Von Kazan nach Stalingrad

Reportage
zuerst erschienen in Twen im November 1969 (in gekürzter Fassung)
Neu durchgesehene Fassung der Autorin

…schwermütig klingt ein Lied
durch die Nacht, als verhauche da
ganz leise eines Menschen Seele,
und Trauer legt sich wie Asche aufs
Herz.
Maxim Gorki, „Meine Universitäten“

Bei Kazan war die Wolga ein Meer. Der Wind vom anderen Ufer blies scharf und kalt. Es war August. Aber wir froren, als wir vom Flugplatz kamen und an Bord gingen: Motorschiff „Nikolai Gogol“, gebaut und genietet auf den Werften der Deutschen Demokratischen Republik. Die Kabinen zum Stöhnen eng, aber eingerichtet mit Pritsche, Tisch, Stuhl, Leselampe und Radio.

Die meisten Passagiere auf dem Oberdeck der „Nikolai Gogol“ waren Amerikaner. Eine 80köpfige Gruppe von Absolventen eines Colleges traf ein, begleitet von mehreren ihrer Professoren, und verstreute lärmend Koffer und Rucksäcke in den handtuchschmalen Kojen. In Florida, ihrer Heimat, studierten sie Geschichte und Slawistik, viele von ihnen waren Nachkommen ausgewanderter Polen und Russen. Nur eine Handvoll Schweizer und ein Häufchen Deutsche aus der Bundesrepublik hatte sich auf das Schiff verirrt, um den Sozialismus zu besichtigen und ihr antikommunistisches Weltbild zu pflegen. Die jüngeren Deutschen hatten aus Neugier auf den Lebensstandard des „Iwan“ die Schiffspassage gebucht, die wenigen älteren Reisenden wollten die Wolga hinunter nach Wolgograd, vormals Stalingrad, an den Ort ihrer familiären Schmerzen, dorthin wo Väter, Söhne, Brüder oder Neffen gefallen oder in Gefangenschaft geraten waren.

Im Speisesaal servierte man zum Abendessen dicke Kartoffelkuchen mit dicker saurer Sahne, dazu Gurken, kein Fleisch. Die Auswahl der Getränke: klein, aber billig, Wodka und Krimsekt, Wasser und importierter Orangensaft für die jugendlichen Amerikaner. Nach dem Abendessen tauchte ein Unikum unter den Passagieren auf, ein Exzentriker von Gottes Gnaden, aus Irland gebürtig. Tom Jennings ließ, kaum eingetroffen, verlauten, er sei aus ärmsten Verhältnissen, aber als Buchmacher in London zu einem Millionenvermögen gekommen. Zweifellos war er der unterhaltsamste Gast auf dieser Reise, ein störrischer rotköpfiger Mann, der im Zylinder erschien und dazu einen Cut angelegt hatte, die Kleidung der britischen Oberschicht bei Pferderennen in Ascot. Mit einem Wodkaglas in der Hand ging Tom reihum zu den Besatzungsmitgliedern und schüttelte jedem zur Begrüßung heftig die Hand. Vor fünfzig Jahren war er Mitglied der kommunistischen Partei Englands geworden. Zum Jubiläum seiner Parteimitgliedschaft gönnte er sich diesen Ausflug in die Sowjetunion und fühlte sich wie in den Flitterwochen dabei. „We´ll fight the bastards, we´ll fight the bastards”, wetterte Tom gegen die kapitalistischen Halunken in der Heimat. Sein rauher Cockneyakzent hallte über das Deck wie der von Eliza Doolittles Vater, dem philosophischsten aller Müllkutscher aus „My fair Lady“.

Unvorbereitet traf uns die sowjetische Gepflogenheit, die Wolgadampfer in fünf Klassen aufzuteilen und die westlichen Reisenden in der Ersten Klasse unterzubringen, abgeschieden von den Sowjetbürgern und den Bürgern der sowjetischen Bruderstaaten. Selbst Tom fand dies eigenartig und ließ sich nicht davon abbringen, mit seiner Wodkaflasche die unteren Decks aufzusuchen und mit verlegenen sowjetischen Genossen anzustoßen. Am ersten Abend stolperten einige Passagiere um ein Uhr nachts über den stockfinsteren Kai, angelockt von Gitarrenklängen. Auf einer Uferbank fanden sie die Musiker, zwei Kinder. Ihre hohen, reinen Jungenstimmen sangen „O Mütterlein Wolga“. Der Gesang und das dünne Saitengezupf klangen fast scheu, verloren sich über den ungeheuren Wassermassen des Stroms. Am gegenüberliegenden Ufer erhoben sich kaum erkennbar Kühltürme, loderte weit weg eine ewige Flamme aus abgefackeltem Erdgas.

