Schönheit Beauty Beauté

Essay
zuerst erschienen 2006 in All Season Fashion Paper

Auf einem Selbstbildnis des Malers William Hogarth von 1745 findet sich auf der Palette, die in der rechten Hand des damals 53-jährigen Malers ruht, ein seltsamer Gegenstand: Eine sanft geschwungene Linie, doch scheint diese von rundlichem Querschnitt; auch wirft sie einen Schatten – scheint also keine Linie zu sein, sondern ein Gebilde, etwa aus Draht. Die von Hogarth sogenannte „Line of Beauty and Grace” – diese Bezeichnung findet sich nebst seinen Initialen als eine Gravur in dem Holz der Palette wiedergegeben – wurde so von ihm in die Kunstgeschichte als Begriff eingeführt, avant la lettre wie man sagen muß, als ein Rätsel nämlich zunächst, denn Hogarths Theorie der Schönheit zu Zeiten des Barock, seine „Analysis of Beauty“ erschien erst um 1753, elf Jahre vor seinem Tod.

Der Rätselhaftigkeit seines Gebildes zum Trotz erhebt die „Linie“ den Anspruch eines ästhetischen Prinzipes und dies vor allem dadurch, daß ihre Form keinerlei Berechnungsgrundlage folgt, wie das beispielsweise bei der erprobten Schönheitsformel von dem Goldenen Schnitt der Fall gewesen war. Der Goldene Schnitt leitet sein Gesetz der Schönheit her aus eindeutigen Proportionen; Hogarths Linie postuliert ein willkürliches Wesen der Schönheit; etwas seelisches, unergründliches, dennoch wahrhaftiges kommt somit ins Spiel. 

Mit seiner romantischen Behauptung, das Wesen der Schönheit ließe sich in einer abstrakter Form sichtbar machen, brachte William Hogarth eine Idee zur Welt, deren Einfluß bis in die Mode unserer Zeit hinein reichen sollte: So mannigfaltig ihre Stile in die unterschiedlichsten Richtungen deuten, so qualitativ unterschiedlich die geschichtlichen Vorbilder sowie deren Milieus auch sind: Im Grunde soll dies alles doch nur Schönheit zum Ausdruck bringen; liegt also all diesen Anspielungen, Inspirationen, Visionen auch, eine fixe Idee von Schönheit zugrunde?

 Von dem ballonförmigen Rock des letzten Jahres ist es ein wahrlich himmelweiter Weg bishin zu dem hochgerutschten Saum der Empire-Modelle aus vergangener Saison. Allmählichen Entwicklungen sind selten zu entdecken, die Stilgeschichte unserer Mode ist wie längst vorher schon die unserer Welt sprunghaft geworden, nun hat auch sie ihren evolutionären Charakter abgelegt, was vor zwei Jahrzehnten noch möglich war – nämlich anhand Rocklängen und Gürtelbreiten etwas zeigen zu können – das funktioniert inzwischen nicht mehr. Einher damit geht, daß Mode auch weniger und weniger aussagen kann. Daß es nicht die Perfektion von Schönheit ist, nach der die Kunden heute noch streben – die Schönheit der Mode ist bereits perfekt, sie entspricht jedermanns Geschmack und alles ist bereits da – sondern die Vollständigkeit all ihrer Aspekte. Daß eine neue Stilrichtung eben keine radikale Entscheidung mehr voraussetzen kann, keinen Sinneswandel mehr, sondern allenfalls die flaue Frage: „Brauche ich das wirklich auch noch, oder doch lieber nicht?“.

Das Saisonprinzip der Modehäuser – jedes halbe Jahr eine Revolution - steht somit vor der Auflösung, teilweise sieht es sich bereits aufgegeben, da der Handel, eigentlich also die Menschheit nach rascheren Ablösungen von Modeströmungen und Stilrichtungen verlangt.  Daß es nicht einmal mehr um das Prinzip der Innovation geht, nicht um den Schöpfer, das zeigt sich an dem etablierten System simultaner Billigkopien neuer Stilmerkmale durch Handelsketten wie Zara, H&M et cetera. Die Mode soll nicht mehr überwältigend sein, auch nicht mehr exklusiv und begehrenswert sondern verfügbar. Durch diese Disziplierung ihres Wesens hat die Mode stark an Bedeutung verloren – oder gibt es etwa noch Innovationen zu bestaunen oder aus tiefstem Inneren abscheulich zu finden? Abnicken ist ein Wort aus dem Jargon unserer Zeit. Ist denn nicht eigentlich doch alles irgendwie, irgendwo, an irgendwem schön?

