The Life Ghanatic III

von 
Tagebuch
Waahr-Originaltext
Anne Waak verbrachte Ende 2017 ein paar Monate in Ghana. Für Waahr schrieb sie ein Tagebuch über den westafrikanischen Alltag.

Dezember

1.12.

Den ersten Tag verbringt die Yaipei Queen also damit, LKW und Busse zwischen den Häfen Yeji - Makongo hin und her zu fahren, insgesamt sechs Mal. Nicht das Fahren dauert, sondern das Be- und Entladen. Ich lagere fertig auf einer der Holzbänke des Passagierraumes und lege mir eiskalte Wasserpäckchen auf die Stirn, zu erkältet zum Lesen. Kurz vor Einbruch der Dunkelheit kommt mir eine Idee, die mir angesichts meines schwächlichen Zustandes geradezu mcguyverhaft erscheint: Ich nehme mir eine der herumliegenden rattigen Schaumstoffmatratzen, werfe einen der Stoffe, die ich gekauft habe, darüber, drehe den Haken, der zum Zubehör meines Moskitonetzes gehört, in die Sperrholzdecke über dem Tisch und breite das Netz über meinem neuen Bett aus. Hart ist es immer noch, aber immerhin liege ich nicht auf dem bloßen Holz. Noch vor 19 Uhr schlafe ich trotz der Geräusche der anderen Passagiere um mich herum und dank des Schiffsmotorenlärms ein, mit Unterbrechungen (in denen ich mich zur Heilerzieherin setze, die eine 33-jährige vierfache arbeitende Mutter interviewt, die mit der jüngsten Tochter in Accra lebt, während ihr Mann in einer anderen Stadt arbeitet und die drei älteren Töchter versorgt. Zwei weitere Kinder hätte sie schon noch gern) bis ich kurz nach Sonnenaufgang aufwache. Als mir die Köchin, Esi, einen Kaffee gemacht hat, den ich auf dem einzigen Liegestuhl an Deck sitzend trinke, geht es mir wieder hervorragend.

Und fast genau 24 Stunden nachdem wir die Fähre betreten haben, nehmen wir auch Kurs auf das ursprüngliche Ziel Akosombo. Der Beginn der Kreuzfahrt all exclusive - was ja auch nicht ganz stimmt. Alles, was an einer Kreuzfahrt Spaß macht, ist da: das Wasser, die Sonne, die Langsamkeit, in diesem Fall noch die Landschaft, die immer grüner, hügeliger und schöner wird, je weiter wir Richtung Süden kommen. Alles, was unerträglich ist, fehlt: das unendliche Essen und das Entertainment-Programm, mit denen die Langeweile getötet werden soll; die Menschen, die sowas normalerweise machen.

Backbord zieht in der Ferne Ho vorbei, die Stadt, die 1884 Teil der deutschen Kolonie Togoland wurde und in der bis heute das Hauptquartier der Norddeutschen Mission sitzt.

Leider, heißt es von der Brücke, stimme etwas mit dem Motor nicht, man könne nicht mit voller Geschwindigkeit fahren. Statt wie bislang am Freitagmorgen werde mit einer späteren Ankunft gerechnet. Der Rekord für die auf 36 Stunden angelegte Fahrt liegt wohl bei 70 Stunden. Ich glaube, den könnten wir einstellen. Zumal, das wusste ich vorher nicht, das Schiff in verschiedenen Dörfern entlang der Strecke Halt macht. Beim ersten Mal entsteht mit dem Anlegen am Strand eine Art Instant-Markt. Zwei Frauen haben gleich hinter der Rampe säckeweise Second-Hand-Kindersachen aufgetürmt (gebrauchte westliche Klamotten werden obruni wawu genannt – Kleidung des toten weißen Mannes). Von der Landseite kommen Frauen und Kinder durchs Wasser aufs Schiff und beschauen die Ware. Derweil werden große Mengen Trinkwasser in 15-Liter-Säcken ins Dorf abgeladen und frisches Huhn und gekochter Reis gebracht, Nachschub für die Köchin, und Snacks für die Passagiere. Dann hupt der Kapitän wieder und die Dorfbewohner laufen von Bord.

Der zweite Halt, Stunden später, ist ein Lehrgang in lokaler Wirtschaft: dem Yamhandel. Die unterschenkelgroßen Wurzeln, die Ernte des Jahres, liegt von Stroh vor der Sonne geschützt am Ufer. Frauen türmen Dutzende von ihnen in große Blechtröge und wuchten sie sich mithilfe zweier weiterer Frauen auf den Kopf. Dann gehen sie die etwa 200 Meter vom Ufer durchs hüfttiefe Wasser aufs Schiff, wo wieder zwei Leute ihnen dabei helfen, die Fracht abzusetzen. Männer sind an dem Verladevorgang nur ganz am Ende beteiligt, beim behutsamen Einsortieren der Yams in die Sperrholzkäfige. Frauen machen die Knochenarbeit, Männer die, für die man Sorgfalt benötigt. Dazu hätte ich gern mal einen dieser langweiligen Evolutionstheoretiker gehört.

Einer der Belgier kann es jedenfalls nicht mit ansehen und hilft beim Abladen der Tröge. Am Anfang verlachen ihn die Frauen ein bisschen, sie finden es wohl eigenartig, dass ihnen ein 65-jähriger Obruni bei ihrer Arbeit hilft, aber dann nehmen sie seine Dienste gern in Anspruch und bedeuten ihm, zu welchem Käfig ihre Kopffracht gehört. Jede der Wurzeln ist am breiten Ende mit einem farbigen Punkt oder Strich gekennzeichnet, jeder der 32 jeweils zwei Kubikmeter fassenden Käfige mit einem Händlernamen – Comfort Adzove, Eric, Vic Ayyenye, Awo – Thank you God – sodass Verwechslungen ausgeschlossen sind. Die Trägerinnen bekommen, das erzählt mir Esi, 2,5 Cedis pro 100 transportierten Yams. Das sind nicht mal 50 Cent, mein Kaffee an Bord kostet mehr. Anders als sonst immer hat keine der Frauen ein Kind im Tragetuch auf dem Rücken dabei. Ich nehme an, weil die Gefahr zu groß ist, dass eine der Yams herunterfällt und dem Nachwuchs auf den Kopf kongt.

Die ganze Verlade-Operation wird von einer uralt aussehenden, sehnigen Frau im schwarzen ärmellosen Kleid geleitet, ich taufe sie die Queen of the Yams. Sie fährt die weitere Strecke mit und regelt Schicksal der Yams am Zielort. Es handelt sich um die Sorte Pona, sie gilt als die süßeste und wohlschmeckendste Art überhaupt. Aus Yams wird Fufu gestampft, einer der beliebtesten Bestandteile der ghanaischen Küche, man kann sie aber auch in Scheiben geschnitten und frittiert kaufen. Dann ist sie sehr trocken, aber auch sättigend. Jedes Jahr zur Erntezeit im Oktober werden Yam-Feste gefeiert. Der Chef-Ingenieur nimmt sich viel Zeit, mir den Prozess des Boden-Vorbereitens, des Samen-Ausbringens und der Erntezyklen zu erklären, er holt zur Verdeutlichung zwei verschieden aussehende Yamsurzeln herbei. Während des Halts kommen zwei Putzfrauen an Bord, um die Sechser-Crew-Kabinen zu säubern. Ihre Wäsche dagegen waschen der Kapitän, der zweite Kapitän und die Ingenieure in Eimern selbst, bevor sie sie zum Trocknen über die Reling hängen.

Patrick (passenderweise trägt einer von der Crew ein T-Shirt mit einem großen Sponge Bob auf der Brust, ich freue mich jedes Mal, wenn ich ihn sehe), mit 25 der jüngste der Ingenieure, erzählt mir von seinen Plänen, seinen Master in Europa oder den USA zu machen, er weiß nur noch nicht genau, wie er dahin kommt. Ich erzähle ihm von dem Ghanaer in meiner erweiterten Familie und dass der mit einem Deutschen verheiratet ist und deswegen bleiben darf. Patrick weiß nicht nur, dass in manchen Ländern Europas Männer andere Männer und Frauen andere Frauen heiraten, es schockiert ihn nicht einmal. Er erzählt mir stolz von seiner Freundin, einer Britisch-Ghanaerin, die in Accra für eine NGO arbeitet. Peter, der Elektriker, setzt sich zu mir und fragt, ob er meinen Reiseführer anschauen darf. Dann liest er das Kapitel zur Yapei Queen und sagt: »Das Buch ist sehr gut«. Er lobt auch meinen orangenen Textmarker – so sehr, dass ich ihn ihm schenke.

Pünktlich gegen 16.30 Uhr fängt die schönste Zeit an: Die Sonne brennt nicht mehr, taucht alles in dieses warme Licht, die Arbeit ist geschafft, es wird die zweite Dusche des Tages genommen (das erfordert ein wenig Abstimmungsarbeit, weil immer jemand im Handtuchrock oder -kleid auf dem Weg von oder zur Dusche zu sein scheint. Der unaufgeregte Umgang mit Nacktheit und Körperlichkeit ist ein eigenes Kapitel, zu dem meine Forschungen noch nicht abgeschlossen sind), es wird ein Bier geöffnet oder eine Cola in einer dieser hübschen Glasflaschen, die es bei uns längst nicht mehr gibt und die aussehen, als wären sie seit 1977 im Recycle-Umlauf.

Am Abend erreichen wir Kete-Krachi (ich werde von einem Passagier, der auf dem Weg zur Beerdigung seiner Stiefmutter ist, eingeladen mitzukommen, was ich leider, leider ablehnen muss. Bei der Beerdigung seines Großvaters seien 400 Leute gewesen), wo das Deck mit weiterer Fracht vollgeladen wird, bis wirklich kein Platz mehr ist. Das erste Drittel der Strecke ist geschafft. Die Belgier beschließen angesichts der Verspätung, von Bord zu gehen und den Rest bis Accra mit dem Bus zu fahren - eine der kleinen Erste-Klasse-Kabinen mit zwei schmalen Betten, Waschbecken und Klimaanlage wird frei. Die Heilerzieher teilen sich das untere Bett, ich bekomme das obere. Himmel. Zumal die Matratze, das hatte mir die Queen of Yams gestreng bedeutet, jemandem gehört, der sie diese Nacht braucht. Das Schiff ist nun so voll, dass sechs ältere Frauen auf dem Brückendeck übernachten, vor unserer und den Crew-Kabinen. Das hört sich schlimmer an, als es ist. Hier liegt immer irgendwer irgendwo herum, es ist ja auch nicht kalt, und draußen gilt als Zuhause. Anders als von Tischen kann man vom Boden auch nicht herunterfallen. Die Damen haben Matratzen dabei und Stoffe zum Zudecken, aber es kühlt sich nachts kaum ab auf dem Wasser. Die Crew setzt sich dazu. Man kennt sich.

Weil einer der Passagiere zwei Käfige mit Lebendgeflügel dabei hat, kräht am Morgen der obligatorische Hahn. Der einzige Moslem unter den Männern der Besatzung betet auf einem dieser silbernen Windschutzscheiben-Isolationen, wie sie die Leute bei uns sich ins Auto legen (hier wird lieber ein falscher Pelz aufs Armaturenbrett gepackt, der fängt den umherfliegenden Staub), dann leiht er ihn zwei der neuen Frauen. Das Wasser sieht ganz anders aus als am Vortag, grüner. Als ich für das Frühstück aus Reis mit Bohnen, Salat, scharfer Sauce mit Fleisch, noch schärferer Sauce ohne Fleisch und extra Nudeln anstehe, fragt die Dame hinter mir: »Das isst du?«. Als ich sage, dass ich seit zwei Monaten afrikanisch esse, wenn’s geht, sagt sie: »Gut, dann wirst du schön dick!«. Wenn sie meint.

2.12.

Auf einmal heißt es, wir würden Akosombo doch schon am Abend erreichen. Was ich fast ein bißchen traurig finde, wo es doch gerade so richtig lustig wird.

Der ghanaische Fährengast in der zweiten Passagier-Kabine ist, wie sich herausstellt, der Pressesprecher der National Patriotic Party, der Partei des rundgesichtigen Präsidenten. Er ist seit fünf Tagen auf der Fähre, weil er derzeit viele erboste Anfragen zur kaputten Brücke in Buipe zu beantworten hat. Das Verkehrschaos in der gesamten Nordregion ist immer noch nicht unter Kontrolle. Er freut sich, kann er doch bei Anrufen immer sagen: »Entschuldigung, vor Freitagabend kann ich nirgendwo sein«.

Eric, der am Nachmittag das Kommando hat, winkt mich ins Steuerhaus. Dort läuft immer das krächzende Radio und es herrscht fröhliches Kommen und Gehen. Ich bekomme einen Stuhl und schaue in die Ferne. Ich solle ihm Fragen stellen und ihn damit aufwecken, sagt Eric. Er sei etwas müde von seiner Nachtschicht. Also lasse ich mir Backbord und Steuerbord nennen, frage, ob sie schon mal einen Notfall hatten (nein) und wie alt das Schiff ist. So genau weiß das auch der Kapitän, der mit seinem Teller Mittagessen dazugekommen ist, auch nicht, aber irgendwann aus den 1960ern. Als mir auffällt, dass ich eine Tüte Wasser in der Hand halte, frage ich, ob das ein Problem sei mit all den Instrumenten hier, aber Eric winkt ab. »Solange du es nicht auf den Boden legst und jemand darauf tritt. Ihr habt so viele Regeln in Deutschland«, sagt er. »Nicht mal urinieren darf man. Ein Freund von mir war mal in Deutschland und pinkelte irgendwo hin, da hat ihn jemand bei der Polizei angezeigt.« Dazu muss man wissen, dass es in Ghana und auch in Burkina ganz normal ist, in der Öffentlichkeit zu pinkeln – wenn auch einfacher für Männer. Es geht meistens auch nicht anders. Das Ganze wird ex negativo geregelt: Wo es verboten ist, steht es dran. »Do not urinate here« bzw. »Interdit de pisser«. Als ich Eric erzähle, dass man in New York als Sexstraftäter registriert wird, wenn man beim Pinkeln erwischt wird, kriegt er sich kaum wieder ein.

