde ein ägyptisches Kommunikationsunternehmen beauftragt, ein neues System zu entwickeln. Für Ausländer gibt es ein eigenes Netz, von dem aus man sich nicht in das der koreanischen Benutzer einwählen kann. Parallelwelten.

Wir passieren eine von China-Zypressen und Pappeln gesäumte Einfallstraße. Kinder lesen Laub auf. Menschenketten in Uniform und Zivil ziehen in beide Richtungen vorbei, obwohl weit und breit keine Häuser zu sehen sind. Rote Transparente in dottergelben Reisfeldern, die Errungenschaften der landwirtschaftlichen Produktion beschwören.

Im Bierkeller neben dem Koryo-Hotel gibt es Heineken. Das einheimische Taedonggang sei gerade ausgegangen. Die Ausstattung mit schweren Holzmöbeln und einem Aquarium erinnert an China. Hier aber ist das Aquarium leer, und der Fernseher über unseren Köpfen liefert epische Bilder aus dem heroischen Alltag der Volksrepublik: Arbeiter beim Stahlabstich; Pflugmeißel, die sich durch die koreanische Erde bohren;
Abwehrraketen, die den koreanischen Himmel vor Angriffen schützen.

Außer uns genießen nur wenige Einheimische das Menü mit Huhn, Gemüse und Reis. In China geht es am Abend laut zu, die Menschen hier flüstern wie Theatergänger während einer Vorstellung. Karin Janz ist eine von weniger als hundert Ausländern aus dem Westen, die in Nordkorea leben. Es sei nicht leicht, mit den Koreanern in privaten Kontakt zu kommen. Aber sie sprächen gern über Liebe und Sex.

Warmes Herbstlicht über Pjöngjang. Um sieben Uhr strömen die Berufstätigen zu Fuß und per Bus zur Werkbank. Kaum ein Auto ist zu sehen, dafür Formationen von Kindern, ein Pionierlied auf den Lippen, Kunstblumen auf Holzstecken und fähnchenschwenkend auf dem Weg in die sozialistische Kaderschmiede.

Rekrutenabteilungen rüsten sich zu Erdarbeiten am fast fertiggestellten neuen Kulturpalast, wie ein Beweis dafür, dass die herrschende Doktrin des „Mili]tär zu- [121] erst!“ der allseitigen Entwicklung der Gesellschaft durchaus förderlich ist.

Die Hauptstadt Nordkoreas hat das Antlitz der späten kommunistischen Moderne. Wohnblocks aus Platten und Ziegeln, kilometerlange Boulevards wie die Karl-Marx-Allee von Berlin, tiefe Fluchtlinien durch urbane Geometrie. Wer glaubt, ikonografische Architektur sei die Erfindung heutiger Stararchitekten auf einem Egotrip, kann sich davon überzeugen, dass Landmarkenplanung erst so richtig in einer Diktatur des Proletariats zum Zuge kommt. Monumente, Theater, Sportarenen: Pjöngjang ist ein Designpark des Grandiosen.

Nur unter Aufsicht darf ich die Stadt erkunden, mein Begleiter ist ein hagerer, schüchterner Mann, ein Mitarbeiter des Außenministeriums. Es ist der Tag des Parteitreffens, von dem draußen in der Welt so viel die Rede ist, aber selbst mein Begleiter kann mir nicht genau sagen, wo sich die Genossen eigentlich versammeln. Vielleicht will er es mir aber auch nicht verraten, aus Sicherheitsgründen.

Er erzählt, dass sein Sohn in der Schule Russisch lernt, weil das für sein künftiges Berufsleben gut sein könnte, und dass er selbst einst in Sofia Türkisch gelernt hat. Zwanzig Jahre bevor die Türkei mit der Volksrepublik diplomatische Beziehungen aufgenommen hat.

Obwohl ich der einzige Mann aus dem Westen weit und breit bin, sorgt meine Anwesenheit kaum für Aufmerksamkeit. Zeitunglesend ziehen Passanten an mir vorbei, zielstrebige Radfahrer kreuzen meinen Weg, vor dem Theaterpalast exerziert eine Blaskapelle. Selbst die Leute, die in geordneter Reihe auf den Oberleitungsbus warten, scheinen in Eile zu sein. Der Pjöngjanger ist jung und dynamisch. Auch in den folgenden Tagen sollte ich den Eindruck nicht loswerden, dass es in der Hauptstadt keine alten oder gebrechlichen Menschen gibt.

