Remember New Journalism 5

Kolumne
alle zwei Wochen auf waahr.de
Joachim Lottmann erlebt zwischen Weihnachten und Neujahr die schönste Zeit seines Lebens – im Krankenhaus!

Weihnachten im Krankenhaus ist eigentlich ganz schön. Alle sind so lieb und aufgeregt-festlich. Natürlich nur in einem erzkatholischen Krankenhaus wie meinem, dem Sankt-Gertrauden-Krankenhaus in Berlin-Wilmersdorf. Hier wird seit 1929 der katholische Klerus hochgehalten. Der Papst – manchmal noch der deutsche – hängt in allen Fluren und Zimmern. Das ist natürlich sehr angenehm.

Ich bin am 21. Dezember operiert worden. Schon um 8 Uhr morgens. Schon vorher musste ich mich bereithalten, um sieben. Um halb acht bekam ich eine Vollnarkose. Natürlich hatte ich schon früh aufstehen müssen, um rechtzeitig zum Krankenhaus zu kommen, nämlich um 4.30 Uhr. Ich hatte den ganzen vorhergehenden Tag vorausgeschlafen. Auch hatte ich mich seit Tagen und sogar Wochen innerlich gut auf alles vorbereitet. In Gedanken war ich alle Schritte zigmal durchgegangen. Sogar meine Besuche im weltlichen Vivantes-Krankenhaus in Friedrichshain, wo ich meinen Bruder besuchte, dienten nebenbei auch zur Vorbereitung. Ich hatte nämlich schon im Herbst begonnen, einzelne Krankenhäuser, die ich im Netz herausselektiert hatte, testweise zu besuchen und mir anzusehen. Die Unterschiede waren extrem, und das weltliche Vivantes-Krankenhaus schien für meine Bedürfnisse am ungünstigsten zu sein.

Nun also zur Operation. Alle Mitarbeiter machten vom allerersten Moment an – schon am Telefon – einen warmherzigen und fröhlichen Eindruck auf mich. Nun wurde ich innerhalb von Minuten, später Sekunden, von einem guten Dutzend fachmännischen Mitarbeitern (Ärzten, Pflegern, Fahrern, Narkotiseuren, Schwestern, Supervisern, Protokollanten, Kontrolleuren, Assistenten, Drogisten) durch fünf bis sieben Stationen geleitet, bis hin zur raschen Ohnmacht nach Einsetzen der Spritze und zum Zuführen des Lachgases. Gleich danach wachte ich auf, und zwar vollkommen klar im Kopf. Dreieinhalb Stunden war operiert worden, fünf Stunden hatte ich im künstlichen Schlaf gelegen. Man sprach mich an, Leute gingen hin und her, beachteten mich, machten Scherze mit mir. Die nächste Stunde verging schnell. Dann wurde ich auf mein Einzelzimmer geschoben. Dort waren bereits meine drei Koffer deponiert und aufgestellt worden, ebenso meine Kleidung, meine Wertsachen, die drei Handys und der Computer. Das Portemonnaie war im Safe verstaut worden, dessen Code nur ich wusste. Man behandelte mich wie einen Fürsten, was seinen Grund darin hatte, dass ich mich bereits im November mit dem behandelnden Oberarzt befreundet hatte. Er kannte meine Bücher. Mit seinem Assistenzarzt war ich sogar in Berlin ausgegangen, hatte eine Lesung besucht und seinen Geburtstag gefeiert.

