Mad in India

Reportage
zuerst erschienen im Dezember 1999 im jetzt-Magazin

MTV gibt es auf der ganzen Welt, doch das Programm sieht überall anders aus. In Indien setzt das Musikfernsehen vor allem auf Videos, die die traditionelle Kultur aufgreifen. Denn die Fernsehmacher in Bombay haben gelernt: Gegen die Musik alter Hindi-Filme hat Britney Spears keine Chance.

Chai – der indische Tee wird eingegossen. Ein Junge nimmt den metallenen Korb mit den Gläsern in die Hand, um den Tee zu den Kunden zu tragen. Er läuft los, am Hafen, am Markt vorbei. Vorbei an einem Mann, der am Straßenrand rasiert wird, vorbei an einem Karussell. Der Junge springt durch den Alltag Bombays. Zum Schluss tanzt er vor einer Wand mit verblichenen Filmplakaten, begleitet von einem alten Filmsong: Je jawani he diwani – Jungsein ist verrückt.

So stellte sich MTV-India vor drei Jahren vor. Mit Eigenwerbung wie diesem Film nahm das bis Ende 1996 westlich geprägte Programm eine indische Identität an, versprach, ein indischer Sender für indische Zuschauer zu werden. In den Monaten zuvor hatte die internationale Ausgabe von MTV die meisten Inder befremdet, abgestoßen. Das Programm wurde als grobschlächtig und unhöflich empfunden. Die Musik war zu schwer und zu schwarz – zu viel harter Rock und zu viel Rap. Das Publikum hatte ein Machtwort gesprochen, das sich das Team von MTV-India in den letzten drei Jahren zu Herzen genommen hat. Heute trägt das Logo die Farben Indiens – orange, weiß, grün – alle VJs sind Inder, die Englisch mit eingestreuten Brocken der Amtssprache Hindi sprechen. Nur ihre Akzente verraten, aus welcher der Regionen des riesigen Landes sie kommen, in dem siebzehn regionale Sprachen mit offiziellem Status gesprochen werden.

Cyrus, Art Director: „Die Leute, die man plötzlich auf MTV zu sehen bekam, hatte man so nie zuvor im indischen Fernsehen gesehen. Wir durchbrachen Grenzen. Wir zeigten normale Menschen und Versatzstücke unserer Straßenkultur: Bettler, die sich mit einer Peitsche geißeln. Eitle, Bidi-Zigaretten rauchende Taxifahrer. Frisörläden, in denen du eine Massage abbekommst, bei der dir der Kopf fast abgerissen wird. Und diese Szenen unterlegten wir mit Remixes alter Hindifilmsongs. Popmusik bedeutet bei uns nicht dasselbe wie im Westen. Wenn ich zum Beispiel jemanden nach einem Protestsong frage, wird er dreißig Tage lang grübeln. Es gibt bei uns keine Tradition der Rebellion, keine studentische Kultur, keine sozialen Bewegungen, die Indien von grundauf verändern wollen. Trotz aller modernen Einflüsse hat sich unser Wertesystem kaum geändert. Konfrontation funktioniert nicht, oberstes Gut ist Harmonie. Also müssen wir bei Provokationen vorsichtig sein. Trotzdem haben wir einen Stil geschaffen, bei dem es vor allem auf Humor ankommt. Wir lachen über uns selbst, was in Indien sehr ungewöhnlich ist. Aber wir fühlen auch eine gewisse soziale Verantwortung. Gleich im ersten Jahr haben wir zehn Spots über Aids gedreht, in denen offen über Kondome geredet wurde. Wir haben von den USA die Kampagne ‚Rock The Vote’ übernommen: Junge Leute reden vor der Kamera über das, was sie interessiert und bewegt. Die Message war: ‚Geht wählen, eure Stimme zählt.’“