Hier will ich eine Stadt bauen – sagte der Tatarenfürst, der sich auf der Flucht vor seinen fürchterlichen Feinden befand –, sie soll Kazan heißen: der Napf. Das war nämlich so: Der Tatarenfürst, der einer Sage nach Kazan gründete, hatte seinen Diener mit einem goldenen Napf zum Fluss geschickt, um Wasser zu holen. Der Diener kam nicht zurück – er hatte den goldenen Napf vor Verzückung ins Wasser plumpsen lassen. Und als der Khan seinem Diener folgte, um ihm eins mit der Rute zu geben, sah er ebenfalls das Wunder: am gegenüberliegenden Ufer der Wolga stand das süßeste Wesen der Welt, und der Khan entzückte sich ebenfalls und sprach: Hier will ich eine usw. So ähnlich lautete die Geschichte, die unser deutschsprachiger junger Stadtführer Rafael vom staatlichen Reisebüro Intourist erzählte, als wir am nächsten Morgen eine Busfahrt durch Kazan unternahmen. Rafael besaß einen enormen goldenen Schneidezahn, mit dem er liebenswürdig herumstrahlte, und ein paar goldene Backenzähne, die beim Erzählen gewaltig blitzten. Tagsüber arbeitete er als Schlosser, abends studierte er am Pädagogischen Institut in Kazan. Gelegentlich durfte er seine Sprachkenntnisse bei der Betreuung deutscher Gäste einsetzen.

Rafael holte weit aus bei seinem geschichtlichen Panorama. Im Jahr 1552 eroberte der Zar Iwan der Schreckliche die Stadt Kazan, unterwarf die muslimischen Tataren und zerstörte ihre Moscheen. Professor K., der amerikanische Historiker, berichtete von einer anderen Tragödie – aus der Geschichte des 20. Jahrhunderts, über die Rafael lieber geschwiegen hätte. Halblaut wandte sich Professor K. auf Englisch an seine Studenten. Unter Lenin und Stalin verhungerten Anfang der 20er Jahre zwei Millionen Tataren, ein Völkermord, der nach offizieller sowjetischer Darstellung nicht stattgefunden hat.

Rafaels Nationalstolz ließ sich nicht von vergangenen Schrecklichkeiten beeindrucken. Das 50-jährige Gründungsjubiläum des Sowjetstaates Autonome Tatarische Republik stand bevor. Ein Anlass für Eigenlob und orientalisch prächtige Feiern. Die Regierung spendierte ihrer Hauptstadt ein 14-stöckiges Hotel und ließ die Gebäude der Innenstadt in Farbe tauchen, ganze Straßenzüge schwammen in Pastell und Weiß, frühere Schmuddelfassaden hatten sich von ihrer Misshandlung erholt und strahlten verwunschen in unwirklichem Rosa. Hinter den frisch geweißelten Kazaner Kremlmauern sahen wir die mächtige Festung. Von der aus hatte Iwan der Schreckliche die Grenzen seines Reiches verteidigt. Beete mit blühenden Löwenmäulchen liefen längs der Kremlstraße wie gemalte Bordüren. Beamte mit schweren Aktenmappen kreuzten zwischen den klassizistischen Regierungsgebäuden. Draußen vor den Kremlmauern zerstörte ein Denkmal des sozialistischen Realismus den Liebreiz des Ausblicks. Ein monumentaler Klotz, schwarz, hässlich und besonders monströs ragte das Denkmal des tatarischen Nationalhelden und Lyrikers Musa Cälil in die Höhe. Die Arme des Dichters waren hinter dem Rücken gefesselt. Seine muskulösen, eisernen Oberschenkel und Füße waren in Stacheldraht verpackt. Ein frisch getrautes Pärchen rannte im Eilschritt auf den gusseisernen Dichter zu, die Braut in Weiß mit einem kurzen, glockigen Schleier auf der schwarzgezackten Dauerwelle. Der Brautführer bat uns, zusammen mit ihnen und dem verehrten großen Dichter für ein Foto zu posieren. Mit beklommenen Gesichtern folgten wir der Aufforderung. Musas bekannteste Gedichte und Schriften entstanden in deutschen Gefängnissen. 1944 wurde er in Plötzensee hingerichtet. Mitgefangenen gelang es, seine Moabiter Hefte herauszuschmuggeln und zu erhalten. Wir stellten uns auf. Wir lächelten. Einmal, zweimal, dann ging es weiter. „Spassiba!“ schrie das Brautpaar, und die ganze Hochzeitsgesellschaft umarmte und bedeckte uns mit unerbetenen geräuschvollen Küssen. Wir fuhren weiter durch Kazan, am neu errichteten Zirkus vorbei, der wie ein umgestülpter Nachttopf aussah, vor dessen Einlass sich die Masse der Werktätigen mit ihren Kindern zu einer Vorstellung von Oleg Popow drängte. Der weltberühmte Clown trat mit dem Moskauer Staatszirkus auf.