Meine Gastgeber erreichen bei den Behörden, dass ich die Metro besuchen darf. Sogar eine Fahrt von der Station „Triumphale Rückkehr“ zur Station „Blühendes Licht“ ist erlaubt, offenbar eine große Ehre für einen Ausländer. Die Bahnhöfe sind in den siebziger Jahren entstanden, bilden jedoch mit Fresken und Kronleuchtern den gloriosen Prunk der Stalin-Metro von Moskau nach. Auf dem Bahnsteig sind Ausgaben der Tageszeitung ausgestellt. Auf der heutigen Frontseite das Notenbild einer neuen Hymne auf die Partei. Die Züge sind aus ausrangierten Wagen der (West-)Berliner U-Bahn zusammengestellt. Das Interieur, aller Werbetafeln entkleidet, stellt den kaffeebraunen Resopalcharme der siebziger Jahre in Deutschland aus. In den Scheiben eingeritzte Graffiti, natürlich aus der Berliner Zeit.

Im Schatten eines Triumphbogens, der drei Meter höher ist als sein Pariser Vorbild und den Sieg über Japan darstellt, hat sich eine Art McDonald’s-Laden eingenistet. Der Betrieb heißt hier zwar anders, sieht aber fast genauso aus und bietet Chicken-Burger und French Fries an. Jungs in Anzug und mit gegeltem Haar drängeln sich am Tresen. Ich werde gebeten, in Euro zu zahlen, und bekomme ein 20-Cent-Stück zurück, mit dem Brandenburger Tor.

Hamhung ist eine Provinzhauptstadt im Nordosten von Pjöngjang, ein Zentrum der koreanischen Industrie. Die Fabriken stellen Düngemittel und Kunstfasern her, um das Land von Importen unabhängig zu machen. Denn Unabhängigkeit macht nach koreanischen Maßstäben stark.

Mein koreanischer Begleiter erklärt, dass man die heimische Kohleförderung ankurble, um eine eigenständige Stahlproduktion zu sichern. Seit dem Zusammenbruch der sozialistischen Wirtschaftsgemeinschaft Anfang der neunziger Jahre ist Nordkorea ein alleingelassenes Land. Einst hatte die Regierung Traktoren nach Sibirien exportiert und Getreide aus der Ukraine bekommen. Heute versucht sie sich in universaler Selbstversorgung. Auch in der Computertechnik: Die Regierung lässt die Geräte einkaufen und eine eigene Software entwickeln. Geheimcode statt Windows.

Gleich hinter den Häusern von Hamhung beginnt eine Traumlandschaft, die an das kanadische British Columbia erinnert. Bewaldete Höhenzüge mit Kastanien und Eichen, breite Flussbetten. Wir überholen Ochsenkarren und altersschwache, schwerbeladene Lkw sowjetischer Bauart. Ich sage meinem Begleiter, möglicherweise sei die Natur in diesem Land etwas Einmaliges. Ein Unique Selling Point. Ich muss ihm den Begriff erläutern und aufschreiben.

Mit unterwegs der Direktor der Europaabteilung im Außenminis- [122] terium. Obwohl seine Frau eine Cousine des „Geliebten Führers“ Kim Jong Il ist, sieht auch er diese Landschaft zum ersten Mal. Wir sind tatsächlich auf einer exklusiven Tour. Das halbe westliche diplomatische Corps sitzt mit im Bus. Der britische Botschafter, seit zwei Jahren im Amt, macht heute seinen dritten Ausflug aus der Hauptstadt.

Wir sind auf dem Weg zu einer Obstplantage, die die Welthungerhilfe gemeinsam mit den Landwirtschaftsbehörden aufgebaut hat. Zur Kooperative gehören etwa 2000 Menschen. Wenn das Wetter mitspielt, werden in diesem Jahr 200 000 Menschen mit Äpfeln versorgt werden können. Zum Picknick am Flussufer lässt sich der koreanische Diplomat gemeinsam mit den Botschaftern Europas im Schneidersitz nieder und stößt mit Whisky und Reisschnaps auf die kommende Ernte an.

Die Provinz hat zwar keine Ausländer, aber einen Ausländerbeauftragten. Der erzählt mir, die ostdeutschen Ingenieure in Hamhung hätten einst einige Frauen in die DDR mitgenommen. Er scheint aber nicht nachtragend zu sein: Damals hätten die Deutschen beim Aufbau geholfen, jetzt hülfen sie in der Landwirtschaft, sie seien ein verlässlicher Partner. Auch in der Chemie könnten die Deutschen helfen, der Industrie gehe es nicht sehr gut. Ich will wissen, wie sich eine solche Bitte mit dem Unabhängigkeitsgebot vertrage. Da zeigt mir der Beauftragte seine starken Zähne und meint, es sei Zeit aufzubrechen.

Pjöngjang hält bei unserer Rückkehr der einbrechenden Finsternis ein paar Lichterketten entgegen. Niemand hat bisher ein Wort darüber verloren, dass heute die Parteikonferenz stattgefunden und der „Geliebte Führer“ die Erbfolge für seine Dynastie gesichert hat. Nein, sagt der Koreaner an meiner Seite, die Lichter hätten nichts damit zu tun. Der Geburtstag der Partei stehe an. Am 10. Oktober werde das 65. Jubiläum gefeiert.