Zum 50-jährigen Jubiläum Indiens verkündete MTV im Sommer 1997: There is a song for everyone! Auch für Mädchen, die an den Straßenkreuzungen Blumengirlanden verkaufen. Auch für Bauarbeiter, die für einen Hungerlohn vom Land nach Bombay ziehen. Auch für Transsexuelle, die als Hijras eine eigene Kaste bilden. Sie alle wurden direkt von der Straße ins Studio geladen. Der alte Schlager, der die würdevollen Gesichter der Arbeiter untermalte, beschwor: „Ich bin das Herz eines alten Mannes, die Seele und der Geist dieses Landes.“ Menschen, die man bislang eher aus den Sonntagsreden der Politiker kannte, zogen nun plötzlich ins schicke Fernsehen ein.

Sangeeta, Marktforschung: „Es gibt so viele Mythen und Vorurteile darüber, was junge Menschen interessiert. Lange dachte man bei MTV, Jugendkultur sei eine globale Bewegung. Hip und Swing und Rebellion und Piercing – überall auf der Welt gleich. Doch die indischen Jugendlichen wollten das nicht. Sie mögen keine Rockmusik, sie achten ihre Eltern und sie ziehen sich gerne gut an. Unser Programm muss im Kern mit diesen Werten übereinstimmen, das wissen wir auch aus Umfragen, die das größte Marktforschungsinstitut des Landes hat für uns gemacht hat. Die Jugendlichen erwiesen sich als konservativ. Sie befürworten weder Sex vor der Ehe (nur 29 Prozent) noch das Zusammenleben ohne Trauschein (nur 31,5 Prozent). Zwar meinen mehr als die Hälfte, sie würden gerne selbst entscheiden, wen sie heiraten, aber gleichzeitig würde eine weit größere Mehrheit eine arrangierte Heirat akzeptieren. 70 Prozent gehen nie in die Kneipe, und etwa 60 Prozent halten Musikfernsehen für die beste Unterhaltung.“

Noch vor zehn Jahren konnte man nur zwischen zwei staatlichen Fernsehkanälen auswählen. Ausländische Musik wurde kaum importiert, es gab keine einheimische Popmusik, veröffentlicht wurden nur die Soundtracks der populären Filme, auf Kassetten in schlechter Qualität. Als sich Indien nach Jahrzehnten der selbstauferlegten Isolation Anfang der neunziger Jahre zu öffnen begann, wurden die verpassten Musikstile im Zeitraffer nachgeholt. Moden wechselten wöchentlich. Sony, BMG und Polygram eröffneten indische Filialen, fast in jedem Stadtteil Bombays haben mittlerweile schicke Musikgeschäfte aufgemacht. Im letzten Jahrzehnt ist die Zahl der Mittelklasse-Haushalte gestiegen, sind Jugendliche selbstbewusster geworden. Sie haben mehr Interesse für Mode und Musik entwickelt; sie können wenigstens gelegentlich in eine Disco oder eine Kneipe gehen. Und sie sehen MTV. Neun Millionen Haushalte erreicht der Sender, eigentlich nicht viel in einem Land mit fast einer Milliarde Einwohnern. Aber allein in den letzten zwölf Monaten hat sich die Zuschauerzahl um 700 Prozent gesteigert. In einem typischen indischen Haushalt gibt es aber nur einen Fernseher. Was geguckt wird, bestimmen die Eltern. Die Jugendlichen halten die Fernbedienung nur nachmittags zwischen drei und sieben Uhr in der Hand. Zu dieser Tageszeit muss MTV zuschlagen.

Ein Pärchen wandelt auf einer Weide, bewegt sich züchtig zu jauchzenden Geigen, Küsse werden angedeutet /Schnitt/ ein Auto fliegt in die Luft, ein Mensch brennt, ein Maschinengewehr rattert /Schnitt/ eine Frau in futuristischen Designerklamotten eilt zu leichten Techno-Rhythmen ihrem Privatflugzeug entgegen /Schnitt/ ein Ort wie Grönland, ein blauer Sari flattert vor der Gletscherwand und ein schnurrbärtiger Mann irrt durch die Eiswüste /Schnitt/ blühende, ordentliche Gärten, in denen vor Brunnen und Denkmälern eifrig Hüften geschwungen werden, während eine Frauenstimme piepst.