Kazan strahlte die Reinlichkeit einer nordischen Stadt aus, in der es nach Birkenwald und sauberem Wasser riecht, eine Stadt, deren gewaltige Industrialisierung für uns unsichtbar blieb. Kein Altpapier auf der Straße, keine Blechdosen oder Zigarettenkippen, nirgendwo ein bisschen Unrat, nicht mal vom Hund. Die amerikanischen Studenten stömten müde in das Naturkundemuseum zu ausgestopften Wölfen und Steppenvögeln. Zwischen einem Gebirge von abgeblühten Fliederbüschen sah man über eine Mauer hinweg den rundlichen Turmkomplex der St. Peter- und Pauls-Kathedrale von Kazan, mit einer Patina aus jahrhundertealter Verwitterung überzogen, hoch oben mit kaum erkennbaren Blumenmustern bemalt, deren stumpfe Farben auch in der Sonne nicht leuchteten. „Die drittschönste Kirche Russlands“, hatte uns Rafael erläutert, der selbst die Schönheit staffelte, so wie Russen alles in geordnete Zahlenverhältnisse bringen. Aus dieser bedeutenden Kirche, das Geschenk eines Kazaner Kaufmanns an Peter den Großen, hatte man – drittschönste Kirche hin oder her – die Altäre herausgerissen, die Ikonostase hinter Brettern verschwinden lassen, das Gold von den Säulen gekratzt und innen ein verstaubtes Planetarium untergebracht. Von den 62 Kazaner Kirchen waren noch drei für Gottesdienste geöffnet, außerdem erwähnte Rafael eine verfallende Moschee, die Gläubigen zugänglich sein sollte. Das Bedürfnis nach Transzendenz beschränkte sich auf die Mütterchen, die wir in einer der Kirchen sahen, Babuschkas mit altersgläubigen hingabebereiten Gesichtern, die sich nach dem Christengott ihrer Kindheit sehnten und sich bekreuzigten. Angeblich sei Kindern und Jugendlichen unter achtzehn der Besuch von Gotteshäusern nicht erlaubt.

Wir ließen die Stadt hinter uns, parkten mitten in einem hellen sonnendurchfluteten Birkenwäldchen und stiegen in einem Lager aus dem Bus, wo die Arbeiterkinder von Kazan ihre Sommerferien verbrachten. In strammer Haltung warteten dort die jungen Pioniere und grüßten uns wie Staatsgäste. Zu den kleinen hellgrünen Shorts trugen sie frischgebügelte weiße Hemden, darüber rote Halstücher, und sie klatschten sich die Hände heiß. Begleitet von einem harten, exakt einstudierten Klatschrhythmus wurden wir durch ein Spalier dressierter Begeisterung zum Clubhaus getrieben. Auf der Bühne formierte sich ein Kinderchor.

Die Kinder sangen „Pioniere sind gute Freunde, das weiß man im Norden und Süden“. Und dann das Lied über die „fröhlichen Radfahrer“, und ein weiteres Lied von den „guten Burschen, die am großen Himmel mit ihren Flugzeugen von deutschen Soldaten abgeschossen wurden“. Frische kleine Stimmen. Konzentrierte Kindergesichter. Rafael übersetzte die Texte. Was weißt du von Lenin, fragte er beschwörend ein kleines Mädchen. Verlegen rückte sie weg und schaute nach rückwärts, wo ein großes Gemälde hing. Dass Lenin, der Heiland, die Kinder liebte, das wusste sie von Lenin. Auf dem Bild schritt Lenin neben der Lebensgefährtin Krupskaja, niedliche Kinder sprangen ihm voran durch grüne Gräser und rote Blumen. Das Mädchen knickste schüchtern und zeigte auf das breite rote Spruchband über der Bühne. Darauf stand in Plakatschrift das Lenin-Zitat „Die Kunst gehört dem Volk“.