Schönheit, schon immer ein Konzept, besitzt heute endlich den Charakter von Hogarths Linie: Seelisch, unergründlich, dennoch wahrhaftig. Ein Spiel. Dabei allerdings mit wenigen, dafür ewig zu nennenden Fixpunkten versehen: Wir entdecken die ewige Schönheit in den edlen Zügen eines gealterten Gesichtes – vielmehr in der Geschichtlichkeit dieses Gesichtes, dessen Person es fertiggebracht hat, in solcher Schönheit zu altern. Ewige Schönheit auch an den Bewohnern eines ärmlichen Landstriches: Schön, wie sich vor Behelfsbauten und Halbverfallenem die sauberen und gebügelten Kleidungsstücke absetzen dürfen. Mit welcher Würde sich die Menschen dort gegen die Verhältnisse ihres Lebensraumes ankleiden. Ähnlich der ewigen Schönheit, die uns anspricht aus dem Bild eines Paares von Liebenden: Um die Vergeblichkeit wissen wir doch, von der Vergänglichkeit sind wir überzeugt – und dennoch bedeutet es uns den Inbegriff von Schönheit, dann ist es anmutig, wenn zwei aus unserer Mitte sich gesucht und so innig gefunden zu haben scheinen.

Ewige Schönheit funktioniert beinahe instinktiv, sie spricht uns an, hier befinden sich Anmut und Schönheit dicht aneinander geschmiegt. Aber neben der Verkörperung unserer umfassenden Wunschvorstellungen von Unversehrtheit, Würde und Glück, jenen ewig zu nennenden Werten, die unseren Schönheitsbegriff prägen, bietet die Modeindustrie eine zweite Version an, dessen Wesen sich – ebenfalls nach Hogarth formuliert – weitgehend willkürlich äußert: Es ist die flüchtige Schönheit durch Mode, die sich an anderen Wunschvorstellungen orientiert, nämlich vor allem an Reichtum, an Einzigartigkeit und Attraktivität – Erhabenheit also im Grunde, Sehnsucht nach Erhabenheit über die Masse der Verwechselbaren, die so schön erst durch die Vermarktungsstrategien der Mode selbst werden konnten.

Doch begründet sich der Schönheitsbegriff der Modeindustrie auf keinem ästhetischen Wert, sondern bietet diesen allenfalls vorübergehend zum Kaufe an. Aufschlußreich sind da zu jeder Saison die Regiegebote der Designer für ihre Modelle: Groß aufgemalt auf Papptafeln in den Schminkstudios hinter den Kulissen der Laufstege steht dann beispielsweise: „Sei glücklich!“ an einer Wand, darunter „Du bist unverwundbar!“, „Sexy“,„Ein Gott“. Allein das Vorhandensein solcher Instruktionen, die mit jeder Kollektion sich grundsätzlich ändern dürfen – je nachdem nämlich, mit welcher zur Schau getragenen Einstellung die Kleidungsstücke de rigeur sich idealerweise in Szene setzen lassen – nährt den Zweifel, ob sich ausgerechnet die Mode als ein Hort von Anmut und Schönheit noch betrachten läßt. Oder ob es vielmehr nur die Kursschwankungen dieser Branche, die Ups und Downs von Designern, Marken, Trends, Kritikermeinungen sind, die insgesamt an die Geschwungenheit von Hogarths Linie, an eine Komplexität von Schönheit und Anmut erinnern lassen.

Schönheit entsteht heute zuverlässig durch den Verzicht auf Mode. Durch die Vermeidung jener starken Reize, die von der Kundschaft gefordert werden. Durch den Verzicht auf das Spektakel. Schönheit bedeutet den Show-Stop, einen „Nicht-Hingucker“, um den Jargon unserer Zeit mit einem Begriff zu bereichern. Die Großartigkeit der Kollektionen von Helmut Lang bestand bis zum Schluß in deren Ereignislosigkeit, in dem klassischen Anspruch, den wenigen Farben, den minimalen Verbreiterungen oder Vereinfachungen der Details. Wie auch die Modernität Albert Stifters sich heute erst vollends offenbart, wie diese scheinbar öden, scheinbar gleichgearteten Geschichten plötzlich als Science Fiction gelesen werden können, so wird es mit der Mode von Helmut Lang bereits in wenigen Jahren sein – gemessen daran, daß die Stilgeschichte bedeutend rascher sich abspult als die der Literatur: Man wird die der Mode machbare Schönheit dann dort in Vollkommenheit finden. Ewige Schönheit und schöne Flüchtigkeit lagen darin eng aneinandergeschmiegt. Und das zu schaffen braucht es übrigens auch Mut – den Stifter ebenfalls hatte: Sich selbst einzugestehen, daß man zu vermeintlich größeren, originelleren hochfliegenden oder gar totaleren Ideen nicht fähig ist. Daß man doch nur Anmut will, Schönheit kann: Beauty and Grace.