Je näher wir dem Hafen kommen, desto lebhafter werden alle. Der Moslem ruft mit dieser lustigen, um eine Oktave erhöhten Micky-Maus-Stimme, die gern bei besonders guter Laune benutzt wird: »Good afternoon, how are you?«, auch die sechs Frauen, die das Brückendeck belagern, kommen in Redelaune. Wie sich herausstellt, sind sie Yam-Verkäuferinnen, die die Strecke alle zwei Wochen fahren. Deswegen bewegen sie sich an Bord wie alte Bekannte, kommen zum Reden ins Steuerhaus und benutzen die Kabinen der Crewmitglieder mit, wenn die sie nicht brauchen. Die Händler, erzählt die im sechsten Monat schwangere Dora, kämen von überall im Land für die Ware, morgen sei der große Tag. Ich hole mir etwas zu essen, Kochbananan mit Palava-Sauce, eine Art Spinat. Als ich Dora mit dem üblichen »You are invited« etwas davon anbiete, lehnt sie ab. »Oh, ich mag keine Kochbananen.« Natürlich nicht, sie handelt schließlich mit Yams.

Eine Stunde vor Ankunft beginnen alle zu duschen, Wohlriechendes aufzutragen und sich etwas Frisches anzuziehen. Und dann, es ist längst dunkel, laufen wir langsam im winzigen Hafen von Akosombo ein. Großer Abschied. Eric ordnet an, dass ein Freund des Kapitäns, Felix, der mit seinem Teenie-Sohn Oti gekommen ist, um seine Yams persönlich abzuholen, mich zum nächsten Hotel mitnehmen soll. Felix lieeebt Deutschland, seit er mal mit einem Stipendium da war. Bonn und Magdeburg: ganz toll. Als zwei der Hotels, bei denen wir vorbeifahren, ausgebucht sind, weil heute ein Feiertag ist, National Farmer’s Day, an dem die Bauern und Fischer des Landes geehrt werden, sagt Felix: »Ich will nicht, dass du strandest. Du kannst bei uns übernachten. Schau es dir an, wenn es dir gefällt, kannst du bleiben.« Er arbeitet für die Volta River Authority, deren Angestellte wie alle Staatsbediensteten in eigenen Wohnkomplexen leben, schmucke rostrot-beige Flachbauten mit Innenhof und Rasen davor. Außerdem betreibt er auf seinem Rasen eine kleine Bar mit Riesenlautsprechern. Meine Frage, ob er dafür eine Konzession braucht, versteht er nicht. Natürlich bleibe ich über Nacht hier. Ich habe davon gehört, dass ein Ghanaer seine Frau das Ehebett räumen lässt, um für einen Fremden Platz zu machen. In diesem Fall ist es der arme Oti, der sein Bett neu beziehen und wahrscheinlich zwischen seinen Eltern schlafen muss, damit ich mich bei ihm breitmachen kann.

Auf Facebook tobt unter #GhMigrationDilemma derweil die Diskussion darüber, ob die Regierung richtig gehandelt hat, als sie vergangene Woche 127 ghanaische Flüchtlinge, die auf dem Weg nach Europa in Libyen festgesetzt worden waren, aus den Fängen der dortigen Sklavenhändler freikaufte und zurück nach Hause brachte. Oder ob man das Geld nicht für die Ghanaer hätte verwenden sollen, die an ihr Land glauben.

3.12.

Patrick, der Seestern, gab beim Abschied von Bord noch Musiktipps. Er ist Fan von Shatta Wale, mir ist der zu wenig raffiniert. Aber die Nigerianer! Ich hege ja eine nicht so heimliche Liebe für Davido mit dem Nasenstecker, der immer so neckisch kuckt. Von seinen zwei komplett gleich klingenden Hits If und Fall hatte ich mal fünf Tage lang einen schlimmen Ohrwurm. Und w a s der singt:

Money fall on you

Banana fall on you

Prada fall on you, oh

Cause, I’m in love with you

Geld, Bananen, Prada - was Frauen wollen. Ich finde das unendlich lustig.

Apropos Bananen: Davidos ärgster Konkurrent in der Engführung von Sex und Romantik ist Tekno und besser als Pana wird es halt nicht: wie das produziert ist, was der trägt, wie der tanzt. Auch inhaltlich ganz, eh, groß:

They say you like cassava

I getti big cassava

Baby, Pana

My love for you will never die, will never die

Genius schreibt dazu:

Tekno bins the cliché use of Banana as a metaphor in this context, he didn’t opt for Eggplant either; he subtly referenced his dick with something bigger instead, — a Cassava. Tekno has now embedded the Cassava word in the Nigerian sexting dictionary.

(Für Simon, hehe)

4.12.

Überhaupt: Nigeria. Das steht ganz oben auf der Liste. Die Ghanaer sind, vorsichtig formuliert, unentschieden, was den Liebreiz des Landes und der Leute angeht. Die einen halten alle Nigerianer für Kriminelle (besonders die, die nach Ghana emmigriert sind. Diese spezielle Xenophobie muss mit Ghana Must Go zu tun haben), die anderen empfehlen enthusiastisch einen Besuch und lachen, wenn ich sage, dass es in Lagos schon gefährlicher sei als hier - eine Stadt, die fast so viele Millionen Einwohner hat wie ganz Ghana. Als wir auf der Kommandobrücke standen, sagte Eric: »Ich will dich nicht beeinflussen. Fahr’ hin und schau es dir an. Ich bin gespannt, was du denkst«. Benin, kaum 300 Kilometer östlich von hier, ist eine andere Idee.

Aber jetzt erst mal wieder Accra. Ich hatte mir das Zurückkommen in die feuchtheiße, hektische Stadt unschön vorgestellt, aber einmal am Tema-Busbahnhof angekommen, freue ich mich. Ich finde mich ohne Google Maps zurecht, weiß, wie man mit den mates im Trotro reden muss, wenn sie vergessen, einem das Wechselgeld zurückzugeben (was so gut wie nie passiert), der chaotische Markt um den Bahnhof herum ist Ghana in einer Nussschale: Es gibt Damenperücken, grellpinke Kola-Nüsse (ich habe es mehrmals versucht mit ihnen, als ich sehr müde war. Sie sind so bitter, dass ich sie keine zwei Sekunden, geschweige denn eine Stunde kauen kann), Modeplakate mit den neuesten Entwürfen, alles von »Gucci«, eine Handy-Ladehütte für diejenigen, die keine Powerbank dabeihaben, diese grobmaschigen, bunten Peeling-Netze, die alle beim Duschen benutzen und manche als Halstuch tragen, Stoffe natürlich, Garden Eggs (ein Gemüse, das aussieht wie eine geschrumpfte Aubergine, aber in hellbeige), Yams, Eiskaffee. Alles eben. Von hier aus fahren allerdings auch Trotros zu den 6000-Dollar-Wohnungen nach Airport Hills und nach Agbogbloshie, wo Kinder auf der größten Müllhalde der Welt für 20 Dollar im Monat da hingekippte Rechner und Handys auseinandernehmen.

Mein neues Zimmer liegt mitten in Osu, Lokko Street Ecke Wentum. Alles, was ich brauche, kann ich zu Fuß besorgen. Issa mag in den Mopeds der Burkinabinnen nur Gesundheitsgefahren sehen, ich sehe vor allem Freiheit. Im Schatten der Hausmauer neben dem Lädchen, das Wasser hat und Brot, sitzt unter einer Kokospalme immer eine Reihe alter Menschen, dahinter befindet sich ein Hof, in dem ein paar Familien leben. Ich lerne eine weitere Methode kennen, wie man Geflügel transportieren kann: Zwei Männer flanieren vorbei, jeder von ihnen trägt einen Hahn, je eine Hand unter den Hühnerachseln. Die Tiere sehen aus, als würden sie abhängen und tun auch ganz entspannt. Hilft ja nichts. Gegenüber sägt ein Tischler. Das Geräusch einer Frau, die Fufu stampft. Ein Fernseher zeigt das Arsenal-Spiel. Irgendwo findet eine Beerdigungsparty statt oder eine Hochzeit, das klingt so ähnlich. Der Atlantik ist nur ein paar Hundert Meter entfernt, manchmal fliegen Möwen übers Viertel, manchmal Flugzeuge. Man kann das Osu Castle sehen, auch bekannt als Christiansborg, weil die Dänen es 1658 von den Schweden erobert haben, die den Boden, auf dem es steht, wiederum von den Portugiesen erobert hatten. An den Wochenend-Abenden kommt aus drei unterschiedlichen Richtungen laute Musik. Mir hilft das ja beim Einschlafen. Und sie sind schon auch sehr lustig, die Accraben: Die Möbelrestaurationswerkstatt heißt Recover Recover, die Boutique Money Money Fashion, der winzige Kiosk die Straße runter Ali-G Mini Mart.

Endlich wieder frische Wäsche. Wie ich jetzt erfahre - n a c h z w e i M o n a t e n -, ist es üblich, seine Unterhosen selbst zu waschen. Wenn man das vergisst, sortiert die Wäscherin besagte Stücke mit spitzen Fingern aus und gibt sie einem zurück. Zum Glück war die Frau, die das Waschen hier bislang für mich erledigt hat, Ivorin. Vielleicht war sie auch nur sehr, sehr höflich. Oder es war okay, weil sie über eine Waschmaschine verfügte.

Zurück in der Wifi-Zone. Also: theoretisch. Ich verbringe den ersten Advent (absurd weit weg. Ich erschrecke jedes Mal, wenn ich im libanesischen Supermarkt einen geschmückten Plastikbaum sehe. Es läuft Feliz Navidad in Dauerschleife, bäh) damit, Weihnachtskarten zu schreiben. Sie kommen unter Garantie nicht mehr rechtzeitig an. Im Quartz Africa Weekly Brief lese ich von einer Studie, nach der Breitband-Internet in den meisten afrikanischen Ländern immer noch zu teuer ist. Den Rekord hält ausgerechnet Burkina Faso mit 972 Dollar - im Monat. In Ghana haben die Ausländer, die wegen des Öls ins Land kamen, den Netzausbau befeuert (manche sagen: Das einzig Gute, das sie bewirkt haben). Ich habe keine Ahnung, wie das in Burkina zu bewerkstelligen sein sollte.

Jeannette schreibt aus Düsseldorf, dass die Supermärkte dort krank seien und die Leute merkwürdig. Ich kann mir genau vorstellen, was sie meint. Kann es zum Glück aber auch sein lassen.

6.12.

Neulich am Pool eines der teureren Hotels im Umland: Zwei junge Ehepaare mit je einem Kind im Vorschulalter. Eine der Frauen mit Kopftuch, die andere trägt die langen Haare offen, die Männer in bunten Polohemden. Sie sprechen Arabisch und Französisch miteinander, mit den Kindern reden sie zusätzlich Englisch. Libanesen, vermute ich; die machen die größte Gruppe von ghanaischen Immigranten aus. Mit dabei haben sie zwei einheimische Nannies, die, während sich die Ausflügler auf den Liegestühlen einrichten und die Frauen die Kinder in Badehosen stecken, wortlos danebenstehen. Die Mütter sprechen meist nur indirekt zu den Nannies, durch die Kinder. Dann übergibt man die Kleinen den Aufpasserinnen, die mit ihnen Planschen gehen sollen. Schwarze Frauen: überall auf der Welt die Hilfsarbeiterinnen wohlhabenderer Familien (also: wenn gerade keine Philippinas zu haben sind).

Auf dem Weg zurück nach Accra wird das vollbesetzte Trotro von der Highway Patrol angehalten. Alle zwei Dutzend Fahrgäste müssen aussteigen, aber nur zwei Typen in ihren Zwanzigern ihre Taschen durchsuchen lassen. »Wir tun das nicht, weil wir euch verdächtigen«, sagt der eine Polizist und bleibt die Antwort auf die Fragen nach dem Warum dann? schuldig. Junge, melaninbegünstigte Männer: überall auf der Welt ständig unter Verdacht.

Davon unabhängig das bestimmende Gefühl des Tages: nichts als kalter Hass für Trump.

7.12.

Am Morgen sitze ich mit meinem Vermieter Toufic herum und befrage ihn zum Forschungsprojekt Die Länder Westafrikas und ihr Ruf unter Ghanaern. Toufic hat schlechte Erfahrungen mit den Grenzbeamten in Togo gemacht, die ihn von oben herab und wie einen Bittsteller behandelten. Er bringt es auf folgende Formel: »Die Engländer haben drei Dinge nach Ghana gebracht: schlechtes Essen, Bürokratie und Höflichkeit. Die Franzosen nach Togo: gutes Essen, guten Wein und fragwürdiges Benehmen«. Die schlechte Reputation Nigerias unter Ghanaer erklärt er sich damit, dass viele Nigerianer ambitioniert und erfolgshungrig seien, was manche Ghanaer als egoistisch und hochmütig interpretierten. Nigerianer würden für ihre Meinung einstehen, hier dagegen gelte es als respektlos, wenn zum Beispiel ein Schüler mit einem Lehrer diskutiert.

Am Nachmittag schaue ich mir die aktuelle Ausstellung in der Gallery 1957 an, die trotz (oder gerade wegen) ihrer Lage in der zum Kempinski-Hotel gehörenden Mall die beste der drei Galerien Accras ist. Peter, der dort als Assistent arbeitet, hat im Februar den Studentenpreis des panafrikanischen Filmfestivals in Ouagadougou gewonnen, Preisgeld: zwei Millionen CFA. Davon könnte er sich in Burkina drei Monate lang Breitband-Internet leisten. Er hat Verwandtschaft in Aachen, aber seine Tante hat ihn mit den Worten »Deutschland ist ein Dorf, fahr’ lieber dahin, wo du was erlebst« bislang von einem Besuch abgehalten. Er war dann in Nigeria und hat es geliebt. Weil alle dort wüssten, dass Ghanaer eher »langsame Lerner« seien (seine Worte) seien alle extra-entspannt mit ihm umgegangen. »Wir sind die Goldkinder Westafrikas« sagt er und dass Ghanas erster Präsident nach der Unabhängigkeit, Kwame Nkrumah, viel für die anderen Länder getan habe. Das hätten diese nicht vergessen.