Das Programm erschöpfte sich in tatarischer Folklore, Gesang und Tanz, dann gingen unsere Gastgeber zu Gesellschaftsspielen – Blindekuh und Seilchenhüpfen– über, die sie in glänzende Stimmung brachten. „So lustig können wir gar nicht mehr sein“, bemerkte eine Lehrerin aus der Reisegruppe mit einem Unterton von Neid, als habe uns der Wohlstand in jeder Hinsicht verdorben. Nur Tom, unser exzentrischer britischer Mitreisender, tanzte selig mit einer Wodkaflasche zwischen ihnen herum. Seine verwaschenen blauen Augen produzierten ständig Tränen der Rührung über die russische Gastfreundschaft. Das Camp der jungen Pioniere war wie die Stadt Kazan ein Muster an Sauberkeit. Dieser Anschauungsunterricht in sowjetischer Ordnung und Ordentlichkeit verwirrte die amerikanischen Collegestudenten. Sie staunten. „No can, no ice-cream-paper, no paper-bag, nothing“. Dagegen die Schweinerei in den USA, wo Millionen Colaflaschen durch die Ahornwälder rollten und die Wiesen ein Matsch von verregneten Supermarkttüten wären. Wenn die Russen auf dem Mond landeten, würden sie eine ihrer hell bronzierten Abfallurnen mitnehmen, um den Dreck der Amerikaner wegzuschaffen, witzelte Professor K., ihr Betreuer. Er sog zufrieden an seiner Pfeife, die er während der Reise nur beim Essen und Wodkatrinken aus dem Mund nahm.

Zum Abschied stellten sich die jungen Pioniere in ihren adretten Uniformen erneut zum Spalier für die Besucher auf. Aber nun hielten sie wunderschöne Farbfotos in ihren Händen, Fotos mit den Porträts der US-Astronauten und den Stars und Stripes drauf, die ihre amerikanischen Gäste mitgebracht und verteilt hatten, um zu zeigen, dass auch sie etwas von Propaganda verstünden. Ein paar der mitreisenden Schweizer verschenkten weiße Kugelschreiber mit einem roten Kreuz als nationale Werbung. Die Jugendfunktionäre, die über die ideologische Unschuld ihrer Schützlinge wachten, verbargen ihr Entsetzen über die Geschenke des Klassenfeindes, bis wir wieder im Bus Platz genommen hatten. Während der Bus abfuhr, beobachteten wir durch das Rückfenster, wie sie die bunten Fotos wieder einsammelten.

Vorne in der ersten Reihe saß ein pfiffiger Eidgenosse, Herr Stutz, der in Winterthur ein Malergeschäft betrieb und wie viele Schweizer ein lebenslängliches Hobby hatte: Weltkriege. Allein über den Zweiten Weltkrieg hatte er nach eigenen Angaben mehr als vierhundert Bücher gesammelt. Beim Frühstück hatte er seine Tischnachbarn den Schwarzmarktpreis einer Ratte im von der Wehrmacht eingeschlossenen Leningrad 1943 raten lassen, umgerechnet 300 bis 500 Schweizer Franken. Neben Herrn Stutz saß Rafael. Herr Stutz redete auf ihn ein. Bereits am Morgen hatte er verbreitet, dass Rafael dem System gegenüber kritisch eingestellt sei. War hier eine Seele zu retten? Rafael schwieg, ob geduldig oder beeindruckt, ließ sich nicht erraten. Eigentlich wollte Herr Stutz nur sagen, wie die Russen es richtig machen müssten. „Spezialprodukte für den Export, das sind die Grundlagen einer gesunden Ökonomie, zum Beispiel Waffen und Uhren, davon leben wir in der Schweiz.“

Professor K. erzählte seinen Studenten Anekdoten von Matrosen und Anarchisten, lange vor der Oktoberrevolution. Die politische Unruhe erfasste auch den jungen Lenin, den man nach dem ersten zaghaften Versuch einer Revolte im Dezember 1887 von der Universität verwies. Polizeitrupps terrorisierten die Studenten, Bombenleger und Nihilisten trieben sich am Ufer unter den Wolgaschiffern herum. Tolstojaner lasen mit leidender Stimme das Evangelium vor, Selbstmörder sprangen in die Fluten des Stroms. Der junge Dichter Maxim Gorki fand seine Lehrmeister unter ihnen und schrieb einen berühmten autobiografischen Roman darüber. Einige von Professor K.s Studenten hatten „Meine Universitäten“ von Gorki im Original gelesen und fanden, die Zustände seien damals aufregender gewesen. Es war früher Abend, doch in Kazan schienen die Straßen ausgestorben. Durch die tote Stadt fuhren wir im Bus zum Schiff zurück, das in der feuchten Dämmerung auf dem Strom ankerte.