Nun war die Operation vorbei und damit das Wichtigste. Der erste Tag war damit aber noch nicht zu Ende. Es war ja erst Mittag. Ich freute mich, meine Sachen um mich zu haben. Und natürlich war ich durch die verabreichten starken Drogen euphorisch und blieb es noch lange. Wirklich beeindruckt war ich nicht nur von der Freundlichkeit des Personals, sondern auch – meine Frau wird es nicht gern hören, auch wenn sie selbst physisch attraktiv ist – von der geradezu unglaublichen Schönheit der Ärztinnen. Sie sahen nämlich allesamt wie Schauspielerinnen aus. Ich hätte schwören können, dass in dem Gertrauden-Krankenhaus gerade eine Klinik-Soap gedreht wurde, mit jungen professionellen männlichen und weiblichen Fernsehstars, und dass natürlich echte Ärzte niemals so aussehen könnten. Und doch war es so. Aber nicht nur deswegen wurde dieser erste vollstationäre Tag der glücklichste für mich, während die folgenden dann, von Tag zu Tag mehr, ungeahnte Abstürze für mich bereithielten, bis hin zu nächtelangen Panikattacken und Todesängsten. Das hätte ich nicht gedacht, übrigens. Und es ist auch ein bisschen übertrieben. Man kann es nämlich auch genau umgekehrt ausdrücken: gerade weil ich den treuen Pfleger nur Sekunden entfernt wusste, und mit ihm alle Ressourcen des potenten, aktuellen, hochgerüsteten Klinikapparates, hatten die Panikattacken etwas von einem lächerlichen, kindischen, chancenlosen Angriff. Ich konnte mir jederzeit Morphium geben lassen und die Angst wäre weggewesen. Ich fand dann einen (noch) besseren Weg, indem ich Patientenerfahrungen im Internet las. Und siehe da: die Leute hatten alle dieselben Symptome, ihr Körper reagierte hysterisch auf das Mittel, das man auch mir spritzte, Cortison. Als ich das wusste, ließ ich mir einfach schwere Schlafmittel geben und machte mir keinen Kopf mehr. Ein weiteres Mal konnte ich also sehen, wie angenehm es sich in heutigen Zeigen leben lässt, um wieviel besser als in einer Vergangenheit, die noch kein Internet kannte.

Am nächsten Tag kam der neue SPIEGEL auf den Markt, und ich hatte ihn mir bestellt, zusammen mit einigen speziellen Tageszeitungen. Das konnte man nämlich. Also ich zumindest. Eine junge Schwester, oder sonst wie Angestellte, war in mein Zimmer gekommen, mit einer Liste, und hatte nach allen möglichen Sonderwünschen zum Frühstück gefragt. Man konnte das Ei vier, fünf oder sechs Minuten lang kochen lassen, oder das Müsli ohne Früchte und dafür mit mehr Nüssen haben, oder seltene exotische Joghurtsorten, die man dann rechtzeitig holen musste – ich bestand auf Sojajoghurt mit Mandelgeschmack von ‚Alpro‘ – und eben Zeitschriften nach Wunsch. Für mich war der SPIEGEL ein Muss, dazu die Bild-Zeitung, der Tagesspiegel und die von mir besonders geschätzte ‚WELT kompakt‘.

Das alles und noch viel mehr war vielleicht auch deshalb möglich, weil mein Arzt den betreffenden Mitarbeitern anscheinend erzählt hatte, ich sei Privatpatient. Jedenfalls glaubten das nachweislich einige. Bei anderen machte die Aussage, ich sei ein berühmter Schriftsteller, wohl eine ähnliche Wirkung. Man muss dazu wissen – oder sagte ich es schon? –, dass ich bisher so gut wie keine Erfahrungen mit Krankenhäusern hatte, ja mit Krankheiten überhaupt. Es war ein Thema, das ich so langweilig fand wie Gespräche über das Wetter oder die Rente. Vielleicht hatte ich deshalb diese Operation, die mir ein neues Ohr bringen sollte, so lange vor mich hergeschoben. Der Unfall mit dem Silvesterböller war ja schon vor 22 Jahren geschehen. Ich wusste natürlich, dass der technische Fortschritt gerade im Nanotechnikbereich von Jahr zu Jahr rasant aufwärts ging. Noch vor zehn Jahren hätte ich mir das lebende Ohr eines jungen Hundes implantieren lassen müssen – der dafür getötet worden wäre –, während jetzt ein winziger Chip genügte, der die Hörleistung des jungen Hundes sogar noch um zwanzig Prozent übertraf. Ich hatte also keine Erfahrungen mit Kliniken, und diese keine mit Schriftstellern. Es war für beide Seiten die (nahezu) erste Begegnung.

Ich blätterte den SPIEGEL auf und begann die Titelgeschichte. Sie hatte die Überschrift: „In der Krankenfabrik. Ausgelieferte Patienten, ausgebeutete Ärzte: Innenansicht unserer Kliniken“. Wie durch ein Wunder war also ausgerechnet in der Woche meines eigenen Krankenhausbesuches ein SPIEGEL-Titel zum Thema ‚Klinikwahnsinn‘ erschienen. Es war natürlich wieder genau dieses Ärzte-Bashing, das alle alten oder dummen Leute seit wahrscheinlich ewigen Zeiten betrieben. Dieselben Leute schimpften auch gegen die unmenschliche Pharmaindustrie, den gefühlten Sozial-Abbau, die immer unsicherer werdende Rente und so weiter. Als wenn sie irgendjemand zwingen würde, die unsinnigen Medikamente zu nehmen, oder dauernd zu den Ärzten zu rennen. Es waren gehirnentkernte Zombies in meinen Augen, diese Wutbürger, die noch nicht einmal mitbekommen hatten, dass das Leben endlich war. Und schön natürlich.

