Konstanter Hirnsturm

von 
Portrait
zuerst erschienen 2011 in L'Officiel Hommes Germany Nr. 4, S. 90-91

Marc Brandenburg ist zurzeit in Barcelona. Die Sonne ist schon vor einer Weile untergegangen. Das ist Marcs Zeit. Wenn alle schlafen, kann er am besten arbeiten. Er bereitet gerade seine nächste Ausstellung vor. Eine Einzelausstellung in der Hamburger Kunsthalle. Er hat sich Papier anliefern lassen, seine Bleistifte hat er immer dabei. Mehr braucht Marc Brandenburg nicht. Und sehr viel mehr will er auch nicht. Immer nur genau so viel Besitz und Arbeitsmaterial, damit er jederzeit an jeden Ort weiterziehen kann. Warum er zum Arbeiten nach Barcelona geht? „Weil ich hier sozial geschützt bin. Mich interessiert hier nicht so viel und ich kenne auch nicht so viele Leute.“ Ein perfekter Ort, um sich zurückzuziehen und zu arbeiten. In Berlin nämlich, ist Marc Brandenburg sehr gefragt. Als Künstler und als Nachtmensch. Aber dazu kommen wir später.

Marc Brandenburg ist 46 Jahre alt. Seine Mutter Berlinerin, sein Vater Afroamerikaner. Seinen leiblichen Vater hat Marc nicht kennengelernt. In Berlin geboren, wächst er mit seiner Mutter eine Weile allein auf, bis sie heiratet. Sein Stiefvater, auch ein afroamerikanischer in Berlin stationierter US-Offizier, wird bald nach Texas versetzt. Marc hat mittlerweile zwei Halbgeschwister. Sie ziehen alle nach Texas. Es ist keine schöne Kindheit, die Marc Brandenburg erlebt. Der Stiefvater ist gewalttätig, verprügelt die Mutter bis zur Ohnmacht. Die Familie des Stiefvaters steht hinter ihrem Sohn. Marcs Mutter wird verachtet, weil sie eine Weiße ist, Marc nicht wahrgenommen, weil er nicht sein leiblicher Sohn ist. Nur in der Nacht finden sie Ruhe, aber keinen Schlaf. Wenn der Stiefvater aus dem Haus ist, verbringen Mutter und Sohn die Nächte in der Küche. Marc ist zehn Jahre alt, dann elf, dann zwölf. Die Mutter hält ihn mit Kaffee wach, damit sie nicht allein da sitzen muss.

Um die Arbeit eines Künstlers zu verstehen, muss man seine Biographie kennen. Marc Brandenburg verheimlicht nichts. Weder etwas über sein Leben, noch in seinen Arbeiten. Er erzählt alles chronologisch, mit sanfter, tiefer und sehr freundlicher Stimme. Fast monoton berichtet er von seinen Themen: Gewalt, Exzess, Macht und Machtlosigkeit. Homophobie, Sexismus und Rassismus. Schwarz auf weiß. Bleistift auf Papier und dann am Kopierer ins Negative gewandelt. Er benutzt keine Hilfsmittel und keine Raster. Als Vorlagen dienen ihm einzig seine Fotografien. Fotos von Fanmeilen und Volksfesten. Von Kundgebungen, Exzess-Momenten; Fotos von Situationen, die ihn bewegen, nachdenklich machen, an seine eigene Biographie erinnern. Er zeichnet Freihand. Dabei setzt der Prozess des Zeichnens seinen Körper zeitweilig in einen tranceartigen Zustand. „In einer Zeit, in der man täglich millionenfach mit Bildern bombardiert wird, gewinnt die Zeichnung an Aufmerksamkeit.“, sagt Marc Brandenburg. „Dabei geht es mir genauso um das, was man sieht, wie um das, was man nicht sieht. Es geht mir um das, was nicht abzubilden ist. Um Aura. Um Zwischenräume.“