Aber auch wir erlebten Abenteuer und Zwischenfälle, die die Stimmung trübten. Nachmittags hatte man den jungen Fotografen aus Hamburg verhaftet, dessen Vorliebe für stimmungsvolle Bilder alter Gemäuer und malerischer Winkel mit dem sowjetischen Sicherheitsbedürfnis in Konflikt geriet. Nach allen Himmelsrichtungen hin gab es militärische Geheimnisse, die wir beim Fotografieren zu respektieren hatten.

Tom ließ uns keine Ruhe. Er war der euphorischste Mensch in

der Reisegruppe, einer, der an die Menschen glaubte. Nach dem Mittagessen lief er in einer chinesischen Morgenjacke mit einem Drachenmuster, die ihm bis zur Hälfte der mageren weißen Oberschenkel reichte, fünfzigmal um das Deck. Er brachte es fertig, mir zwanzigmal am Tag die Hand zu schütteln, mit einer schmerzhaften Intensität, als hätte ich ihm gerade das Leben gerettet. Nach und nach trugen alle auf Deck die Hände auf dem Rücken, sobald Tom vorbeikam.

Abends erschien Tom in seinem Smoking aus Hongkong, darunter ein billiges Nyltesthemd und auf dem Kopf seinen Zylinder. Süßer Krimsekt und Wodka flossen in Strömen. Tom wurde ausgelassener und fegte wie ein Derwisch auf dem Deck herum. Er riss sich das Smokingjackett vom Leibe, die Smokingfliege flog zur Seite, er begann Kalinka zu tanzen. Schließlich auf dem Höhepunkt seines Vergnügens sprang er in voller Montur in die Wolga. Mitglieder der Besatzung retteten ihn. Die Polizei rückte mit Bataillonsstärke an, langwierige Erklärungen und Befragungen. So nervenaufreibend hatten sich die Begleiter von Intourist die ersten Menschenversuche mit westlichen Touristen nicht vorgestellt.

Das heilige Russland der Zeltdachtürme und der Klosterfestungen versteckte sich vor uns. Jenseits des linken Wolgaufers erstreckten sich leere Territorien, und wenn wir uns den Ortschaften am Strom näherten, entpuppten sie sich als riesige Baugruben, umgeben von einem Gewirr von Betonmischmaschinen und Baggern zwischen eintönigen Lagerbauten. In den endlos weiten Himmel über dem Wasser ragten wie bizarre Scherenschnitte Baukräne mit Sowjetsternen. Einmal gingen wir vor Anker und fuhren zu einem Elektrizitätswerk; zusammen mit den dort beschäftigten Helden der Arbeit durchlitten wir einen Vortrag über Lenins Vision der Elektrifizierung. Die Begeisterung über die erste Stromerzeugung am Strom ging so weit, dass man Mädchen den Vornamen Iskra (Funke) gab oder – noch enthusiastischer – Elektrifikazija mira (Elektrifizierung der Welt). Die Belehrungen waren noch nicht zuende. Mitten in einem vielstrophigen Preisgedicht über die Staustufen der Wolga hörten wir Toms gebläseartiges Schnarchen.

In der Emphase der ersten Industrialisierung zähmte Stalin den größten Fluss Europas und verwandelte ihn in einen berechenbaren gleichmäßig monotonen Wasserlauf. Aber der Verkehr darauf floss noch immer gemächlich. Wie zu Gorkis Zeiten trieben die Flöße vorbei, und die flachen gedehnten Silhouetten der Schleppkähne glitten über die dämmerige Wasserfläche wie abendliche Schatten. Tagsüber trieben einsame weiße Wolken über der Unendlichkeit des Wassers, das so langsam floss, als ströme es zur Quelle zurück statt zum Meer. Auch am nächsten Morgen lag der Strom in voller Einsamkeit da, endlos und eintönig. Keine Segel- oder Ruderboote waren zu sehen. Nahe beim Anlegeplatz unseres Schiffes führte eine moderne Eisenbahnbrücke zum anderen Ufer. Wieder wurden wir ermahnt, nicht zu fotografieren.