Zum Abendessen kehre ich bei Master’s Fast Food auf der Lokko Street ein, eine Hütte mit vier Tischen, in der die Hitze des Tages gespeichert ist. Es gibt zwei Gerichte: Jollof-Reis oder gebratenen Reis. Was sie nie dazu sagen, ist, dass der Reis nicht trocken kommt, sondern es Fleisch dazu gibt, in diesem Fall einen gebratenen Hühnerschenkel, außerdem Krautsalat und scharfe Sauce. Ich bleibe der einzige Gast und schaue die Nachrichten, die auf einem kleinen Fernseher unter der Decke laufen, Bild und Ton heillos asynchron.

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An der Akademie von Kumasi ist am Dienstag eine junge Frau gestorben, der elfte Todesfall dort seit März. Noch haben sie keine Ursache ausfindig machen können, jetzt werden alle Studenten gegen Meningokokken geimpft.

Es ist Tag sechs von 15 im finalen Beerdigungsritus für die Queen Mother der Ashanti in Kumasi, Asantehemaa Afia Kobi Ampem II, die letztes (!) Jahr im November 109-jährig verstarb, nach fast vier Jahrzehnten der Regentschaft.

Der anlässlich des National Farmer’s Day zum erfolgreichsten Bauern des Jahres ernannte 50-jährige Aweku Agyman erhält 100.000 Dollar Preisgeld. (Der rundgesichtige Präsident will den Berufstand, der für nur noch 22 Prozent des Bruttoinlandsproduktes verantwortlich ist, wieder für die Jugend attraktiv machen.)

Der Häuptling von Tamale hat die Marktfrauen zur Ordnung gerufen. Sie sollen sich nicht mehr gegenseitig mit Flüchen belegen.

In den Dörfern Gomoa und Odembo gibt es ein Müllproblem, erste Fälle von Typhus werden gemeldet.

Dutzende erzürnte Kunden haben das Kundencenter einer staatlichen Prepaid-Kreditkarten-Firma gestürmt, nachdem das Aufladen der Karten nicht funktioniert hatte.

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Auf dem Heimweg kaufe ich in der Bude gegenüber ein 15-Liter-Pack Wasser und transportiere es auf dem Kopf nach Hause, wie ein Profi. (Ich habe den Männern übrigens Unrecht getan: Lange dachte ich, sie könnten abgesehen von ein paar Bahnen Stoff und anderer leichter Fracht nichts auf dem Kopf transportieren. Bis mir gestern einer mit einer Nähmaschine entgegenkam – ein Schneider, der die Straße auf der Suche nach Aufträgen hinunterging und mit zwei Stücken Metall klapperte, um auf sich aufmerksam zu machen; das schwarze, eiserne Gerät trug er auf einem Kissen gebettet auf dem Haupt, freihändig.)

Mittwoch ist der kleine Freitag. Die Kirchen versorgen das Viertel stundenlang mit Gospelgesang und frenetischem Jubel. Für alle, die nicht beten, dröhnt auf der Straße Musik aus den Boxen.

8.12.

Third-World Problems:

Die Fenster sind wie überall mit diesen Glasjalousien ausgestattt, deren milchige Lamellen jeweils so breit sind, dass im waagerecht gestellten Zustand eine Katze darauf Platz hat. Der angenehme Wind, der vom Atlantik her durch die vor den Jalousien fest installierten Insektennetze ins Haus hineinweht, bläst beim Kochen ständig die Gasflamme aus.

Die Moskitos (ich nenne sie jetzt nur noch Dirty Needles), die es trotz allem ins Haus schaffen, hören einfach nicht auf zu stechen. Von wegen Trockenzeit. Mit aller Macht klammern sie sich ans Leben und meine Adern, die Arschgeigen.

Der Bauarbeiter, der die Wohnung in der zweiten Etage renoviert, hört den ganzen Tag Bob Marley. Wenn er Feierabend hat, übernimmt jemand draußen auf der Straße den Reggae-Dienst und macht einfach weiter mit der Beschallung. Ich meine: Wie oft am Tag kann man Buffalo Soldier und diese andern drei Lieder hintereinander spielen?

Um dem Sound zu entkommen (und weil ich prokrastiniere), verbringe ich ein paar Stunden bei Photo Club. Dort machen sie Passbilder und Porträts und verkaufen die passenden dunklen Holzrahmen dazu. Ob ich gern ein afrikanisches Porträt hätte, fragt die Angestellte mit der kinnlangen Lockenperrücke. Sie zeigt auf ein gerahmtes Bild einer Frau im Ashanti-Outfit. »Na ja, wenn ich schon mal da bin.« Sie klatscht vor Freude in die Hände und nimmt mich mit in den Hinterraum des Studios, der Verkleidekammer. Aus einem pinken Plastikkoffer holt sie drei unterschiedlich breite, gewebte Stoffbahnen, das geometrische, gelb-grün-blau-orange Muster heißt kente, und hält sie mir nacheinander hin. »Den schlingst du dir als Rock um die Hüften. Den bindest du dir um die Brüste. Und daraus mache ich dir einen Kopfschmuck.« Dazu neun Holzperlenketten für Arme, Füße und um den Hals, goldene Sandalen und als Accessoire einen dieser Pferdehaarpuschel aus dem Fetischpriesterbedarf. Roter Lippenstift. Als sie fertig ist, ruft sie angesichts ihres Werks mehrmals »My friend! So beautiful!«. (Ich verzichte darauf, mir vorzustellen, was das ganze Szenario umgedreht wäre: Sie in Deutschland in einem traditionellen Outfit.)

Ihre Kollegin hinter der Kamera ist nicht ganz so enthusiastisch. »Du hast deine Tasche auf den Boden gelegt«, stellt sie ganz richtig fest. Als ich den rechten Arm in die Hüfte stütze, um irgendwie Beyoncé-mäßig stolz auszusehen, fragt sie mich ohne eine Spur von Boshaftigkeit in der Stimme, ob ich Rückenschmerzen habe. Ich frage zurück, was sie denn an meiner Stelle mit dem freien Arm machen wurde. Sie nimmt ihn, legt ihn in Position und sagt: »Du schwitzt«. Auch damit hat sie recht. »Immer«, sage ich. »Für euch ist bei 30 Grad kühl, aber für mich ist es immer noch heiß.« Irgendwann findet sie dann doch Gefallen an der Sache. Mit Blick auf meinen falschen Ehering sagt sie: »Your hubby is going to love this!«.

Die Retusche betreibt sie sehr gewissenhaft. Während sie sehr lange mit dem Mauszeiger auf dem Bildschirm herumwischt, schaue ich mir die ausgestellten Fotos des winkenden Präsidenten in der Kente-Toga an, und die Aufnahmen, für die sich Pärchen als Chief und Queen Mother verkleidet und nebeneinander gesetzt haben. Am Ende fragt mich Dorcas, wie sie sich jetzt vorstellt, ob sie das Foto bei sich im Laden ausstellen dürften. »Klar«, sage ich. Mir gefällt die Idee, dass ich in ein paar Jahren nach Accra zurückkomme, und dieses ein wenig lächerliche Bild dann immer noch hier hängt.

9.12.

Der falsche Ehering übrigens: schöne Idee, aber meist sinnlos.

Als ich neulich aus der Gallery 1957 kam und auf der Suche nach einem Taxi die Gamel Abdul Nasser Avenue hinunterlief, sprach mich ein blau uniformierter Security-Typ der UN an, der vor dem Gebäude Wache hatte. Die ersten fünf Sekunden des Smalltalks reichen normalerweise für die Frage nach Namen, Ehestand und Telefonnummer. Aus Recherchegründen und mit dem erneuten Hinweis auf meinen Ehering gab ich sie ihm. Nur selten ruft dann auch wirklich jemand an. Es ist, glaube ich, eher die Idee, dass man es könnte, die zählt. Andere Möglichkeit: Jemand, mit dem man eine Weile verbracht hat oder ein Stück zusammen gereist ist, erkundigt sich Tage oder Wochen später nach dem Befinden: »Hallo, wie geht’s dir?« - »Danke, sehr gut. Und dir?« - »Okay, gut! Mir auch. Hab noch einen schönen Tag!« - »Bye!«

UN-Joseph aber schickt eine SMS:

»Hi, My Beautiful Queen. How We Doing? I Miss U To The Bone. I’m Sitting Here Lonely Thinking About You My Good Friend

Dass man recht schnell Freunde ist oder sisters, wenn es sich um Frauen handelt, meinetwegen. Aber der Quatsch mit der Königin geht zu weit. Außerdem liest sich das mit den ganzen Versalien wie irgendwo herauskopiert. Also bitte.

»LOL. Does this normally work for you? I really hope so. As for me: I’m no queen, and certainly not yours. I am not even your good friend – not in my world. And what exactly are you thinking about after having talked for 10 seconds? Let me know, please

Er ruft dann noch einmal an. Aber da habe ich die Forschungen zum Thema Dating and Mating einstweilen eingestellt. Wegen unüberbrückbarer Differenzen. So komme ich da nicht weiter.

Ich schreibe Naa, einer politisch aktiven Unternehmerin und zweifachen Mutter, der ich seit geraumer Zeit auf Facebook folge. Ob ich sie mal zum Thema Genderfragen und Feminismus befragen dürfe? Sie antwortet: »Sure. Anything to support women’s research and women in research

11.12.

Die Meninghitis an der Kumasi Academy war die Schweinegrippe und ist angeblich unter Kontrolle. Ich beschließe, in die Stadt zu fahren, wo seit Tagen die Beerdigungsrituale für die verstorbene Queen Mother der Ashanti andauern. Nana Afia Kobi Serwaa Ampem II war seit 1977 Asantehemaa, also als Mitglied der Ashanti-Königsfamilie eine enge politische Beraterin des jeweils amtierenden Königs. Letztes Jahr im November verstarb sie 111-jährig (ihr Alter schwankt in jedem Zeitungsartikel, den ich dazu lese, aber sie war ururalt – fast zweimal die ghanaische Lebenserwartung) Nach einem Jahr finden nun die Festivitäten statt. Gestern wurde ihre Nachfolgerin installiert, es herrschte in der gesamten Stadt Ausgehverbot, alle zwei Millionen Einwohner Kumasis waren angehalten, von 21 bis 2 Uhr nachts ihre Häuser nicht zu verlassen, alle Geschäfte hatten geschlossen. Schwer vorstellbar, wo doch fast das gesamte Leben auf der Straße stattfindet, aber war wohl so.

Die Reise von 270 Kilometern wird sechseinhalb Stunden dauern, zwei brauche ich allein für die ersten drei Kilometer zum Bahnhof. Es ist Sonntag und alle in der Kirche, es dauert dementsprechend lange, bis die Fahrzeuge voll sind. Ehe der Reisebus losfährt, ist es kurz vor 9 Uhr.

Am Ortseingang nach Kumasi haben sie eine der riesigen Werbetafeln durch ein Bild der verstorbenen Queen Mother ersetzt: 1905 - 2016. You will be forever missed. Endlich angekommen, springe ich in ein Taxi und lasse mich zum Manhyia-Palast bringen. Auf den Freiflächen davor sitzen unter Sonnendächern schon Hunderte Menschen in schwarz-weiße Stoffe gehüllt, essen, trinken und warten. Ich frage einen der Herumstehenden nach Kaffee, er läuft geduldig mit mir übers Gelände, aber sowas gibt es hier heute nicht. Wie sich herausstellt, ist Adjei Mitglied der Palast-Musiktruppe, er nimmt mich mit in den Innenhof, vorbei an mit Maschinengewehren bewaffneten Uniformierten. Was ich immer für ein Glück habe. Adjei stellt mich der Band vor: vier Sängerinnen, zwei Trommler, Adjei und ein zweiter spielen jeweils ein metallenes Instrument, das Ähnlichkeit mit einem Croissant hat und mit einer Art Schraubenzieher geschlagen wird. Er erklärt mir, dass sie immer vor Ort sein müssen, wenn der Ashanti-König im Palast ist. Seit zehn Tagen sagten sie alles andere ab und seien hier. Gerade sei der König mit seiner Entourage in der Kirche, seine Ankunft wird in den nächsten Stunden erwartet.

Ich schaue einer anderen Band beim Spielen zu. Vor ihren Trommeln tanzt ein Mädchen, vielleicht fünf Jahre alt: Sie trägt eine breite silberne Kette um den kleinen Kopf, ein zum Kleid gewickelten Stoff, bunte Ketten an Armen und Beinen. Sie tanzt barfuß mit kleinen Schritten kreiselnd in der Runde herum, bewegt den oberen Teil ihres Körpers unabhängig vom unteren und die Arme noch mal anders, es wirkt zugleich selbstvergessen und absolut kontrolliert, ihr Blick ist stolz, fast ein wenig verächtlich. Adjei sagt anerkennend: »Sie ist sehr gut«, ich antworte: »Sie ist unglaublich«. Ich habe so was noch nie gesehen, es ist endlos faszinierend und auch ein wenig beängstigend, ein wenig wie die geisterhaft synchron tanzenden Kinder in Pjöngjang, bei deren Anblick man gleichzeitig lachen und weinen will, weil es so unwirklich aussieht und weil man den Drill dahinter ahnt. Nur ist das hier viel schöner. Die Leute geben ihr Geld, indem sie ihr Scheine an die Stirn halten. Wer nichts zahlen kann, hält Zeige- und Mittelfinger der rechten Hand über ihren Kopf, das zählt auch als Anerkennung.

Der Hof füllt sich derweil mit Gästen, die an Tischen unter weißen Sonnendächern Platz nehmen. Die Feier ist öffentlich, der Dresscode, das war zuvor auf der königlichen Website zu lesen gewesen, lautet: schwarz-weißer Adinkra. Es wurde extra ein Stoff mit dem Bild und den Lebensdaten der Queen Mother gedruckt, den man auch vor Ort kaufen kann. Die Frauen tragen enganliegende Kleider und Kopfputz, bedruckt mit den Akan-Symbolen für Glauben, Wahrheit und das Königshaus, die Männer Togen aus denselben langen Stoffbahnen, die ihnen von der Schulter rutschen, was später das Tanzen erschweren wird. Eine Gruppe von Männern hat Schwerter bei sich und kleine Kappen in Leopardenmuster auf dem Kopf, ihren Stoff tragen sie als eine Art Wickelkleid unter der Brust. Auf den ersten Blick sehen gleich aus, auf den zweiten alle verschieden voneinander. Viele Chanel-Sonnenbrillen, Moschino-Taschen, dicke goldene Uhren, sehr hohe Stilettos, aufwendige Frisuren, Make-up, großes Hallo, ein einziges Fest. Wen auch immer ich frage, ob ich sie oder ihn fotografieren darf, wirft sich bereitwillig in Pose. Ein Ashanti-Sprichwort besagt, dass man alles dafür tun sollte, Reichtum zu erlangen - selbst seine Oma kann man verkaufen. Ist man erfolgreich, kann man sie später immer wieder zurückerwerben.