So sehen die Songs in den Masala-Movies aus, jenen mit Klischees, Brutalitäten und Absurditäten stark gewürzten Filmen, die mehr als alles andere die indische Popkultur prägen. Bombay, Sitz von MTV, ist Indiens Filmstadt und der Ort der größten Filmindustrie der Welt; nirgendwo wird mehr gedreht als in „Bollywood‘. Das lässt sich weder übersehen noch überhören. Von jedem Bus und jeder Wand blicken einen die Kinohelden der Stunde siegessicher an, aus jedem Radio und jedem Fernseher ertönen die Lieder, ohne die kein Film auskommen kann. Das erste Wort, das westliche Besucher auf Hindi lernen, ist dank der Filmplakate „Dil‘ (Herz): „Wem gibst du dein Herz‘, „Ich bin in deinem Herzen gewesen‘, „Jemand mit Herz wird die Braut rauben‘ oder einfach nur „Vom Herzen‘. Indische Filme entsprechen ihren Titeln: süß, seifig, voller inbrünstigem Gesang und schwelgerischen Bildern. Da jeder Film mindestens sechs Songs enthält, die seit eh und je wie Videos gedreht werden und die meist wenig oder gar keine inhaltliche Verbindung zur restlichen Handlung haben, eignen sie sich bestens für MTVs Wunschsendungen und Hitlisten. Kein Wunder also, dass knapp die Hälfte aller gezeigten Videos aus Filmen stammen.

Kalyan, Programm: „Wir haben ein sehr gutes Verhältnis zu den Leuten vom Film. Bevor ein neuer Kinofilm anläuft, zeigen wir zuerst einen kurzen Trailer, später folgt das Video zu einem der Songs. Die Filmproduzenten sind dazu übergegangen, eigens Videos für uns zu produzieren, anstatt nur die Songszene aus dem Film herauszunehmen. Damit wird die traditionell starke Rolle der Filmmusik noch wichtiger. Heute hängt der Erfolg eines Films wesentlich davon ab, wie die Musik im Vorfeld ankommt. Unsere Umfragen haben gezeigt, dass die Mehrheit der Jugendlichen auf alte Hindifilme steht, dass sie die Musik ihrer Eltern sogar für bedeutender als die heutige Filmmusik halten. Also spielen wir zunehmend alte Filmclips. Als Lieblingssänger wurde am häufigsten Mohammed Rafi genannt, ein moslemischer Sänger aus den sechziger und siebziger Jahren, dessen Stimme in vielen Filmen zu hören war. Michael Jackson stand an zweiter Stelle, die einzigen weiteren ausländischen Stars sind Madonna und die Spice Girls auf den Plätzen elf und achtzehn. Seitdem die Filmsongs wieder wichtiger geworden sind, verschwinden die Sänger aus den Videos. Sie werden durch Schauspieler und Models ersetzt. Für den größten Hit des letzten Jahres wurden fünf verschiedene Videos produziert, in denen der Künstler kein einziges Mal auftauchte.“

Wochentäglich um 15 Uhr läuft „Loveline“, meist von VJ Malaika moderiert, die so knapp bekleidet ist, dass sie immer mit übereinander geschlagenen Beinen dasitzen muss. Die Fragen der Zuschauer kreisen um Romantisches, Unschuldiges: „Soll ich ihm sagen, dass ich in ihn verliebt bin?‘, „Er beachtet mich nicht“, „Ich kann meine Gefühle ihr gegenüber nicht ausdrücken‘. Über Sex wird nie geredet. Manchmal klingt das Gespräch wie Eheberatung: „Es ist dein Leben, fass dir ein Herz (!) und heirate sie.“ Aber: „Du musst es deinen Eltern sagen“. Malaika weiß, was sich gehört. Wenn ein Anrufer über eine Affäre sprechen möchte, wird der Beitrag aus der Sendung geschnitten. In der Sendung gehen Bilder und Worte weit auseinander.

