Grausam

Feuilleton
zitiert nach: Hans Bender [Hrsg]: Klassiker des Feuilletons, Stuttgart 1967. S. 176-178.

Was man im Vorbeigehen so aufschnappen kann.

Zwei Herren begegneten sich. Der eine sah aus wie ein Fünfzigjähriger, ein Mann der geistigen Arbeit, ein elastischer Denker. Der andere sah schon ein bißchen geschrumpft aus. Der Fünfzigjährige sagte zu dem Geschrumpften: „Sie sehen prächtig aus.“ Der Geschrumpfte meinte: „Ja, aber Sie müßten erst mein Älter wissen, ich bin nämlich kurz vor dem siebzigsten Geburtstag.“ Der Fünfzigjährige meinte, da könne man nur gratulieren, worauf der Geschrumpfte zurückfragte: „Nun, und Sie, wie alt sind Sie?“

„Es wird bald sechzig schlagen“, sagte der Mann, der wie ein Fünfziger aussah. Darauf betrachtete ihn der Geschrumpfte streng, wie man einen Schüler betrachtet, der sein Pensum bestehen soll.

„Man kann nicht sagen, daß Sie sich gut konserviert haben“, sagte der Geschrumpfte mißbilligend zu dem elastischen Fünfziger, über den bald das sechzigste jahr schlagen sollte.

Das war grausam. Man kann es nicht dabei bewenden lassen, zu sagen, der Geschrumpfte wäre unhöflich gewesen. Was er sagte, war nicht wahr. Der andere sah jung und wohlbehalten aus in Anbetracht seines Alters. Er sah freilich nicht mehr aus wie fünfundzwanzig. Und seit er fünfundzwanzig Jahre alt gewesen war, mochte er sich wie jeder andere Mensch dann und wann gesagt haben, daß die Maschine sich einmal abnützen würde, daß sie zu Ende laufen würde. Er mochte dann und wann gefühlt haben, daß der ferne Verfall leise, geduldig und vorab unsichtbar sich an sein Werk machte. Was half es ihm, daß er bei Kräften und bei Mannesfülle War? Wenn man es ihm ins Gesicht sagte, daß er nicht so aussehe, wie er auszusehen hätte, dann mußte er für einen Augenblick aus dem Gleichgewicht fallen, mußte sich für einen Augenblick sagen, der andere wird wohl recht haben, man hat es mir bloß nicht gesagt bisher, es geht wohl allmählich dahin. Und daß der Geschrumpfte nicht bedachte, daß sein ungezogenes Wort diese Wirkung haben müßte, war grausam.

Der Geschrumpfte erhielt keine Antwort. Der Mann, den er so übel angelassen hatte, war für eine Sekunde verblüfft. Wie gut stand ihm dies Schweigen. Habe ich dir nicht eben ein freundliches Wort gesagt, warum schlägst du mich jetzt dafür? Das fragte sein Schweigen. Er war verblüfft darüber, daß der Mensch den Menschen verwirrt, beunruhigt, quält.

Aber der Geschrumpfte hatte das Kompliment über sein eigenes Aussehen nicht als Wohlerzogenheit genommen. Man sah es seinem trockenen Gesicht an, daß er zu den Leuten gehörte, die nicht wissen, daß wir alle aus der gleichen Geburt kommen und daß jeder von uns die gleichen Bitterkeiten und die gleichen Freuden haben kann. Daß er, der Geschrumpfte, gut aussah, das war seine Leistung. Darüber war gar nicht zu reden. Das mußte selbstverständlich ein für allemal anerkannt werden. Er war ein solcher Meister des prächtigen Aussehens, daß er aus seiner Meisterschaft die Erlaubnis zog, den Stümpern der Daseinsbehauptung ihre Mangelhaftigkeit zu bescheinigen.

Daß er grausam war und daß er irrte, daß er selber schlechter aussah, auch für seine Jahre schlechter aussah als der andere, das ist nicht einmal das Beklagenswerteste an dem kleinen Gespräch, das wie Flugsand am Ohr vorbeiwehte. Aber daß ein Mensch den anderen im Stich läßt, daß er nicht daran denkt, seinen Baustein beizutragen zur Mauer der erhebenden, bekräftigenden, tröstlichen Rede, die wir gegen unsere Hinfälligkeit dauernd aufzuschichten bemüht sind, daß ein Mensch den anderen dem Zweifel preisgibt, das ist denn doch recht übel, auch wenn man es schon lange weiß. Sind halt rechte Menschen, die Menschen.