Ich sah auf das wunderbar vertrauenserweckende Hauptgebäude des Gertrauden-Krankenhauses, erbaut 1930, im Kriege völlig verschont, und schlürfte gerade voller Wohlbehagen den letzten Schluck des frisch gepressten Apfelsinensaftes, als meine Frau ins Zimmer trat. Sie war mit dem Flugzeug aus Wien gekommen, und die Freude des Wiedersehens ließ bei uns beiden Tränen aufsteigen. Sie hatte mir Mandarinen und vier Bücher über Stefan Zweig mitgebracht. Erst später entdeckte sie den sogenannten Papstbären, den ich selbst in den Schaukasten gestellt hatte, in dem sich bereits die Bibel und religiöse Schriften befanden. Dieses Plüschtier stellte den abgetretenen Papst Benedikt XVI dar, hatte das Papstgewand an und ein Kreuz um den Hals. Meine Frau hasste den etwa handgroßen Teddy, da sie die katholische Kirche nicht mochte, aber für meinen Aufenthalt im Krankenhaus war er nützlich. Bei der täglichen Seelen-Visite, die ein ganz ähnlich gekleideter Bischof oder Priester mit seinen vier jungen Assistenten vornahm, erzielte der seltsame, aber auch süße Papst-Bär hohe Aufmerksamkeit und vor allem die Sympathie der Ministranten. Ich weiß natürlich nicht, ob es Ministranten waren, da ich mich mit der Hierarchie des Klerus nicht auskenne.

Ich bekam nur selten Besuch und wollte es auch so. Da ich grundsätzlich nicht über Krankheiten sprach, wusste fast niemand von meinen Tagen in der Klinik. Am zweiten Tag kam Elena Plaschg, die mir einen selbstgenähten Afrikaner brachte. Sie hatte sicher lange daran gesessen. Es war eine Art Stoffpuppe aus schwarzem Stoff, der Mund und Nase fehlten. Da dauernd diese strahlend schönen Filmärzte und -ärztinnen ins Zimmer kamen, um mit dem Schriftsteller ein paar Witze zu reißen, hatte ich ja meine Hetz, wie der Wiener sagt. Also genug Unterhaltung. Außerdem hatte ich meinen Facebook-Account gelöscht. Das klingt widersinnig, nicht wahr? Sollte man nicht gerade in solch kritischen Tagen die Unterstützung seiner tausendköpfigen Facebook-Freundesschar gut gebrauchen können? Dazu kann ich ganz im Vertrauen mitteilen: so ist es nicht. Ganz im Gegenteil hat mich das Verstummen des endlosen weltweiten Geredes seelisch erleichtert. Dieses Nicht-mehr-Verbundensein mit so vielen. Es war, als würde man nach einer stundenlangen Straßenbahnfahrt zur Hauptverkehrszeit endlich in der ruhigen Stube angelangt sein, die Einkaufsnetze abgelegt haben und den schlafenden Hund streicheln. Oder so. Ich habe ja keinen Hund. Nicht einmal das Ohr von einem Hund, Gott sei Dank.
Am dritten Tag kam mein Cousin Spundi. Er brachte mir einen italienischen Kuchen namens Panettone oder so ähnlich mit, in einem festen Pappkarton verpackt. Ich hatte Spundi seit dem gemeinsamen Exodus der Familie in den 70er Jahren nicht mehr gesehen, aber ich erkannte ihn sofort wieder. Unsere Eltern mussten damals aus Bayern fliehen, als Strauß an die Macht kam und der politische Katholizismus. So schloss sich der Kreis. Aber darüber redeten wir natürlich nicht. Sondern über Tagespolitik. Spundi war ein glühender Liberaler geworden, wie sein geflüchteter Vater einst, und so verteidigte er die Merkel. Das hatte man ja auch nicht oft, dass jemand noch hinter der Regierung stand.