Die wichtigen Leute laufen ein, erkennbar an Alter, Körperumfang und daran, dass sie unter seidenen Sonnenschirmen laufen, die jemand anders für sie hält. Dann rollt die Entourage des Königs heran. Zuerst Motorräder mit Blaulicht, die Fahrer machen mehrmals die Runde durch den Hof und vollführen dabei Stunts: stehen auf den Sitzen, fahren Schlängellinien, heben beide Hände in die Luft. Die Leute stehen Spalier und lachen sich kaputt. Dann kommen mehrere Range Rover mit verspiegelten Scheiben, das Volk winkt, dann geht die Party weiter. Offene Bar, offenes Buffet, an Alkohol nur der ganz harte Stoff: Adonko Bitters – sehr beliebt mit 42 Prozent; Schnapps, Whiskey aus Viereinhalb-Liter-Flaschen. Zum Essen Reis, Hühnchen, Fisch. Die Leute stehen geduldig an, tanzend, nur hier und da kommt es zu kleinen Drängeleien, die einer derer mit Schwert schlichtet.

Der Platz, auf dem Adjeis Band spielt, wird zur Tanzfläche: Den Anfang machen ältere Frauen, nach und nach kommen immer mehr Leute dazu. Das Zentrum des Geschehens ist eine beleibte Dame, vielleicht 60, die irgendwann einen Stapel Ein-Dollar-Noten auf die Band regnen lässt, als sei das hier ein Stripclub. Ein junger Typ in seinen Zwanzigern tanzt sie an und zusammen vollführen sie eine lustig grimassierende Choreografie, die um sie herum heben ihre Zeige- und Mittelfinger.

Ich stehe neben dem Boxenturm, schon halb taub, tanze ein bisschen, bekomme ein paar Zeige- und Mittelfinger, und als es dunkel geworden ist und der Whiskey längst alle, verabschiede ich mich und fahre in mein Hotel mit dem sleazy Namen Daddy’s Lodge, das ansonsten aber ganz okay ist. Mir klingeln die Ohren.

14.12.

Ghana, Krankheiten und der Tod:

Die Leute sterben hier also früher, aber auch viel öfter als bei uns, jedenfalls dem Anschein nach, weil die traditionellen Beerdigungen gut hör- und sichtbar sind, und die christlichen Toten in ihren Wohnvierteln mit bunten Plakaten betrauert werden. Man wird praktisch jeden Tag damit konfrontiert, dass Menschen sterben. »Gone To Soon«, »Home at Last« oder »Celebration of Life« steht über einem Foto des oder der Verstorbenen, dazu das Alter, eventuelle Spitznamen, die Daten der Totenfeier und der Bestattung, die Namen der chief mourners: der trauernden Familienmitglieder und engen Freunde. Nie wird die Todesursache genannt. Das wäre aufschlussreich. Gleichzeitig: Wer weiß schon so genau, woran die Menschen wirklich sterben.

Die angebliche Meningitis an der Kumasi Academy, die ein paar Tage später in der Presse als Schweinegrippe identifiziert wurde, war in Wahrheit eine Art Denkzettel. So erzählt mir das Ben, mit dem ich mich über den Freiluftmarkt der Stadt drängele, mit mehr als 10.000 Händlern der größte Westafrikas (Ben erzählt mir auch, dass die Männer mit den Wickelkleidern, Leopardenkappen und Schwertern, die ich auf der Beerdingsfeier sah, früher die executioners des Ashanti-Königs waren. Henker trifft es nicht - sie köpften die Totgeweihten, daher die Schwerter). An der Schule hätten ein paar Mädchen eine Clique gebildet und spirituelle Kräfte zu ihrem Schutz angefordert. Allerdings hätten sie ignoriert, dass die Inanspruchnahme dieser Schutzkraft bestimmte Rituale verlange. Die Geisterwelt habe wegen der übertretenen Regeln etwas geschickt, das diese Mädchen eines nach dem anderen dahingerafft habe. Als das erledigt war, sei der spirituelle Führer des Ashanti-Königshauses an die Akademie geschickt worden, um den Ort zu reinigen. »Sie sagen jetzt, es sei die Schweinegrippe gewesen. Aber was es in Wirklichkeit war, wird nie jemand erfahren«, sagt Ben. Jedenfalls werde es nun vorerst keine weiteren Toten geben.

Sofort nachdem der klimatisierte Bus, den ich am Tag zuvor nach Kumasi genommen hatte, endlich losgefahren war, fing ein Typ mit Leder-Basecap, Gucci-Polohemd und Hermès-Gürtel im Gang gleich neben mir seine Verkaufsshow an. Ich hatte davon gehört, aber es war noch viel ätzender als erwartet: Anderthalb Stunden lang brüllte er auf Twi herum, schlug sich mit der flachen Hand auf die Brust oder wahlweise auf die Plastik-Gepäckfächer über den Sitzen. Ich verstand nur ab und zu ein Wort wie »Diabetes« und musste mir ein Ohr zuhalten, um einigermaßen in meinem Buch lesen zu können. So sauer. Als ich mich bei einem Mitreisenden über die ungefragt veranstaltete Butterfahrt beschwerte - dafür hätte ich nicht bezahlt -, zuckte der die Schultern und sagte: »Das ist eben das Business«. Irgendwann packte der Ledertyp auch das Wundermittel aus, das er zu verkaufen gedachte: kleine weiße Schachteln voller Pflanzensamen, es sah aus wie Schwarzkümmel oder Moringa. Zehn Cedis die Packung. Immerhin war der Humbug nicht sonderlich teuer. Ich war trotzdem endlos genervt. Diverse Leute dagegen kauften. Und der Glaube an ein Medikament oder eine Therapie kann ja auch heilen.

Am Krater-See Bosomtwie komme ich auf Elodies Ranch unter, wo sie mit ihrem Mann und den zwei kleinen Söhnen, acht Herbergs-Angestellten, neun Pferden und zwei Katzen lebt. Elodie also fragt, ob ich die Nachrichten verfolge, wegen der Schweinegrippe. Ich erzähle ihr die Geschichte, die ich darüber gehört habe. Sie ist französische Atheistin und versucht seit neun Jahren, in denen sie hier ist, die Logik hinter dem spirituellen Glauben zu verstehen. Es falle ihr schwer, sagt sie. Auch sei es kompliziert nachzuvollziehen, ob oder wie die Widersprüche, die sich zwischen dem Kirchen- und dem traditionellen Glauben auftun, kognitiv versöhnt werden. Ihre katholisch-ghanaische Schwiegermutter sei vor einiger Zeit langsam blind geworden und nachdem die Ärzte in den Kliniken alle zu demselben Ergebnis gekommen seien, nämlich dass die Sehkraft der Dame nicht zurückzuholen sei, hätte es die Familie jahrelang bei allen möglichen Fetischpriestern versucht. »Die behandelten die Augenkrankheit wie einen Geist, der von jemand anderem in böser Absicht über die Mutter gebracht wurde, aus Rache oder Missgunst.« Aber auch alle exorzistischen Rituale hätten keine Verbesserung gebracht, »Also abgesehen vom der Verbesserung im Geldbeutel der Fetischpriester«, sagt Elodie verächtlich. Im Vergleich erscheint die christliche Herangehensweise an Krankheiten als von Gott gesandte sinnvolle Prüfung, die man durchleben muss, dann fast wieder vernünftig.

Der von Regenwald gesäumte Krater-See, den ein 800 Meter breiter Meteorit vor mehr als einer Million Jahren in die Landschaft gehauen hat, gilt bei den Einwohnern als ein Ort, den die Seelen der Verstorbenen bei ihrem Übergang in die Ewigkeit besuchen. Ein lokales Tabu verbietet, dass das Wasser mit Metall in Berührung kommt, deswegen benutzen die Fischer seit Jahrhunderten ausschließlich schmale, aus einem Baumstamm geschnitzte Holzfloße. Gerudert wird mit den Händen. Am Westufer steht ein Fetisch im Wasser, ein an eine große Kleckerburg oder einen Termitenhügel erinnernder Haufen aus Matsch, Holz und Stroh, gesprenkelt mit Hühnerschiss. Unerklärlicherweise gibt es hier keine Moskitos und angeblich auch keine Bilharziose, aber darauf will ich mich nicht so gern verlassen. Über dem See hängt seit zwei Tagen der Harmattan, die grauen Staubschleier vor der Sonne und in der Luft machen es unmöglich zu sehen, wo das Wasser aufhört und der Himmel beginnt. Eine einzige große Waschküche, nur in trocken und heiß.

Was man oft sieht, sind Erwachsene mit deformierten Beinen. Ich nehme an, sie haben Polio. Am Straßenrand stehen im ganzen Land Schilder, auf denen Kräutermediziner ihre Expertise in allen möglichen Krankheiten bewerben, unter anderem: madness - Irrsinn. Epilepsie gilt in Teilen der Bevölkerung als Geisteskrankheit. Um die sich im Zweifel die Kirche kümmert, man kann sich vorstellen wie. Im Krankenhaus, das teilweise als Verwahranstalt für solche Fälle fungiert, wissen sie es manchmal besser. In jedem größeren Ort habe ich bis jetzt ein oder zwei obdachlos umherstreifende Männer und Frauen gesehen, staubig, mit verfilzten Haaren und entweder unfassbar viel Kleidung an oder so gut wie nackt. In einer Gesellschaft, die so viel Wert auf Familie und Gemeinschaft legt, würde man eigentlich erwarten, dass keiner ohne Zuhause ist, sondern immer irgendwo Aufnahme findet. Nicht die sogenannten Verrückten. Mohammad, erstaunt angesichts der Berliner Obdachlosen, erzählte mal: So etwas kenne er nicht aus dem Vorkriegs-Syrien, Obdachlose habe es selbst in der Großstadt Damaskus nicht gegeben.

Im Norden, in Gambaga, liegt das sogenannte Hexendorf, in dem seit dem 19. Jahrhundert Frauen Unterschlupf finden, die man in Ghana, Burkina Faso oder Togo verstoßen hat. Weil die Ernte schlecht war oder jemand ohne erkennbaren Grund starb und man die Frauen des bösen Zaubers verdächtigte. Im Hexendorf sind sie sicher, und ein Leben lang isoliert.

In Kumasi werden von der ghanaischen Gesundheitsbehörde zur Stunde 87 neue Verdachtsfälle von Schweinegrippe gemeldet. Frauen und Männer.

15.12.

Im schmalen Hofstreifen hinter dem Haus, gleich unter dem Küchenfenster auf dem Beton, lebt seit vergangener Woche eine Ziege. Ihr Besitzer hat sie dort an einem kurzen Seil festgebunden, sie kann wahlweise stehen oder liegen. Alle anderen Ziegen, Schafe und Hühner laufen tagsüber im Viertel herum und fressen, was sie eben finden. Anders als im muslimischen Norden sieht man im zu größten Teil christlichen Accra paradoxerweise keine Schweine. Baby-Schweinebeine, die über die Straße huschen, das war in Burkina einer der lustigsten Anblicke überhaupt. Besonders dort ist es sinnvoller, ein Tier großzuziehen als eine Aubergine.

Als ich mal jemanden fragte, wie die Leute bei all den freilaufenden Viechern wüssten, welche ihre sind, sagte der: »Nicht die Menschen wissen das, die Tiere kennen ihr Zuhause.« Wenn man ein Tier einfach klaue, sei man eben ein Dieb, sowas verbiete sich also von selbst (Gott bzw. Allah bzw. die Ahnen sehen alles).

Die Ziege im Hinterhof meckert tagsüber immer mal wieder, den ganzen Abend und dann wieder ab kurz vor Sonnenaufgang. Obwohl: Meckern trifft es nicht, es sind langgezogene Schreie, die sich sehr menschlich anhören. Sie leidet. Wenn es ganz unerträglich wird, gehe ich runter und streichle sie. Dann beruhigt sie sich. Das Fell riecht gut – nach Ziegenkäse. Ich komme mir ein bisschen vor wie eine hinterhältige Cartoon-Figur, über deren Kopf angesichts des kleineren Tieres eine Denkblase mit der fertigen Mahlzeit schwebt.

Ich kann die Ziege nicht befreien. Sie gehört einem Nachbarn, der sie als Weihnachtsgeschenk mit zu seiner Familie nach Cape Coast nehmen wird - wahrscheinlich wie üblich im Koffer- oder Fußraum eines Trotros. Ich kann auch niemandem erklären, dass die Art, wie er das Tier hält, grausam ist. Weil: Ist sie ja gar nicht im Gegensatz zu dem, wie es da gemacht wird, wo ich herkomme. Und wenn die Ziege morgen als Spieß auf dem Grill liegen sollte, werde ich sie essen. Weil Selbstkochen so viel teurer und aufwendiger und schweißtreibender ist als das Straßenessen. Weil ich niemanden habe, der für mich einkauft und/oder kocht. Weil ich, so sehr ich es mag, nicht drei Monate lang Bohnen mit frittierter Kochbanane essen möchte, Jollof-Reis ohne alles oder wattiges Weißbrot mit Käse, der 5000 Kilometer weit eingeflogen wurde. Ich kenne eine, die in Japan - wahrscheinlich dem Land mit der besten Küche der Welt - drei Wochen lang bei McDonald’s Pommes aß, weil sie nur da sicher sein konnte, dass es vegan war. Ich will so nicht leben. Aber wenn ich Ghana verlasse, war’s das wieder mit dem Fleisch. Dann ergibt es wirklich keinerlei Sinn mehr.

Sobald ich aufstehe und zurück ins Haus gehe, fängt die Ziege wieder an zu schreien. Hier wird Weihnachten am 25.12. gefeiert. Noch zehn Tage.

16.12.