Natasha, Produktion: „1990 wurden in Indien nur drei Videos produziert, 1996 waren es immerhin schon dreißig, in diesem Jahr sind es 600 gewesen. Ausländische Videos machen in unserem Programm mittlerweile nur noch dreißig Prozent aus, wir nehmen sie nur rein, wenn sie keine Nacktszenen, keine Obszönitäten, keine schmutzigen Sprüche, keine übermäßige Gewalt enthalten. Bei dem Video ‚Thank U’ von Alanis Morissette haben wir den unteren Teil ihres nackten Körpers abgedeckt. Die Brüste wurden ja schon von ihrem Haar versteckt. Das entspricht der üblichen Einstellung in Indien – lerne vom Westen, aber übernehme von ihm nur das, was in deine Kultur hineinpasst. Deswegen ist MTV-Grind momentan die Sendung, die wir vom internationalen MTV-Angebot ausgewählt haben. Mit dem Rest können wir wenig anfangen. Als wir den ersten ‚VJ Hunt’ veranstaltet haben, erhielten wir 7000 Bewerbungen aus dem ganzen Land, aus allen sozialen Schichten. Wir suchen auch jetzt noch VJs, die die kulturelle Vielfalt Indiens widerspiegeln. Sie müssen zweisprachig moderieren können; neuerdings legen wir besonderen Wert auf gute Hindi-Kenntnisse.“

VJ HUNT 1999:

Die kulturelle Vielfalt widerspiegeln? Fast alle Kandidaten sehen gut aus, haben tolle Figuren, die Jungs zeigen gerne freien Oberkörper. Zuerst müssen die Bewerber mit einem Sketch beweisen, wie abgedreht sie sein können: Jennifer aus Kalkutta, ein Liza-Minelli-Verschnitt, verkleidet sich als Mann und albert herum. Aasif macht Stand-up-Comedy auf Hindi. Mini aus Delhi fingiert ein Interview mit einer Filmdiva. Raman aus Pune verkleidet sich als Gott Rama, spricht ein Gebet und macht sich über Michael Jackson und die Welt lustig. Cyrus aus Delhi singt vor einer heiligen Kuh aus Pappkarton. Mini, Aasif und Cyrus gewinnen – eine Hindu, ein Moslem und ein Zoroaster! Zwei Schöne und ein Komiker.

MTV-India ist auch kommerziell ein Erfolg. Schon 1997, im ersten Jahr nach dem Programmwandel, verzeichnete der Sender 240 Prozent mehr Werbebuchungen – in Europa waren es im selben Zeitraum nur 17 Prozent. Alle Shows des indischen MTV werden mittlerweile von großen Firmen gesponsort – Jeans, Knabberzeug, Softdrinks oder Süßigkeiten (die italienische Firma Parfetti verkauft in Indien sehr erfolgreich einen Schokoriegel namens „Alpenliebe“). Mit dem scheinbaren Widerspruch zwischen betont indisch geprägtem Programm und westlich geprägter Werbung können die Zuschauer leben. Um die traditionsgebundene indische Kultur mit der westlichen Konsumwelt glaubhaft zusammenzuhalten, verwendet MTV auch in Indien sein weltweites Schlagwort: „Enjoy“. In MTV-Spots, die zwischen den Musikvideos laufen, wird das Wort den ganzen Tag über eingeblendet. Auf „Enjoy“ können sich alle einigen, weltweit. Vielleicht, weil die Vorstellungen von diesem Begriff so verschieden sind.