Nach unzähligen Kaffeenächten am Küchentisch in Texas verlässt die Mutter ihren Mann und zieht mit Marc und seinen Halbgeschwistern zurück nach Berlin. Ende der Siebziger. Die Mauer steht noch, Marc ist wieder in Westberlin. Er ist 13, dann 14, dann 15. Sein besitzloses Dasein hat begonnen. Er lebt nicht mehr bei der Mutter, sondern mal hier und mal dort. Bei Freunden, in besetzen Häusern. Er geht zur Schule, wenn er es schafft. Drogen sind nicht sein Thema, auch Alkohol nicht so sehr. Er beobachtet lieber den Exzess und berauscht sich an der Beobachtung, als sich selbst dem Rausch hinzugeben. Nachts arbeitet er in Clubs, wie dem legendären Dschungel. Er lernt die Boheme-Szene Westberlins kennen: Claudia Skoda, Tabea Blumenschein. „Der Dschungel war die Anlaufstelle für Menschen mit einem alternativen Lebensentwurf. Da habe ich auch Punk für mich entdeckt“, erinnert er sich. „Als ich das erste Mal Bilder von englischen Punks sah, da wusste ich: Das hat was mit mir zu tun. Ich war ein großer Anhänger von Malcolm McLaren und Vivienne Westwood und deren Laden World‘s End. Alle anderen in meiner Schule hatten Rollkragenpullover an; wie man in den 70ern eben aussah. Und ich hatte wasserstoffblonde Haare und eine Nietenlederjacke. Ich trug Schottenröcke, Bondagehosen und pornographische T-Shirts von Seditionaries; ich war 14 und schwarz, das war eine Riesensache. Wie die Leute einen damals angeschaut haben! Ich war noch sehr jung, und vieles war mir damals noch nicht klar. Aber ich spürte die Bewegung. Mir wurde klar, dass ich eine kreative Person bin und wollte frei leben und frei arbeiten und habe damit früh angefangen.“ Genau da, mit 14 Jahren, beginnt Marc Brandenburgs künstlerische Laufbahn. Er kollaboriert mit Tabea Blumenschein und spielt in ihrem Film Zagarbata (1985) mit. Claudia Skoda ermuntert ihn, Designer zu werden. Zuerst gemeinsam mit ihr, später dann allein entwirft Marc eine Weile lang eine Modekollektion, die er in London und New York zeigt; aber das ist ihm nicht abstrakt und reduziert genug. Papier auf Bleistift, so fest aufgetragen, dass die Oberfläche glänzt und reflektiert, wie Metall. Das ist es.

Er zeichnet eine Weile in London, eine Weile in New York und kehrt Anfang der 90er nach Berlin zurück. Marc ist 27. Die Mauer ist weg, seine Haare schon lange schwarz nachgewachsen. Im inneren aber ist Marc Brandenburg ein Punk geblieben. Nach außen – Jeans, Hemd, ein modebewusster mutierter Mod-Look. Er bleibt nachtaktiv. Beherrscht die Bar erst im Ostgut, später die Tür im Berghain. Dort hängt auch eine Arbeit von ihm. Ein 14 Meter langer Siebdruck auf Glas, als Wand installiert. Der Ausgangspunkt hierfür: immer die Zeichnung. Er fängt an auszustellen. 1993 in Berlin, dann New York, London, Denver, Paris, Amsterdam, St. Petersburg. Er führt das Leben, das er führen will. Frei, ohne Gepäck, nur mit etwas Papier und Bleistift. Mehr Reisen, mehr Observierungen alltäglicher Momente und Pop-Phänomene, die sich mit Gewalt, Exzess, Macht und Machtlosigkeit beschäftigen. Mit Homophobie, Sexismus und Rassismus. Verzerrt, ins Negative gedreht. Die den Betrachter und allen voran den Künstler zum Reflektieren zwingen. Er bekommt Preise, Auszeichnungen, Stipendien. Marc Brandenburg lässt sich nicht beirren. Er konzentriert sich auf das Wesentliche – Papier, Bleistift, Zeichnen, allein in der Nacht.