Großthema Körperlichkeit:

Es fängt damit an, dass ein Kind die ersten paar Jahre seines Lebens, mindestens bis es laufen kann, aber auch darüber hinaus, von seiner Mutter oder ersatzweise einer älteren Schwester, einer Tante oder Großmutter in einer Bahn Stoff auf dem Rücken umhergetragen wird. Ich habe bislang genau einen Kinderwagen gesehen und das war, wie Hunde an der Leine, ein sehr außergewöhnlicher, fast absurder Anblick. Die Frau knickt mit durchgestreckten Knien so in der Hüfte nach vorn, dass der Oberkörper senkrecht zum Boden ist, in derselben Bewegung wird das Kind an einem Arm auf den unteren Rücken gehoben oder es klettert selbst, dahin, wo das Hohlkreuz ist. Das Tuch wird darüber geworfen und im Aufrichten einmal so um den Oberkörper geschlungen, dass die Babybeine rechts und links herauskucken, die Schwerkraft und die Brüste halten alles an Ort und Stelle. Wenn es sein muss, kann so ein weiteres Baby vor dem Bauch getragen werden. Jungen und Männer benutzen kein Tuch, tragen Kinder aber auch manchmal auf dem Rücken. Wer zwei Jahre lang von unterschiedlichen Menschen auf diese Weise transportiert wurde, ist körperliche Nähe gewohnt, stelle ich mir vor.

Das Stillen passiert, wann immer das vom Rücken herunter gekletterte Kind danach verlangt und an Ort und Stelle: beim Essen, im Gespräch mit anderen, im vollbesetzten Trotro – dazu sind die großen Ausschnitte der Kleider gut –, und ganz ohne das Diskretionstuch, das bei uns gern über die Angelegenheit gebreitet wird. Geschäftsidee: heilsame Kulturschock-Reisen für hysterische Amerikaner und andere Menschen, die den Anblick weiblicher Brüste von ihren Gedanken an Sex und was weiß ich noch trennen können wollen.

Direkt gegenüber dem Eingang zu dem Haus, in dem ich wohne, befindet sich die Toilette der dazugehörigen compound (es gibt, soweit ich weiß, keine gute Übersetzung für diese Art von mehr oder weniger abgeschlossenem Hof mit einer oder mehreren Wohnungen darin. Wohnanlage klingt in den meisten Fällen zu grandios für das, was es ist). Die Toilette ist ein Loch im Zementboden, darum vier etwa brusthohe Wände. Unisex, versteht sich. Wenn man darin steht, kann man immer noch auf die Straße schauen und Passanten grüßen.

Händeschütteln ist wichtig und wird ausgiebig getan. Wie im Nahen Osten auch laufen besonders gut miteinander befreundete Männer gern ein Stück Hand in Hand durch die Gegend. Mich nahm neulich ein fürsorglicher Busfahrer am Handgelenk und führte mich am Hauptverkehrsknotenpunkt Circle über die Straße. Ich hatte nach meinem Trotro gefragt, er zeigte mir den Weg durchs Chaos zudringlich rufender Taxifahrer. Wenn mir einer von ihnen auf die Schulter tippt und ich fauche: »Warum fässt du mich an?«, kriegt derjenige Ärger von den Umstehenden. Obrunis haben andere Vorstellungen davon, was als persönliche Distanzzone gilt. Sie müssen sich aber auch den überwiegenden Teil ihres Lebens mit Stoffschichten, Daunen, Glas und Mauern vor der Außenwelt schützen.

17.12.

Was fehlt:

Die Möglichkeit, unsichtbar zu sein - in der Menge zu verschwinden. Jeder meiner Schritte wird wahrgenommen und manchmal auch kommentiert: »Geht es dir gut? Ich habe dich gestern gar nicht gesehen« oder »Ich habe dich gestern gesehen, du hattest eine Mango und Bananen gekauft«. Rrrright. Verloren gehen kann ich so aber auch nicht. Irgendjemand weiß immer, wo ich gerade stecke.

Die Möglichkeit, einigermaßen unkompliziert von hier nach da zu kommen. Um nicht völlig durchgeschwitzt und pünktlich zu Terminen in den teureren Gegenden im Norden Accras zu erscheinen, benutze ich Taxis, die kosten halt zehn Mal so viel wie Trotros. Uber boykottiere ich, aus Prinzip. Einladungen kommen mit ellenlangen Wegbeschreibungen. Viele Straßen haben mindestens zwei verschiedene Namen, die aber meist sowieso niemand kennt, sichtbare Hausnummern existieren nicht, Taxifahrer orientieren sich an Gebäuden, die mir oft nichts sagen, Google Maps wiederum kennen sie oft nicht, es irritiert sie, die Stadt auf einer so kleinen Karte zu sehen, manche sind zu eigensinnig, um sich von mir den Weg weisen zu lassen, wenn ich sage, ich sei da auch noch nie gewesen etc. pp. Im Zweifel kann man denjenigen, den man besuchen möchte, immer anrufen, das Handy an den Taxifahrer weiterreichen und die andere Person den Weg beschreiben lassen. Im Stau (werktags von 6.30 bis 9.30 Uhr und 16 bis 19.30 Uhr) steht man aber so oder so. Ein Moped wäre perfekt, aber auch ein bisschen selbstmörderisch. (In Jamestown, dem historischen, hafenstadtmäßigen Teil von Accra, jagden gestern Dutzende Motorräder die Straße auf und ab, darauf je zwei Jugendliche mit Whiskeyflaschen in der Hand, dazu eine Handvoll Autos, aus deren Fenstern jeweils sechs Leute hingen, Füße auf den Polstern, Hintern freischwebend, Hände in der Luft, 80 km/h, Hupkonzert, Gejohle. Sie gehörten zu einer Beerdigung; die Frau neben mir – die Kirche hatte gerade einen Schwall Besucher freigegeben – sagte: »Schau sie dir an, wie sie ihr Leben riskieren.« Ich fand es ein bisschen toll, aber das sagte ich ihr nicht.)

Was nach wie vor nicht fehlt:

Europäische Weihnachten. Es hat erfreulich lange gedauert, bis sich das sogenannte Fest bemerkbar machte. Weihnachtslieder (Joy To The World und Last Christmas in supercheesy Versionen) laufen schon länger, aber erst seit vergangener Woche sind die Läden geschmückt: draußen sind Säulen und Balkone mit grünen und roten Stoffen umwickelt, drinnen: goldene Girlanden, Kugeln, blinkende Plastikbäume. Auf der Straße verkaufen sie billige Weihnachtsmannmützen mit einer blinkenden 2018 darauf, manche Trotro-Fahrer und mates tragen die. Bekloppt, aber auch lustig. Ich habe damit nichts zu tun.

Auf einmal laufen sehr bunt kostümierte junge Männer mit Strohmasken im Gesicht herum und sammeln Geld. Es sind Fante, die irgendeinen einen brasilianischen Brauch übernommen haben. Überhaupt: Gruppen von Leuten, die zu sehr lauter Musik hinter einem massiven Soundsystem hinterher rennen, tanzenderweise.

Das Fest findet für die Christen selbstverständlich in der Kirche statt. Manche Gottesdienste dauern schon an jedem gewöhnlichen Sonntag vier Stunden, ich kann mir also ungefähr denken, was an Weihnachten los ist. Das wäre der Tag, an dem ich fast unbeobachtet die Straßen Accras entlanggehen könnte. Was die Moslems machen, werde ich nicht mit eigenen Augen sehen (Nichts Besonderes wahrscheinlich. Toufic für seinen Teil ist mit seiner Frau zu ihrer Familie nach England gefahren, »zum Frieren«, wie er sagte, dabei schüttelte es ihn. Hamza, der im Immigrantenviertel Nima lebt - im poshen Norden der Stadt nennt man es einen Slum -, hat mich zu einem Weihnachtsessen eingeladen, das sie dort veranstalten). Ich bin trotzdem zufrieden mit meiner Entscheidung, in Begleitung einer Flasche südafrikanischen Weißwein (mein Weihnachtsgeschenk an mich selbst, einem Laden namens Say Cheers! sei Dank) an einen Strand ganz im Westen zu fahren (275 Kilometer, sechs Mal umsteigen, zwei Tagesreisen), an der Grenze zur Elfenbeinküste. Dort soll es Schildkröten geben; gerade ist die beste Schildkrötenbeobachtungszeit.

18.12.

Kurz vor Ende des Jahres bekommt mein Sozialleben noch einmal einen interessanten neuen Aspekt: die Welt der wachsende oberen Mittel- und Oberschicht Accras, die Expats und Zurückgekehrten.

Selassie wurde hier geboren und ist in New York aufgewachsen, nach Jahren bei der UN im Südsudan, dem Senegal und Kenia ist sie zurück in der Stadt. Als Spitzenköchin veranstaltet sie einmal im Monat ein großes Garten-Dinner mit dem, was sie New African Cuisine nennt: alles von hier, angepasst an den zeitgenössischen verfeinerten Geschmack, dazu gibt es Wein, der innerhalb von Minuten im Glas warm wird. Meine Tischnachbarn adoptieren mich umstandslos.

Emefa hat ghanaische, libanesische und englische Wurzeln, sie nennt sich afropolitan. Sie ist mit ihrer gut gelaunten Mutter, ihrem stark an Dapper Dan erinnernden Vater und zwei ihrer leicht gelangweilten jüngeren Brüdern gekommen. Sie betreibt ein Modelabel und ist angehende Yogalehrerin. Gefragt, wie sie auf die ständigen Werbungsversuche der Männer reagiert, sagt sie, sie erzähle entweder, dass sie ein Transmann mitten im geschlechtsangleichenden Prozess sei oder dabei, Nonne zu werden. Beides funktioniere. Poem (»Man spricht es Pumm aus, also nicht ganz so prätentiös«) ist Niederländerin, lebt aber in Ghana, seit sie zwei Jahre alt ist. Zusammen mit ihrem Mann, einem Deutsch-Ghanaer, dessen Mutter aus Leipzig stammt, betreibt sie einen Laden für afrikanisches Kunsthandwerk. Als ich sage, dass sie mir die nächste Frage verzeihen soll, sagt sie, ich solle mich nur für nichts entschuldigen, niemals: Und ja, sie habe bis vor zwei Jahren, also bis sie 59 Jahre alt wurde, ihre Unterwäsche selbst gewaschen, von Hand. Eine Waschmaschine habe auch sie nicht, wegen der wenig verlässlichen Wasserversorgung. Stattdessen besitze sie um die 100 Unterhosen, das reiche eine Weile. Weihnachten werde sie im Bett verbringen, wo sonst. Sie schaut etwas genervt zu Pamela, Handtaschendesignerin, die an jedem der fünf Gänge etwas herumzumäkeln hat und vor allen anderen verschwindet.

Am nächsten Tag besuche ich einen Kindergeburtstag, 20 Kilometer nordöstlich von dort, wo ich wohne, in einem Vorort namens Baatsoona. Naa hatte auf Facebook öffentlich eingeladen, alle, die am Sonntag nichts Besseres zu tun hätten. Ihr älterer Sohn wird zehn Jahre alt. Auf ihre Zusage hin fuhr ich zur Accra Mall, auf der Suche nach einem Geschenk. Auf der Fußgängerbrücke, die über die Spintex Road führt, laufen wie immer bettelnde Kinder umher - Migranten aus Niger, Mali, Tschad und dem Sudan. Einer ihrer Tricks ist es, sich an die Beine von Passanten zu klammern, bis die ihnen Geld geben. Gesehen habe ich das schon, passiert ist es mir zum Glück noch nicht.

In der Mall kaufte ich eine Wasserpistole, der Supermarktangestellte im pinken Hemd riet mir dringend, für einen Jungen lieber die grüne statt die pink-lilafarbene zu nehmen, wie ich es eigentlich vorhatte. Auf der Geburtstagsfeier dann (ich finde sie nur, weil Naa mir über Whatsapp ihren Standort sendet), bemächtigen sich sowieso zuerst die Mädchen des Spielzeugs, das Trampolin ist kurz uninteressant. Es läuft Pharell Williams und Taylor Swift, ich lasse mir vom Kokosnuss-Mann mit der Machete eine Frucht öffnen und trinke das Wasser, dazu gibt es frisches Popcorn, Palmwein, ein Reis-Fleisch-und-Salat-Büffet und zwei dreistöckige Sahnetorten. Für die Erwachsenen eine mit Bailey’s, auf der jugendfreien steht: »You Are 10 - The Galaxy Is Your Limit

19.12.

Als Kontrastprogramm zum Vortag und der Vollständigkeit halber bitte ich Hamza, mich nach Agbogbloshie zu begleiten.

Wir nehmen ein Taxi quer durch die Stadt und laufen ein Stück, bis wir am Rand der Müllkippe stehen. Hamza geht voran, grüßt ab und an jemanden mit »Salam Aleikum«, ich gehe hinter ihm her und tue dasselbe. Berge von Plastikbehältern, einer gelb, der andere blau, daneben weiß. Lila Coral-Waschpulver-Behälter, blau-rote Wassertüten, grüne Wasserflaschen. An einem Gerüst hängt eine Paketwaage mit Haken, gleich dahinter werden Leinensäcke voller Plastik in einen Schredder geworfen, heraus kommen bunte Schnitzel, die auf einer Decke in der Sonne ausgebreitet werden, bevor sie, erklärt Hamza, in den Weiterverkauf gehen. Müllkippe klingt irreführend chaotisch, hier herrscht ein sichtbares System, Ordnung sogar.

Neben der Plastikabteilung liegt die für Elektroschrott. Urplötzlich ändert sich der Sound, statt von Häckselgeräuschen ist die Luft von metallischem Klonken erfüllt. Wohnhütten, dort, wo man die Erde sieht, ist sie tiefschwarz von Öl und Asche, überall anders sitzen Jungen und Männer inmitten von Metallhaufen und bearbeiten mit Hammern, Meißeln und Macheten die Rückwände von Kühlschränken, Waschmaschinen-Innenleben, Automotoren, Kabel. Alu zu Alu, Kupfer zu Kupfer, Rost zu Rost. Dazwischen türmen sich Autoreifen auf, Karossen, stehen antike Druckermaschinen der Firma Myford (Nottingham, England) und intakte Kinderfahrräder zum Verkauf. Uns kommen zwei junge Männer entgegen, jeder von ihnen trägt fünf alte Laptops auf dem Kopf.