Am nächsten Morgen geht es über eine schnurgerade, fast leere vierspurige Autobahn zu einer Farm im Nordwesten. Stau ist zwar nicht schön, allein auf der Straße Fahren aber auch nicht. Die koreanische Volksrepublik hatte offenbar einst einen modernen Staat im Sinn, mit effizienter Infrastruktur, die Ströme an Menschen und Waren aufnehmen sollte. Doch dann kamen der Zusammenbruch der Sowjetunion und die sozialistische Marktwirtschaft nebenan in China, Nordkorea blieb allein. Mein Begleiter sagt, es gebe wenig Öl im Land, und deshalb verfügten nur Organisationen und wenige Privatpersonen über Autos. Busse seien das Hauptverkehrsmittel. Nur sieht man sie selten. Immerhin kommt uns einmal ein Doppeldecker als Geisterfahrer entgegen. Wir schießen an Leuten vorbei, die halb auf der Straße lagern und plaudern.

Ein Kindergarten der Farm Taepjong, knapp 200 Kilometer vor der Hauptstadt in der Stille der Äcker und Wälder gelegen, errichtet mit Spendenmitteln aus Österreich. Die Kinder gehören zur lokalen Kooperative und leben die meiste Zeit getrennt von ihren Familien. So sind sie besser unter Aufsicht zu halten, außerdem garantiert der Kindergarten eine bessere Ernährung. Dennoch sind die Zwei- bis Fünfjährigen, die uns im Hof ein Lied vorsingen, auffällig zart und klein. Am Eingang eine Wandzeitung, auf der die Leistungen der Kinderbrigaden in Kolonnen roter Sternchen dargestellt sind.

Zum Abschluss fahren wir auf der Autobahn Richtung Demarkationslinie. Bei der Ausfahrt aus der Stadt führt die Straße unter zwei weiblichen Riesenskulpturen hindurch, die mit ausgestreckten Armen eine koreanische Landkarte halten, das „Wiedervereinigungs-Monument“. Schon am Abend zuvor hatte mich die Bemerkung eines koreanischen Intellektuellen, der in Leipzig studiert hatte, überrascht, die DDR sei vor allem am Widerstand Honeckers gegen die deutsche Einheit zugrunde gegangen. Tatsächlich wollen die Nordkoreaner nichts sehnlicher als die Wiedervereinigung mit dem Süden. Zu ihren Bedingungen.

Kurz vor dem Grenzort Panmunjom weist ein gewöhnliches Straßenschild darauf hin, dass es von hier aus nur noch 70 Kilometer bis Seoul sind. Von ein paar Reisbauern abgesehen keine Menschenseele. Die Stätte des Waffenstillstandsabkommens ist in ein Museum verwandelt worden. Auf dem Parkplatz davor fragt mich eine junge Frau, woher ich komme. Sie selbst ist Chinesin aus dem Grenzort Dandong, begleitet von ihrem Vater, einem Geschäftsmann, und dessen Partner in Nordkorea. Es gibt sie also, die Privatwirtschaft und den Handel mit dem großen Nachbarn. Ich frage die junge Frau, wie sie Korea finde. Ein bisschen leise sei es hier, sagt sie. Dafür zerstöre man die Natur nicht so sehr wie bei ihr zu Hause.

Später führt uns ein Offizier durch die Gedenkstätte. Er lässt uns am Verhandlungstisch Platz nehmen, die Chinesen dort, wo einst der nordkoreanische Vertreter saß, uns auf den Stühlen der Amerikaner. Dann begleitet er uns zur eigentlichen Grenze und zeigt uns die Dächer des Dorfes auf der anderen Seite, ein südkoreanisches Banner und das Gebäude, in dem zur selben Stunde die seit zwei Jahren ausgesetzten Militärverhandlungen wiederaufgenommen worden sind. Mein Begleiter ist zum ersten Mal hier, er macht eifrig Fotos. Auch der Offizier lässt sich vor der Grenze ablichten.

Am letzten Morgen liegt Nebel über Pjöngjang. Ich weiß nicht, ob ich in diesen Tagen ein Stück streng behütete Wirklichkeit gesehen oder an einer Show teilgenommen habe. Vielleicht beides. Leises Land Nordkorea.

Kaum jemand spricht mit seinen Menschen, das Land spricht wenig mit dem
Rest der Welt. Möglicherweise kann Entwicklungshilfe einen Dialog herstellen, den die Politik versagt.

Mein anfangs schüchterner Begleiter ist mit der Zeit gesprächiger geworden. Wir haben zwar nicht über Sex geredet, aber immer wieder über den Unique Selling Point. Und jetzt will er wissen, ob ich wiederkommen möchte.

An der Passkontrolle lasse ich ihn und die deutsche Entwicklungshelferin Janz zurück. Sie winken mir durch die Glaswand zu, bis ich im Gang zum Flugsteig verschwunden bin. Ich verlasse einen Tränenpalast.