In der frühen Zarenzeit endete an den Ufern der Wolga das Abendland. „Das rechte erhebt sich als hohe, bergige Barriere gegen Asien, während das linke als Tiefebene in in die unermesslichen Weiten des Ostens überleitet“, schrieb Leo Trotzki. Der Bus schraubte sich die hässlichen Serpentinen nach Uljanowsk hoch, das sich 150 Meter über dem Strom ordentlich auf einem Hügel ausbreitet. Der Abhang zum Fluss hin sah trostlos aus, bewachsen mit fahlem Gras und Kohlstrünken. Vielleicht war der Blick von hier einmal schö­ner gewesen. Für Trotzki war dieses Wolgaufer ein Idyll. Im Früh­ling schlugen Nachtigallen in den Fliederbüschen, und den Spaziergängern ging das Herz auf. So hat er es in seinem Buch über den jungen Lenin geschildert.

Auch uns öffnete sich die Stadt mit einer Verheißung. Auf einem Spruchband hieß es: „Lenin lebt und wird leben“, noch bevor wir auf das erste seiner Denkmäler stiessen. Er stand auf einem Sockel, in der rechten Tasche die Schlägermütze, in der linken die PRAWDA, und er als einziger sah gefasst seinem 100. Geburtstag entgegen, den er im nächsten Früh­jahr in alter Frische zu feiern gedenkt. Wladimir Iljitsch Uljanow, spä­ter Lenin genannt, wurde am 22.4.1870 in Simbirsk geboren, der hinterwäldlerischsten aller russischen Grenzstädte. Als Kind wurde er zärtlich Wolodja gerufen, in Simbirsk, das heute nach seiner Familie Uljanowsk heißt. Der Bronzemantel um seine Knie wirkte naturalistisch von einem kräftigen Wolgawind durchweht, und er drehte dem heimatlichen Strom den Rücken zu. Wir gingen eine hübsche baumbestandene Allee hinunter, dort etwa in der Mitte der Moskaustraße, in Nummer 48, befand sich das zweistöckige Haus, in dem Lenin mit seiner Familie vom achten bis zum sechzehnten Lebensjahr lebte. Ein geräumiger Bau aus Holz mit mehr als zehn Zimmern und großen Kachelöfen. Vor dem Eingang das gleiche Bild wie am Lenin-Mausoleum in Moskau, eine Besucherschlange die ganze Straße hinunter. Uljanowsk das sowjetische Bethlehem. Die Pilger warteten seit dem Sonnenaufgang.

Wir, die Ausländer, wurden ohne Verzögerung durch das Gebäude geschleust, angekommen im Allerheiligsten der Sowjetunion. Schwarze Pantoffeln bitte anlegen, und dann als erstes die Familienfotos, Mama und Papa Uljanow mit ihren sechs hochbegabten Kindern. Wladimir Iljitsch, der drittälteste, war als Kind ein Pummel. In Lenins Elternhaus fanden ausschließlich Bildungsprozesse statt. Die Führerin belehrte die Zuhörer, dass die Uljanows Bücherliebhaber waren, die am liebsten Friedrich Schiller, Victor Hugo und William Shakespeare lasen. Im Salon deutete sie auf den Flügel, „Mit acht Jahren begann Wladimir flotte Kinderlieder zu spielen, das Lied von der Schwalbe und vom Zicklein. Das Haus war oft hell von fröhlichen Kinderstimmen. Und alle Lehrer und alle Kinder liebten den Vater von Lenin. Aber der war nicht nur ein guter Mensch, sondern auch ein guter Hausvater, der seine Freizeit treulich seiner Familie widmete. Ebenfalls mit acht begann Wladimir Schach zu spielen. Mit 15 war er imstande, seinen Vater darin zu schlagen. Lenins Mutter war nicht nur ein guter Mensch, sondern auch eine gute Hausfrau. Sie nähte selbst, bitte, dort drüben steht ihre Singer- Nähmaschine. Blumen pflegte sie selbst und hatte eine gute Hand darin.“ (Palmen und Grünpflanzen neben dem Piano.) Maria Alexandrowna sprach fließend Deutsch, Englisch und Französisch und unterrichtete ihre Kinder in diesen Sprachen.