Dafür, wie viele Menschen hier leben und arbeiten - 40.000 sollen es sein -, ist es eigenartig still, fast friedlich. Null bedrohlich jedenfalls. Bis auf das geschäftige Hacken ist wenig zu hören, alle gehen ihren Jobs nach. Zwei kleine Jungen spielen Verstecken in einem ausgeweideten Kühlschrank, zwei Männer ein Brettspiel. Eine Köchin verkauft aus in zwei Blecheimern heraus Mittagessen, ein Handyhüllenverkäufer dreht seine Runden, Mädchen verkaufen Wasser, einer lässt sich von einem anderen mit dem Rasiermesser die Haare schneiden, wie immer freilaufende Hühner und Ziegen. Agbogbloshie unterscheidet sich nicht von vielen anderen Orten Ghanas, nur dass es vom Wohlstandsmüll lebt. Im Gegensatz zu anderen Städten aber wird hier nichts achtlos fallengelassen, sondern alles einer Verwendung zugeführt - entweder nebenan direkt weiterverkauft (Schrauben, Muttern, Unterlegscheiben, Federn, Kugeln aus den Kugellagern), verbaut (Öl- und Kerosinfässer zu Metallmöbeln) oder eingeschmolzen. Nichts, gar nichts wird verloren gegeben. Alles ist wertvoll, selbst die ausgekratzten Kokosnussschalen, die verbrannt und zum Fischräuchern benutzt werden. Es riecht nicht besser oder schlechter als irgendwo anders. Aber es ist auch trocken gerade. In der Regenzeit versinkt hier alles in schwarzem Matsch und Pfützen. Jemand hat Agbogbloshie mal den giftigsten Ort der Welt genannt. Und wer hier als Burner arbeitet, also Plastik verbrennt, um an die Metalle zu kommen, stirbt mit Mitte 20 an den Schäden durch die Dämpfe, die er permanent einatmet. Agbogbloshie wird auch Sodom und Gomorra genannt.

Die Einwohner sind interne Arbeitsmigranten, fast alle von ihnen stammen aus Tamale im muslimischen Norden. Am Rand der Siedlung angekommen, dort, wie Rauchschwaden aufsteigen, es riecht es nach Plastik. Vor uns tut sich eine fußballfeldgroße Fläche voll plattgetrampeltem Müll auf, darauf ein paar Jungen und eine Herde Zebus - Rinder, die auf Plastik grasen.

Wir drehen rum und verlassen den Schrottplatz in Richtung Zwiebelmarkt, gleich daneben. Säckeweise rote Zwiebeln, Hunderttausende, ein Händler neben dem anderen, durchs nichts zu unterscheiden, jeder bietet »Quality Products«, alle Ziebeln stammen aus Niger. Sie gelten als leichter zu verarbeiten und besser als die heimischen. Der Zwiebelmarkt geht nahtlos in den Agbogbloshie-Markt über. Bankgebäude, ein Pepsi-Werk, ein Partei-Büro der New Patriotic Party, ein Parkplatz, auf dem ein alter deutscher Transporter steht: »Öko-Qualität mit Sicherheit«, eine reisige Markthalle, deren Geschäft sich bis auf die Straße ergießt: Second-Hand-Kleider und -Schuhe, Ingwer, Yam, frische Chili, getrocknete Chili. Ein junger Mann hängt auf einem flachen Hausdach Wäsche auf, Bettler unter Sonnenschirmen, eine Händlerin, die vor sich einen Reissack voller weißer Kristalle stehen hat, ruft: »Madam, lokales Salz!«. Ich lehne dankend ab, genau wie die Kokosnüsse, Mangos, Ananas und Melonen, die links und rechts zum Verkauf stehen. Ein wenig lächerlich, weil der Großteil des Obstes und Gemüses, das man in Accra kaufen kann, über diesen Markt in die Stadt gelangt. Ein Truck kämpft sich durch die Passantenmenge, auf der Scheibe steht: »No condition is permanent«. Na dann ist ja gut.

Am Abend bin ich zurück in Osu, sonnenversenkt und mit brennenden Augen. Die Ziege im Hinterhof schreit sich ein weiteres Mal in den Schlaf.

20.12.

Bemerkenswert:

Das Bücherregal in der Apotheke: Neben 100 Ways To Make Sex Spectacular steht Muammar al-Gaddafis My Vision.

Dass die Ghanaer »Oh, sorry!« sagen, wenn jemand anders stolpert, etwas fallen lässt oder sich den Kopf stößt. Als hätten sie Schuld daran. Jemand sagte mal: »Wir empfinden den Schmerz mit«.

Der Slang im Trotro. Ich habe zum Beispiel erst jetzt verstanden, dass für aussteigen das mir bis dahin unbekannte Verb to alight benutzt wird. Dachte immer, es heißt »I will enlight at the next stop« als hätte das was mit Aufklärung zu tun oder, wahrscheinlicher, mit Religion. Der mate, dem man seinen Aussteigewunsch mitteilt, nennt den Fahrer »my masta«.

Dass geglättetes Haar relaxed genannt wird. Das Gegenteil ist ja der Fall: Es wird sehr aufwendig in Form gebracht und darf dann bloß nicht mit Wasser in Berührung kommen. Krauses afrikanisches Haar steht also permanent unter Spannung, während glattes per se als locker gilt. (Zum Frisuren-Business ein anderes Mal. Lange Geschichte.)

Dass der stärkereiche, sättigende und in meinen Augen uninteressantere Teil eines Gerichts immer zuerst genannt wird: Fufu mit Sauce, Yam mit Sauce, Reis mit Sauce, Banku mit Tilapia. Das Beste sind und bleiben frittierte Kochbananen, Rest egal.

Dass Besucher die verloren gehende afrikanische Authentizität beklagen, zum Beispiel angesichts der sehr beliebten indonesischen Indomie-Instant-Nudeln, während sie als Ausdruck ihrer Weltläufigkeit zu Hause Burger oder Sushi (die es hier auch gibt) verspeisen. Weil Instant-Nudeln aus dem Asien kommen, das nicht Japan ist, weil sie viele sind und billig?

An Tag 11 ihrer Gefangenschaft schreit die Ziege nicht mehr. Ich fürchtete erst, meine heimlich gefütterten Äpfel und Maronen hätten sie über Nacht umgebracht, aber sie steht einfach nur noch da, ihr Widerstand gebrochen.

Vieler meiner Mails nach Europa landen im Spam oder werden gleich vom Empfänger-Postfach abgewiesen, auf Webseiten mit Login muss ich immer wieder Sicherheitspasswörter eingeben. In Burkina ging die Google-Suche oft einfach nicht oder nur unter diversen Captcha-Hürden. Erwäge eine Klage gegen die Mailserver, wegen Diskriminierung. Auch schlimm: Auf Youtube bekomme ich jetzt Werbung des Mormon Channel vorgespielt.

22.12.

Immer noch keine Rohrratte gegessen. Dabei ist es das ideale Fleisch: Die Tiere sind eine Plage, in den Felder schädigen sie die Mais- und Zuckerrohr-Ernte. Das Züchten klappt anscheinend nicht so richtig gut, es handelt sich also bei also meist um freilaufendes bush meat. Die Upperclass-Damen auf dem Dinner neulich schwärmten davon: Das sei so, so gut und dem Verzehr von Schlange auf jeden Fall vorzuziehen.

Ich laufe also im Viertel herum und frage diverse Leute, wo ich wohl grascutter finden könnte, irgendeine der vielen Chop-Bars muss doch welches haben. Leider nein. In der Regenzeit kämen die Tiere in die Felder, sagt man mir, dann könne man losziehen und welche fangen. »Ich rufe meinen Bruder an, der kann dir vielleicht eine besorgen«, bietet einer an. Aber ich will keine vier Kilo schwere Ratte in meiner Küche zubereiten. Ich will sie nur essen.

Es liegt eine geschäftige Vorfeiertagsstimmung in der Luft: Am Straßenrand stehen fertig gefüllte und in Zellophan verpackte Präsentkörbe (viel Whiskey), es werden Reissäcke in Kofferräume verladen (ein beliebtes Geschenk), Frauen laufen mit Lockenwicklern in den Haaren umher (die Festtagsfrisuren), auf einmal ist auch in Läden etwas los, die ich noch nie offen gesehen habe. Vor allen rattern kleine Generatoren – Stromausfall. An einer Ecke werden Lautsprecher geputzt und schwarz gestrichen, damit sie wie neu aussehen.

Wie viel Wert immer auf das ordnungsgemäße Erscheinungsbild von Dingen gelegt wird. Im staubigen Souvenir-Laden des Mausoleums von Kwame Nkrumah, dem ersten Präsidenten nach der Unabhängigkeit, wickelte der Verkäufer mir meine Waren erst in Zeitungspapier ein, um sie dann in die obligatorische schwarze, dünne Plastiktüte zu stecken. Auf meinen Protest hin sagte er: »Aber was sollen die Leute denken, wenn sie das Halbverpackte sehen und erfahren, dass du das hier gekauft hast, im Souvenir-Shop des Kwame-Nkrumah-Mausoleums«. (An jedem Stand und jeder Kasse wieder erkläre ich, dass ich für eine Flasche Bier oder eine Limette keine extra Plastiktüte brauche, ich habe ja eine Tasche dabei. Jedes Mal wieder gelte ich damit als mindestens wunderlich. Als sie mich im Lara Mart einmal auslachten, sagte ich: »Die Plastiktüten bringen uns eines Tages alle um und dann werdet ihr an meine Worte denken«. Ich wirke wie eine irre Verschwörungstheoretikerin, das ist mir auch klar.)

Als ich die Rohrrattensuche aufgegeben habe, lande ich im Buka, einem der angesagtesten Restaurants der Stadt mit einer Filiale in New York. Entweder handelt es sich bei er Jeunesse dorée accrabien um Gastro-Mormonen wie ich oder der Laden ist so gut, dass er auch um 15.30 Uhr bumsvoll ist. Der Gastraum befindet sich im ersten Stock auf einer nach zwei Seiten offenen Terrasse. Statt in Plastikschüsseln, die zum Tisch gebracht werden, wäscht man sich die Hände in zwei Waschbecken hinter einer Stellwand. In einer Ecke spielt eine kleine Band: ein Keyboarder und einer, der leiernd dazu singt - keine Weihnachtslieder, sondern Afrikanisches -, während er auf seinem Telefon Whatsapp-Nachrichten tippt.

Die Leute sind entweder mit Freunden hier oder zum Geschäftsessen hier, in Hosenanzügen, Kostümen und dem, was sich hier political suit nennt. Einer trägt einen im Glencheck-Muster – dreiteilig, komplett mit Weste, Krawatte und Einstecktuch. Ich kann nur immer wieder staunend vermerken: 31 Grad, 85 Prozent Luftfeuchtigkeit. (Eine meiner Hosen schimmelt. Mir kam sie schon lange eigenartig schwer vor, jetzt wachsen überall weiße Flecken. Merke: Leinen-Viskose-Gewebe speichern offensichtlich auf ungute Art Feuchtigkeit.)

Es gibt Perlhuhn in Erdnuss-Suppe und frischen Palmwein – mein neues Lieeeeblingsgetränk. Sieht so ähnlich aus und schmeckt so ähnlich wie Federweißer, nur besser. Man trinkt ihn aus einer halben Kalebasse, eine Art Kürbis, der am Baum wächst. Neue Geschäftsidee: Palmwein-Import. Als Janne und ich 2005 in London in rauen Mengen Ginger Beer tranken, dachten wir kurz darüber nach, es nach Deutschland zu importieren. Ein paar Jahre später tauchte es dann in Berliner Bars als Zutat für diverse Drinks auf. Ich sehe eine große Zukunft für Palmwein als Sommer-Aperitif.

23.12.

Am Straßenrand an der Küste entlang in Richtung Westen gibt es Rohrratte zu kaufen, genau wie etwas mit langem, schwarz-weiß geringeltem Schwanz – eine Katzenart oder ein Affe, ich kann es nicht genau erkennen. Wie ich im Econimist lesen muss, ist Rohrratte wie alles Buschfleisch doch problematisch, wegen Ebola und weil die unregulierte Jagd das Ökosystem zerstört. Mann!

Die von mir wegen ihrer Quacksalber ungeliebte VIP-Busgesellschaft wirbt auf Social Media u.a. damit, allen ungeachtet ihres Geschlechts, ihrer Stammes- und Volkszugehörigkeit die gleichen Jobchancen einzuräumen. Für die Religion gilt das offenbar nicht, die Quacksalber an Bord sind immer Christen. Diesmal sind es gleich zwei hintereinander, sie lassen die Passagiere »Amen« sagen, bevor sie ihre Mittelchen auspacken. Der Bus passiert Kormantse, einer von Louis Armstrongs Vorfahren wurde von hier aus auf Plantagen in der Karibik verschifft; ein Ur-Ahn von Michelle Obama sah Afrika das letzte Mal in Cape Coast, nicht weit von hier.

In Elmina übernachte ich im One Africa Health Resort, das allein so heißt, weil es Massagen anbietet. Direkt vor dem Hotelgelände brechen sich gewaltige türkise Wellen auf den braunen Felsen, davor Palmen. Ich kann nicht glauben, dass ich seit Monaten in einem Land am Atlantik bin und noch nicht einmal darin schwimmen war. (Ich frage dann später noch einmal genau nach. (Merke: Präzise formulieren. Es gibt Strände, es gibt saubere Strände, Strände zum Schwimmen und welche, um nass zu werden) und erfahre, dass man morgens an einer Stelle sehr wohl ins Wasser gehen kann, ohne von der Strömung mitgerissen zu werden).

Die schlohweiß-rastalockige Hotelbesitzerin stammt aus Chicago. Ich beziehe die strohgedeckte Hütte, deren Wände mit Fotos von Malcom X geschmückt sind, das angeschlossene kleine Museum hängt voller Bilder, Zeitungsausschnitte und Dokumente, die sowohl die Sklavenunterdrückung als auch die gesellschaftliche und politische Bedeutung Schwarzer in der Welt dokumentieren. Bibelzitate beweisen, dass Jesus schwarz war, mit kupferfarbenen Füßen. Eine Wand ist Pionier-Frauen gewidmet, Sojourner Truth, Maya Angelou, Condolezza Rice. Karikiert wird der ganze pan-afrikanische Ansatz e i n w e n i g durch die offensichtlich seit den 80er-Jahren ungebrochene Liebe der Hotelière zu einem afrikanischen Diktator. Über dem Eingang zur Rezeption steht: »His Excellency President Robert Mugabe«, hinter dem Tresen hängt neben Bildern von Obama und Kwame Nkrumah ein Zeitungsartikel mit dem Bild des zwischenzeitlichen Ex-Präsidenten: »Zimbabwe: We will not capitulate«. Nun ja. Auf dem gesamten Gelände herrscht übrigens Rauchverbot. Zigaretten verteufeln, Unterdrückung bekämpfen und Diktatoren verehren – Joachim würde sagen: Wie unterschiedlich die Menschen doch sind. Und Ullis Oma: Nicht ärgern, nur wundern. Was ja generell ein gutes Lebensmotto wäre.