Spundi hatte meinen Aufenthalt durch meinen Bruder erfahren, aber der kam nicht. Dafür wieder die Ärzte. Irgendwann kam der Oberarzt und beschrieb mir in einem viertelstündigen Vortag ganz genau die Operation, die er an mir vorgenommen hatte. Selten zuvor hatte mich ein Vortrag so gefesselt wie dieser. Es lag gewiss nicht am Stoff, sondern an der ungemein intensiven und durchgeistigten Art, in der der Professor sprach. Ich hatte das Gefühl, mit einem Menschen zu sprechen, der ganz und gar gesammelt, konzentriert, und ohne intellektuelle Schlacken im Gehirn existierte. Als wenn man ein Konzert von Barenboim im Wiener Konzerthaus hörte und keinen kratzenden alten Mitschnitt im eiernden CD-Player. Und so sah der Mann auch aus: groß, schlank, kein Gramm zuviel am drahtigen Körper, wache aber ruhige Augen, himmelblau in der Farbe, der Kittel natürlich blendend weiß, als würde er stündlich gewechselt.

Dann waren wieder die herrlichen Ärztinnen dran, oder die lieben Schwestern, seltener die Leute von der Seelsorge. Letztere hatten viel zu tun, da doch Weihnachten war und Silvester bald folgen würde – ebenfalls ein seelisch heikles Datum für viele Menschen. Kurioserweise hinterließen am Ende ausgerechnet die Pfaffen – das soll nicht abwertend klingen – einen enttäuschenden Eindruck bei mir. Ich hatte nie das Gefühl, dass der Oberpriester mich ansah, wenn unsere Blicke sich kreuzten. Er sah durch mich hindurch wie durch ein Glas Wasser. Hatte er in Erfahrung gebracht, dass ich gar nicht in der Kirche war? Oder wusste er, vielleicht durch meine Bücher, oder durch einen entsprechenden Hinweis auf Wikipedia, dass ich den neuen Papst Franziskus, in meinen Augen ein geheimnisloser, diesseitiger Medienstar, ablehnte?

Ich bekam keinen Draht zu ihm. Da half mir schon eher ein Fürbittegebet, das Matthias Matussek für mich in einer Hamburger Kirche Richtung Maria absetzte. Da ging es mir gleich besser. Aber, wie gesagt, es ging mir ohnehin meistens gut. Meine Frau wollte mich schon nach drei Tagen unbedingt aus dem Gebäude heraushaben. Sie meinte, dass es leicht sei, in ein Krankenhaus eingeliefert zu werden, aber sauschwer, wieder lebend herauszukommen. Im Prinzip teilte ich ja diese Einstellung, und so fuhr ich am zweiten Weihnachtsfeiertag wieder nach Hause. Vorher ließ ich mich theatralisch im Rollstuhl durch alle Abteilungen, die ich kennengelernt hatte, fahren, und verabschiedete mich von den netten Mitarbeitern. Nur ein einziges Mal hatte ich, für Sekunden, eine Schwester alten Schlages erlebt, eine Person also, wie sie zerrbildhaft in allen Schimpftiraden der Rentner, Wutbürger und eingebildeten Kranken vorkommt. Mit herrischer, soldatischer Stimme wies mich eine etwa 45-Jährige, rigide, kurzhaarige Frau zurecht, als ich darum bat, mir einen leicht gezuckerten Latte Macchiato mit Extra Schaum zu bringen, nur für das Warten vor einem der täglichen Hörtests. Ich musste da manchmal minutenlang im Rollstuhl vor dem Zimmer ausharren, ohne Begleitung, ohne Unterhaltung, also wenn mich nicht der Privatpfleger Herr Franck gebracht hatte. Den scheppernden Kommisston dieser autoritären Schwester werde ich nicht vergessen. Ich fühlte mich wie ein Bub aus der dritten Klasse Grundschule. Nun hoffte ich wohl, der Person bei meiner Abschiedstour noch einmal zu begegnen, vielleicht um die Personalien zu ermitteln, den Namen – dann hätte das Krankenhaus etwas dagegen unternehmen können – aber ich sah sie nicht. So wird sie wohl auch weiterhin Teil der sonst so harmonischen Belegschaft sein und das Gesamtbild womöglich um ein Winziges trüben. Egal.

Nach der Operation hatte ich ein großes Schwindelgefühl, das lange Zeit nicht nachließ. Erst als ich herausbekam, dass es am Cortison lag und ich das Mittel heimlich absetzte, wurde es besser. Nach einer Woche ging es ganz weg, und jetzt, am ersten Tag des neuen Jahres 2017, bin ich vollkommen wiederhergestellt. Die Tage, die hinter mir liegen, waren die erholsamsten, die ich je hatte, und hören tue ich jetzt besser als je zuvor, nämlich zwanzig Prozent besser als der junge Hund, der am Leben bleiben durfte.