Mit Hilfe der Museumspantoffeln schlitterten wir weiter in den nächsten Raum. In Wladimir Iljitschs Zimmer lagen noch ein paar Bauklötze und Spiel­zeug herum. (Er soll als Kind sehr zerstörerisch gewesen sein.) Hier das Zimmer des älteren Bruders Alexander. Jeden Samstag brachte er eine Familienzeitschrift mit dem Titel „Der Sabbath“ heraus, an der alle Kinder mitarbeiteten. Lenins Autorenname war Kubyschek - „Fässchen“. Hinter Glas steckte ein Aufsatz von Alexander. „Was ist erfor­derlich, um ein nützliches Mitglied der Gesellschaft zu sein?“ hieß das Thema. „Verstand und Kenntnisse, fester Cha­rakter und noch einmal Kenntnisse“, schrieb Alexander Uljanow. Nach der Aktion vom 1. März 1887 – einem missglückten Attentat auf den Zar Alexander III. – wurde er, 26 Jahre alt, in der Festung Schlüsselburg gehenkt. „Ich glaube nicht an Terror“, definierte Alexander sein Engagement gegen den zaristischen Polizeistaat und die soziale Ungerechtigkeit, „ich glaube an den systemati­schen Terror.“

Niemand hatte den liturgischen Singsang der Intourist-Führerin zu unterbrechen gewagt. Zu ehrfürchtig hatte ihre Stimme geklungen.

Am Ort, der den Russen heilig wie kein anderer ist, duldete man keine profanen Fragen. Als dennoch jemand wissen wollte, wieviel Haushalts­personal die Mutter von Lenin gehabt habe, um die großen Kachelöfen zu stochern, Wäsche zu waschen für sechs Kinder und zu kochen, verweigerte sie die Antwort. Eine alte schwarz gekleidete Frau mit ausdruckslosem Gesicht folgte uns durch alle Räume. In jedem Zimmer, das wir verließen, wischte sie sorgfältig unsere Finger­abdrücke von den Türen weg.

Während wir wieder in den Bus stiegen und weiter durch Uljanowsk fuhren, huschten ein neuer Kulturpalast und ein neues 23-stöckiges Hotel vorüber. Ein weiterer Gigant aus Glas und Beton wuchs hinter der roten Fahnenparade vor uns aus dem Boden, ein riesenhaftes Memorial-Museum, dessen Rohbau gerade fertiggestellt wurde. In dem trutzburgenhaften Gebäudetrakt gegenüber befand sich Lenins Gymnasium, in den Klassenräumen waren auf seinem früheren Pult Tafeln montiert. Die Inschrift lautete: „Hier saß Lenin“. Die heutigen Klassenbesten genossen das Privileg, auf Lenins Platz zu sitzen. Fleiß, Ehrgeiz und Ordnungssinn, ausgeprägte Familieneigenschaften der Uljanows, sollten auf sie übertragen werden.

Wir hefteten uns auf Lenins Spuren, Straße um Straße. Vom Denkmal von Lenins Vater zum Grabstein von Lenins Vater war es nur ein Sprung. Nach der Oktober-Revolution seines Sohnes holte man ihn vom Friedhof und schuf einen Park für ihn. „Traurige Akazien verneigen sich vor seinem Grab“, wusste die Intourist-Führerin in ihrer bilderreichen Sprache. Der Leninplatz in Uljanowsk: fast so groß wie der Rote Platz vor dem Kreml, begrenzt durch monströse Plakatwände. Überblicke über die industrielle Entwicklung der Stadt. Ihr Hürdenspringen von Vier­jahresplan zu Vierjahresplan. Eine hoch aufragende Mädchenfigur hob beschwörend die Faust in den Himmel. Was sollte sie sym­bolisieren? Das Recht der Sowjetfrau auf Arbeit? Wir stiegen aus dem Bus. Die Sonne knallte auf unsere Köpfe. Parade- und Aufmarschplätze besitzen tückische Eigenschaften. Niemand wagte es, diagonal über die Mitte zu gehen. Der leere Platz hielt die Leute in Schach, seitlich drückten sie sich an den Wänden vorbei. Wir gingen unter Leninspruchbändern hinweg, auf Lenin zu, von Lenin weg und standen Lenin gegenüber, wir standen hinter, neben, bei, vor und zwischen Leninbildern. „Look, he is everywhere“, ergötzten sich die amerikanischen Studenten an seinem unausweichlichen Anblick wie an einer vertrauten Popfigur. (Lieber Genosse Lenin, wie hältst du das aus, du wolltest die Weltrevolution und erntest dein Bildnis, Rusland, wird beleuchtet von deiner Glatze. Die Straßen sind Friedhöfe, in denen deine kalte, hochmütige Physiognomie auf das Mondgesicht eines Spieß­bürgers reduziert ist - wenn du dich so sehen könntest, Genosse Lenin, du würdest dich selber ankotzen, lieber Genosse Lenin!) In der zemen­tierten Eingangshalle des Hotels am Leninplatz hallten die Schritte wie bei einem militärischen Einmarsch. Es fehlte der Bodenbelag. Wir strebten ins Restaurant. Die Kellner bedauerten: keinen Tee, keine Erfrischungsgetränke, kein Bier. Im Kulturpark spielte eine Band mit elektrischen Gitarren vor einer Leninstatue einen eigenwilligen Song, eine musikalische Verbindung zwischen tatarischem Volkslied und Johnny Hallyday.