24.12.

Nichts geht über ein Glas hausgemachten Gin am Weihnachtsmorgen.

Auf der Fahrt von Elmina schaue ich wieder aus dem Trotrofenster in die Landschaft, fünf Stunden lang - wird einfach nicht langweilig. Dass für einen Teil der Bevölkerung Weihnachten ist, merkt man nur beim genauen Hinsehen: Ab und zu liegt am Straßenrand eine Decke voller Kuscheltiere zum Verkauf, manchmal trägt ein Bauarbeiter oder Taxifahrer eine Weihnachtsmannmütze oder eine glitzernde Spaß-Brille, die die Zahl 2018 beschreibt. Die Kirchen sind schon um die Mittagszeit so voll, dass manche draußen stehen müssen. Keiner wünscht »Merry Christmas« – vielleicht weil nun mal nicht alle feiern. Dafür tragen die Leute, die feiern, ihre schönsten, buntesten Outfits, manche Frauen gehen unter weißen Stoffsonnenschirmen, was zusammen mit ihren ab dem Knie ausladenden weißen Kleidern fast viktorianisch wirkt. Der Soundtrack der Weihnachtstage ist ohrenbetäubender Highlife aus dem Autoradio – alles wie immer also. Der Fahrer gibt entsprechend Gas.

In Beyin angekommen, ich war der letzte Fahrgast an Bord, stellt sich der diensthabende Manager im weihnachtsschmuckfreien kleinen Resort als »Bossman« vor, er ist aber sehr zuvorkommend. Bossman hat die Schildkröten-Nachtschicht: Er passt am Strand auf, dass niemand die im Sand vergrabenen und durch eine Holzbox ohne Boden geschützten Eier klaut. Knapp zehn Euro zahlen sie jedem Dorfbewohner, der 200 intakte Schildkröteneier abgibt, statt sie zu essen. Die Eier sind so groß wie Tennisbälle, drei bis fünf Monate bleiben sie im Sand, bis die Babys schlüpfen und ins Meer laufen wollen. Das ist der Moment, in dem Bossman vor Ort sein und die Holzboxen entfernen muss, deswegen kuckt er jeden Tag nach dem Rechten. Je nachdem, wie warm es war, schlüpfen kleine Weibchen oder Männchen.

Die riesigen Wirbel und der ein Meter lange Schenkelknochen auf der Terrasse der Rezeption wurden hier am Strand angespült. Die Wirbel könnten einem Wal gehört haben, der Schenkel nur einem Elefanten.

Bis zur Elfenbeinküste sind es nur 15 Kilometer. Hätte ich zwei Tage mehr Zeit, würde ich fuer die vier Stunden nach Abidjan fahren. Es soll sich um eine rechte Glitzermetropole handeln, mit einer Pyramide im Zentrum. Außerdem: Restaurants. Selassie, die Köchin, hat mir bestätigt, dass die Kolonialmacht Frankreich einen positiven Einfluss auf die Esskultur der frankophonen Länder hatte: mehr Gänge und mehr Raffinesse als die Engländer. Auf die Frage nach den drei afrikanischen Foodie-Ländern – sie kennt 45 von 57 der Staaten auf dem Kontinent –, sagte sie: Côte d’Ivoire, Kamerun und Senegal. Der Gewinner beim Baguette-Wettbewerb in Paris kam im vergangenen Jahr aus dem Senegal. Voilà. Emma, eine Exil-Ivorin, die ich am Krater-See traf, erzählte mir: Wenn man in ihrem Land jemanden wegen seines Kleidungsstils beleidigen will, sagt man: »Du siehst aus wie ein Burkinabe«. Und die fand ich ja schon sagenhaft. Kann aber auch sein, die Ivoren finden die Burkinaben altmodisch gekleidet. Also genau das, was ich mag. Côte d’Ivoire dann: nächstes Mal.

Hier ist es aber auch gut. Ziemlich sogar. Wort-Instagram: Ich bin der einzige Gast. Von meiner Hütte mit den bodentiefen Fenstern und der Terrasse sind es ein paar Meter zum Meer. Himmel und davor Palmen wie in Miami Vice. Am Strand kein Mensch, nur in der Ferne ein paar Fischerboote und ein paar Kinder, die angelaufen kommen und fragen, ob ich gern eine Kokosnuss zum Trinken hätte - einfach so. Nchts gibt es hier so reichlich wie Kokosnüsse. Der Älteste öffnet sie mit ein paar gezielten Schlägen seiner Machete.

Der (deutsche) Weihnachtsmorgen: Am Strand steht eine ponykleine, schwarz-weiße Kuh. Kurz nach Sonnenaufgang schießt jemand im Palmenhain ein kleines, bunte Funken sprühendes Feuerwerk in den rosafarbenen Himmel. Dann ein Ausflug.

Kein Mensch weiß so genau, warum die Bewohner von Nzulezo im 15 Jahrhundert entschieden, ihr Dorf auf Stelzen ins Wasser eines Sees zu bauen - nicht einmal sie selbst. Sie sind keine großen Fischer, sie verehren keinen Wassergott, es ist sicherlich nicht praktisch. Aber schön sieht es aus. Eine Stunde dauert die Kanufahrt durch die Wetlands von Amansuri. Die Affen sind schon weg, dafür gibt es bunte Vögel. Eine Zeit lang paddeln wir durch Dschungel, nur eben in nass und sumpfig. Meinem Kanu-Staker und mir kommt ein Einbaum entgegen, der Typ darin haut mit einer Keule nach Katzenfischen im Wasser. Im Stelzendorf selbst gibt es eine Bar, eine sickbay genannte Krankenstation und drei Kirchen: römisch-katholisch, methodistisch, Pfingstgemeinde. Die kleinsten Kinder müssen gut beaufsichtigt werden, damit sie nicht ins Wasser plumpsen, mit drei bis vier Jahren lernen sie das Schwimmen, danach das Kanupaddeln. Ich trinke einen Schluck vom apatche, destilliert nicht aus Wacholderbeeren, sondern aus der Bastpalme, aus der auch die Dächer der Häuser und die Staken gemacht werden. Um den Häuptling des Dorfes treffen zu dürfen, muss man allerdings eine Flasche gekauften Alkohol mitbringen. Er lächelt dann nur und lässt seinen Zögling sprechen.

Die zwei Mädchen aus der Küche des Resorts fragen mich, in welche Kirche ich ginge, und ob ich heute Abend gern mit ihnen käme. Hm, nö. Aber morgen Abend zur Nicht-Kirchen-Musik begleite ich sie gern.

Nach einem Meerbad beobachte ich die sandfarbenen Krabben. Wenn man stillhält, erscheinen sie auf einmal wie aus dem Nichts – Hunderte von ihnen. Manche sind fingernagelklein, manche so groß wie Handflächen. Jede von ihnen gräbt sich mit einer ihrer beiden Schaufeln ganz schnell ein Loch, der Sand wird ein paar Zentimeter weiter abgeladen. Dann setzt sie sich so rein, dass nur noch die Stieläuglein rauskucken, und wartet auf Fliegen und Käfer. Mit einem Satz ist sie i m K r e b s g a n g hingeeilt, hat das Insekt gepackt und verspeist.

Ein Gedanke, der mich ein bisschen verrückt macht: dass das Meer schon seit jeher genau so Wellen schlägt und rauscht, seit Millionen von Jahren, ohne auch jemals nur eine Sekunde aufzuhören. Dass da etwas auf diesem Gesteinsbrocken im All hin und her schwappt, vielleicht für immer.

26.12.

Da will man zu Weihnachten einmal in Ruhe arbeiten, da überschlagen sich die Ereignisse. Am frühen Nachmittag dringen vom Strand her Rufe hinauf. Als ich nachschauen gehe, steht im Palmengarten des Resorts ein Dutzend junger Typen und zieht mit nackten Händen an einem Seil. Ich nicke zum Gruß und gehe dem Seil nach zum Strand. Dort ist es in einer Schlaufe um einen in den Sand gerammten Pfahl gelegt, weitere Männer stemmen sich gegen die im Wasser wirkenden Kräfte. Der am Pfahl winkt mich heran, er heißt Abraham, der Rufer ist Tony, er hat das Kommando. »Arrrrrrrrr, ar, arrrrrrrr. Moko! Moko!«

Am und im Wasser stehen zehn weitere, teils mit Sonnenbrillen, teils mit Turbanen aus T-Shirts, zwei haben diesen ausgestülpten Bauchnabel, den man oft sieht - Nabelbruch wegen schwerer körperlicher Arbeit. Manche sind noch Kinder oder Teenies, darunter ist auch der, der mir die Kokosnuss schenkte, ein Mann muss um die 70 sei. Er heißt Sylvester und trägt einen zerknautschten lilafarbenen Strohhut, der auch einer Dame seines Alters gut zu Gesicht stünde. Ich setze mich in den Sand und schaue zu, beobachte den Rhythmus aus Ziehen und Warten. Gewartet wird immer dann, wenn die Strömung so stark ist, dass das gegen sie Stemmen nichts bringt. Ich stelle Tony und Abraham Fragen, auf die es so halbwegs befriedigende Antworten gibt (»Wie oft macht ihr das?« - »Immer, immer«; »Wer ist der Chef, wer bezahlt die hier alle?« – Wir arbeiten alle zusammen, jeder hilft mit«), ich werde losgeschickt, um leere Plastikflaschen mit Trinkwasser aus dem Hahn zu füllen und irgendwann soll ich mit am Seil ziehen. Na gut. Die, die hinten fertig sind, laufen nach vorne ins Wasser, zwei tauchen weit draußen. Als am Ende des Seils das blaue Netz mit den gelben Plastikbällen darin zum Vorschein kommt, wird 500 Meter weiter den Strand hinunter eine zweite Schlange eröffnet, die Hälfte der Leute wandert ab und zieht dort. Der Teil des Netzes, der herausgezogen wurde, wir in Schlaufen auf Stöcken zusammengelegt.

Zweieinhalb Stunden nachdem die Operation begonnen hat, hat die Strömung sie einige Hundert Meter den Strand hinunter getrieben. Es liegen fünf Fischlein im Trog, mir wird etwas bang. Und dann ist der Mittelteil des Netzes an Land gewuchtet, darin Hunderte, wenn nicht Tausende Fische. Flapp, flapp. Und Quallen, leere Muscheln, ein paar Krebse, Plastiktüten, Treibgut. Auf einmal sind auch Frauen da, mehr Kinder, ein paar Hunde, über allem kreisen schon die Weihen. Die Fischer benutzen Blechtröge als Schaufeln, um den Fang erst in einem Transportcontainer mit Löchern aus dem Netz und von da aus auf Haufen zu verteilen. Zur Sortierung. Zwei, drei Schlangenähnliche mit Zähnen sind dabei, ein riesiger Octopus, Rochen mit ihren Grinsegesichtern, eine Schnecke, Haus und Tier zusammen dicker als ein Fußball. Ein großer Gelber, viel vom Fisch-Mittelbau, Sardinen. In den kopfgroßen Quallen verstecken sich auch welche.

Die kleinen, runden, wie plattgehauen aussehenden Fischchen mit den goldenen Rücken sind die schönsten. Sie wirken wie aus Silberfolie genäht, unwirklich glatt und perfekt, ohne Schuppen. An ihnen ist wirklich gar nichts dran. Ein kleiner Junge im Spongebob-Shirt merkt, wie ich sie genau anschaue und mit dem Finger darüber streiche, er bringt mir ganze Hände voll davon. Die Krebse scheinen für niemanden von Interesse zu sein, sie laufen zurück ins Meer. Die Kinder sammeln das, was die Fischer nicht gebrauchen können, die Hunde fressen den Rest. Das Netz wird auf ein blaues Holzboot geladen und zurück in den Ort gebracht. Für die Standardware stehen Frauen mit ihren Blechtrögen bereit. Es entspinnt sich ein Streit zwischen Fischern und Händlerinnen um den Preis für einen, schätzungsweise, 30-Liter-Trog voller Fisch. 30 Cedis, sagt Abraham, sei ein guter Preis. Knapp 5,80 Euro.

Eine junge Frau namens Charlotte sagt, ich solle mir was aussuchen. Nein, nein, als Geschenk und doch, doch, die im Resort würden mir das heute Abend zubereiten. Ich sage, mal wieder: »Ihr Leute seid unglaublich«. Einer der Fischer reicht mir den Oktopus. Als ich entsetzt schaue, versucht er es mit dem großen Gelben. Ich lasse ich drei Fische in überschaubarer Portionsgröße reichen, einen für mich, die anderen beiden für die Hotelmannschaft.

28.12.

Zum Einschlafen auf Deutschlandradio Kultur ein Hörspiel gehört. Der Autor ist an die Bänder geraten, auf die Wolfram Siebeck in den 1980ern seine Restaurant-Verrisse gesprochen hat.

»Die Schalotte ist von der ordinärsten Zwiebel.«

»Die Karte ist allgemein verseucht von Touristen. Alle wollen sie fein kochen.«

»Dazu gab es, und das war ganz besonders dämlich, einen Chinakohl. Um noch mal die Dummheit dieses Menschen zu dokumentieren: Die Käseplatte war von erbärmlichster Auswahl.«

»Das machen wir zu Hause besser. Da gehen wir nicht mehr hin.« (Wir, das sind er und seine Frau Barbara, die stets im Hintergrund zu hören ist, beipflichtend brummend.)

»Primitiv« ist sein liebster Diss, »dagegen ist nichts zu sagen«, das höchste Lob im Rahmen eines Verrisses, etwa in: »Gegen diese Fischsuppe für ihre acht Mark {acht Mark! Das sind vier Euro!} ist nichts zu sagen«. Johanna Adorján schrieb mal sinngemäß: Wer »Da kann man nicht meckern« sage, wollte eigentlich meckern, fand aber leider nichts.

Einmal hat Siebeck während des Diktats einen Schluckauf von der ordinärsten Sorte. Auch nicht schön.

Dazwischen werden Leserbriefe verlesen: »Sehr geehrter Herr Siebeck, ich verfolgte ich Ihren Bericht im Fernsehen und dabei auch Ihre Demonstration des Tafelns. Mit vollen Bäckchen kauend nach dem Glase zu greifen, ohne vorher die Serviette benutzt zu haben, und zu trinken, ist ganz schlimm. Der passende Ausdruck hierfür ist Wasserspülung. Pfui, bäh. Das Aufstützen des Ellenbogens beim Trinken: Also wissen’se, nee.« Laut gelacht.

29.12.

Die Antwort auf die Frage, wie die christlichen Ghanaer Silvester feiern, in einem Claim: »Pray Your Way Into 2018«. Das Ganze nennt sich Crossover und geht um 20.30 Uhr los, in a church near you. Das islamische Jahr geht am 11. September 2018 zu Ende – ich glaube also, es wird ein ruhiger Abend in Accra.

Apropos Ruhe: Ich finde ja, auch deutsche Tankstellen sollten grundsätzlich mit lauter Musik beschallt werden – Highlife und Afrobeats, versteht sich. Das hebt die Laune. Kwame, ein sehr süßer und belesener Taxifahrer, mit dem ich gestern eine Stunde im Feiertagsrückkehrerstau verbrachte und der sich bereitwillig von mir den Weg zeigen ließ (»Ich versuche von jedem meiner Fahrgäste etwas zu lernen«, sagte er. Er interessierte sich besonders fürs deutsche Schulsystem. Er hat zehn Vollgeschwister, darunter drei (!!) Zwillingspaare. Ich rief: »Wie hat das deine Mutter nur hinbekommen!«, er sagte: »Ihr geht es gut, nur mein Vater ist schon tot«), wünschte sich, dass ich ihm zum Abschied ein deutsches Lied singe. Mir fiel tatsächlich als erstes Atemlos ein – das darf doch bitte nicht wahr sein! Ich sang dann LaLeLu, was Besseres hatte ich auf die Schnelle nicht zur Verfügung. Der populäre ghanaische Tanz, das lernte ich dann von Kwame, heißt übrigens Azonto.

30.12.

Die drei meist gehörten Sätze:

1. »Obruni!«

2. »Where from you?« Pidgin-Englisch, kann sowohl: »Aus welchem Land kommst du?«, als auch »Woher kommst du gerade?« heißen, meist gefolgt von: »Where you goin’

3. »Entschuldigung, aber wir haben derzeit ein Problem mit dem Internet.«

Was davon abgesehen nicht fehlen wird: die Verrenkungen, die ich angesichts der Religionsfrage lächerlicherweise immer noch anstelle. Meistens gebe ich vor, Protestantin zu sein, was ja nur halb gelogen ist. Ich habe keine Lust, das zu diskutieren. Es ist uninteressant und bringt einfach nichts. Bei der Kinderfrage sage ich je nach Stimmung: »Da, wo ich herkomme, entscheiden sich manche Leute gegen Kinder, das ist ganz normal« oder »Noch keine«. Worauf mich ein Jungspund mal nach meinem Alter fragte und mich, nachdem ich wahrheitsgemäß geantwortet hatte, auf meine drohende Menopause hinwies. Gotta love it.

Ein Nachtrag zu gestern, auf Wunsch von Joachim, der schrieb: »Berichte bitte auch, wie genau die Kirchen geformt sind«. Also gut:

Sie können jede Form annehmen: Baracke mit Wellblechdach, mehrstöckiges Haus, mit Turm und Kirchenschiff, in Jamestown gibt es sogar eine Kathedrale, gebaut von demselben Architekten wie das Victoria and Albert Museum in London. Vor allem aber gibt es viele. Also: unvorstellbar viele. 2014 waren es angeblich mehr als 10.000 - bei 28 Millionen Menschen. Tendenz steigend. Mitunter überbieten sich an einer Straßenkreuzung drei Schilder, die in die gleiche Richtung weisen: Pentecostal Church, New Methodist Church, Mega Church (Nach diesem Muster sieht man manchmal auch eine Muslim Mosque, ein niedlicher Pleonasmus). Hier in Osu stehen sich die St. James Catholic Church und die gerade im Entstehen begriffene Church of Christ in einer kleinen Straße direkt gegenüber. Die kleine, weiße Christiansborg-Baptistenkirche um die Ecke (Wahlspruch: »Where everybody is somebody«) bot im November kostenlose Gesundheitschecks an, heute veranstaltet sie eine Weihnachtsfeier »für Kinder und Witwen« (nein, Witwer gibt es offenbar nicht; ja, Weihnachten geht noch eine Weile; ja, der auf dem Transparent illustrierte Weihnachtsmann ist wie das restliche Weihnachtspersonal auch: weiß).

Zutritt zur Kirche hat, im Gegensatz zu etwa Äthiopien, erstmal jeder und jede. Zumindest wurde ich bislang immer eingelassen und auch wenn mir eine Einladung zum Kirchenbesuch ausgesprochen wurde, hat man mich nicht gefragt, ob ich gerade menstruiere. Neben den Kirchen gibt es in ländlicheren Gegenden Prayer Camps, auf die mit gigantischen Werbetafel hingewiesen wird, gern mit einem Jesus am Kreuz, Gesicht schmerzverzerrt. Eines befindet sich mitten in Accra im Achimota Forrest. Über ein anderes, das Hebron Prayer Camp, heißt es im Netz: »It is reported to host up to 10,000 congregants on a monthly and annual basis with their advertisement and social media tactics said to be one of the best in Ghana«. Da ist dann jeden Tag von früh bis spät Programm. So in etwa stelle ich mir den Vorhof zu meiner persönlichen Hölle vor. Gleichzeitig werde ich mich ärgern, dass ich mir das nicht angeschaut habe, genau wie ich mich bis heute ärgere, keinem äthiopischen Exorzismus beigewohnt zu haben.

Auch auslassen musste ich das Mount Horeb Prayer Center im Inland, zu dessen nächtlichen Veranstaltungen Ladeninhaber und -innen anreisen, um einen Priester gegen die Zahlung von Geld für gute Geschäfte beten zu lassen. (Das war in Ausflugstipp von einem der Belgier auf der Fähre, der mir aber auch mehrmals Myanmar als Traum-Reisedestination empfahl. Im November, als schon lange klar war, dass dort Tausende Rohingya umgebracht wurden. Wie weit kann man selektive Wahrnehmung treiben? Sehr weit anscheinend.)

Ich habe noch ein paar Mal versucht, das Thema Kirche und ihren Einfluss mit Ghanaern zu diskutieren, die im Westen leben oder für eine Zeit dort lang gelebt haben, also vom Atheismus zumindest gehört haben müssen: sinnloses Unterfangen; auf das Gesprächsangebot wird überhaupt nicht eingegangen. Die Kirche ist, scheint mir, unantastbar. Mit der Religion ist es wohl so wie mit den Kindern: Hauptsache, jeder hat eine. Viel wichtiger als die genaue Beschaffenheit deines Glaubens, ist, ob er dich zu einem guten Menschen macht. Und das ist halt leicht überprüfbar.

Was fehlen wird:

Luft. Frisch ist sie zwar meist nicht so sehr, aber nachdem ich – bis auf einem Kinobesuch und drei Fahrten in klimatisierten Bussen – praktisch drei Monate bei offenen Fenstern gelebt habe, wird mir das komisch vorkommen: abgeschlossene, schallisolierte Räume.

Das Krähen der Hähne zu Unzeiten. Gut zu wissen, dass immer jemand vor einem wach ist. Das Geräusch des Reisigbesens auf dem Boden. Sittiche in der Kokospalme. Die Straßenstände mit frischen Kokosnüssen. Das Hupen der Eisverkäufer. Die Unterhaltungen und Diskussionen in der Nachbarschaft, die auf Twi oder Ga oder Fante abgehalten werden und von denen ich also nichts verstehe. Die irren Farben einer Siedleragame in der Sonne. Sowieso: das Licht und die Farben.

Diese grundsätzliche Nicht-Angepisstheit der Ghanaer und Burkinaben, die durch nichts so leicht zu erschüttern ist. Auch wenn es mir immer noch nicht richtig gelingt, angesichts dysfunktionaler Bankautomaten (die dann gern meiner Bank die Schuld zuschieben), sehr entspanntem Service und ausgefallener Strom-, Wasser- oder Internetversorgung zu relaxen – und mich die Aufforderung »Relax!« dann erst so richtig ausrasten lässt. Fluchen ist übrigens sehr verpönt, Beleidigungen auch im Straßenverkehr gelten als äußerst grob. Ständiges Hupen, auch wenn es rein gar nichts an der Situation ändert, ist dagegen absolut okay.

Der ewige Sommer. Neulich waren abends 27 Grad und ich fror. Soweit ist es also gekommen.

Eine von Christoph Schlingensiefs Fragen war ja, was von Afrika zu lernen sei. In diesem Sinne (unvollständige Aufzählung):

Man ist nie zu arm, um den anderen auf ein Getränk oder eine Mahlzeit einzuladen. Und sei es als Geste.

Fremde sind ein Grund zur Freude und verdienen besondere Fürsorge.

Ein Kompromiss oder ein Provisorium ist auch eine Lösung und oft keine schlechte. Oder zumindest die einzige, die zu haben ist. Perfektionismus ist kompliziert und langweilig.

Wie man sich kleidet, ist niemals zu vernachlässigen. Um mit dem Motto eines burkinabischen Modegeschäftes zu sprechen: »Le style et le goût, ça parle de la reputation«. Und damit demnächst zurück ins Mutterland von Camp David.

31.12.

Profi-Tipp: Silvester am 30.12. feiern, das ist immer lustiger. Außerdem sind die Taxis günstiger bzw. leichter zu bekommen, es gibt wenige Konkurrenzveranstaltungen, der fehlende Druck, die Nacht des Jahres zu erleben, führt oft dazu, dass es die Nacht des Jahres wird.

Die Einladung zur Party von Efua und Fred erreichte mich über Efuas beste Freundin, die leider verhindert ist. Ich hatte also besser noch einmal nachgefragt, mit den Worten: »Mein Deutschsein erlaubt es mir leider nicht, da einfach unangekündigt aufzutauchen. Ist es wirklich okay?« und bekam zur Antwort: »Feel free. Wenn du sie nicht suchst, wirst du die beiden in der Menge wahrscheinlich nicht mal sehen.« Große Vorfreude.

Mein Taxifahrer, Azumah (»der Krieger«) von einem Unterstamm der Ewe aus der Voltaregion, erklärt mir, wie er Silvester feiert: morgens Kirche, es sei schließlich Sonntag, dann arbeiten, dann Essen mit der Familie, von 21 bis 1 Uhr wieder Kirche, danach feiern. Es gäbe um Mitternacht durchaus Feuerwerk, Knockout genannt. »Dann betet ihr zum Geräusch von Böllern?« – »So ist es.« Wir passieren ein gigantisches Plakat, auf dem eine Kirche für eine übernatürliche Fußwaschung (das steht da wirklich so) beim Überqueren der Jahresgrenze wirbt – auch eine Option.

Die Party ist dann schon von weit her zu hören, die Buckelstraße, die zum Haus führt, von Autos gesäumt. Die Ghanaer, so viel weiß ich inzwischen, fangen in der Regel früh an zu feiern und laufen sich schnell warm. Es ist kurz nach acht, der Hof schon gut gefüllt. Es gibt ein Barbecue, auf einem Tisch eine offene Bar plus zehn große Kühlboxen voller Getränke, einen gelben 25-Liter-Kanister, der mal Frittieröl enthielt und in dem jetzt frischer Palmwein schwappt (Eyes full of love), einer schiebt eine Schubkarre voller Kokosnüsse durch die Menge. Ich treffe die Gastgeber Fred und Efua, letztere fällt mir um den Hals, und tatsächlich zwei, drei Leute, die ich von ganz woanders her kenne: Yorm zum Beispiel, die ein Jahr lang in Frankfurt gelebt hat (es aber eher schwierig fand, wie sie sich ausdrückte, essenstechnisch und sozial) und derzeit in Johannesburg ist, ihr ebenfalls ghanaischer Mann Edward lebt in New York, über die Feiertage haben sie sich (und ihre Familien) in Accra getroffen. Das nenne ich Fernbeziehung.

Auf dem Rasen tanzen schon Leute, es läuft ausschließlich Afrobeats, es wird laut mitgesungen. Mein Vater fragte mich vor vielen Jahren, als ich auf meine ersten Technoparties ging (ich war 13 oder 14 - danke noch mal, Mama!), darüber aus, wie wir da tanzten und als ich es ihm erklärte (»Jeder für sich, aber doch irgendwie alle zusammen«), betrauerte er, dass es keinen Paartanz mehr gäbe (was ja so auch nicht unbedingt stimmt).

Ich freue mich, berichten zu können, dass es hier sehr viel Paartanz gibt – auch dergestalt, dass zur Abwechslung die Frau den Mann von hinten nimmt, oder ein Mann s c h e r z h a f t einen anderen (No homo! Dazu bitte mein Interview mit Jane Ward aus dem März lesen, ist online), und als Dreiertanz: Mann-Frau-Mann-Sandwich.

Der Höhepunkt – der Party, meiner Zeit hier, vielleicht sogar meines Ausgehjahres (obwohl: die Herzchenaugenparty im Januar, auf der wir auf der Tanzfläche stehend Stille Post spielten und einander »You just don’t love me yet« ins Ohr flüsterten; das pfälzische Weinfest im Juli, als der Alleinunterhalter Come on Eileen spielte und wir nach Hause tanzten) – der Höhepunkt ist erreicht, als jemand »Circle!« ruft und etwa 50 Leute eine Polonaise durch den gesamten Hof tanzen, ohne Anfassen, Tekno-Style (ich meine den Musiker): kleine Bewegungen, stampfend, immer in Richtung Boden, die Arme angewinkelt wahlweise mit dem weißen Schweißtuch wedelnd, ab und zu ein Bein abspreizen wie ein pinkelnder Hund. Wenn der DJ, der manchmal auch rappt, den Ton rausdreht, werden die Hände in die Luft geworfen und alle kreischen. Ich lege mich einfach mal fest: Yara von Tekno ist der Song meines Jahres.