An Bord stürzten sich die Wolgareisenden halb verdurstet auf das Mineralwasser. Tom konsumierte erhebliche Mengen an Wodka, und Professor K. diskutierte mit seinen Studenten die Widersprüche in der offiziellen sowjetischen Darstellung von Lenins Herkunft. Warum werden Lenins Wurzeln von der Sowjetmacht verschwiegen? Auch hier an seinem Geburtsort präsentierte man ihn als nationalistischen Staatsgründer mit rein russischen Vorfahren. In Wahrheit mischte sich in Lenin ein typisches Völkerspektrum des zaristischen Reiches. Die Uljanows gehörten zu den gutsituierten Familien der Stadt. Lenins Mutter, Maria Alexandrowna, war die wohlhabende Tochter eines jüdisch-schwedischen Arztes und einer Deutschen, streng, bildungsbeflissen und Lutheranerin. Ilja Nikolajewitsch, Lenins Vater, stieg zum Inspektor der Volksschulen im Gouvernement Simbirsk und in den Erbadel auf, ein pflichteifriger tüchtiger Mann, überaus staatstreu. Lenins Großmutter väterlicherseits war Analphabetin, eine Kalmückin, die einer traditionell buddhistischen Familie entstammte. Von ihr hatte Lenin den mongolischen Einschlag im Aussehen geerbt.

„Anarchisten und Bürokraten – das sind die zwei Typen, die Russland seit je hervorgebracht hat“, mischte sich Madame T., die russische Emigrantin in das Gespräch. Der Ärger stand in ihrem Gesicht geschrieben, als sie allein von ihrem Landgang zurückkam. Lenins Geburtshaus interessierte sie nicht, sie hatte nach Spuren von Gontscharow, dem großen Dichter Russlands gesucht, der ebenfalls in Simbirsk geboren wurde. In dem unübersichtlichen Gewirr der Baustellen, die Lenins Geburtstag galten, hatte Madame T. sich verlaufen und keine Hinweise auf den Dichter und seinen apathischen schlaffen Helden Oblomow gefunden. Vor fünfzig Jahren war Madame T. vor Lenins Revolution geflohen und nach Brasilien gelangt. Nun weilte sie zum erstenmal in ihrer Heimat zu Besuch. Mit dem schwarzen öligen Kopfhaar sah sie wie eine Kreolin aus, aber sie fühle und denke unverändert russisch, erwähnte sie wie zur Rechtfertigung ihres Emigrantentums. In starrer Trauer blickte sie auf die sich entfernende Stadt und raffte ihren handgewebten farbenfrohen Schal um die Schultern. Am Abend wurde es an Deck empfindlich kühl. Leise plätscherte der große Fluss, verlor sich in der öden gestaltlosen Finsternis, wo sich die Umrisse des Ufers auflösten. Es war eine sternlose bewölkte Nacht. Allenfalls die Wolga war noch ein bisschen Anarchistin geblieben.

Vorbei an weiß flackernden Birkenstämmen und Federgrassteppen, an Pferdeherden, die auf den Wolgawiesen weideten, endlich bekamen wir ein anderes Russland zu sehen, Bilder von struppigen, vergammelten Sonnenblumenstrünken rings um ein Kolchosdorf, in dem kein Mensch auf der Straße war und es wie zur Zarenzeit aussah. Holzhäuschen mit geschnitzten Fensterrahmen, deren Blau über die Felder leuchtete. Durch die geöffnete Tür eines Häuschens erblickten wir in der einen Ecke des Innenraums eine Ikone, in der anderen einen Fernsehapparat. Die Bewohner vergnügten sich am Ufer. Eine Gruppe von Anglern, die ihre Ruten auswarfen und uns die zappelnde Beute im Eimer zeigten. Ihre Frauen lachten und scherzten mit ihnen, während sie die Fische ausnahmen und entschuppten. Andere schälten Kartoffeln und hackten Dill. Aus den großen Metallbehältern über den Feuerstellen, in denen sie ihre Soljanka kochten, stieg der Suppendampf senkrecht in den Himmel auf. Dazu aßen sie dunkles Brot und Gurkenscheiben und genossen ihr abendliches Sommerglück.

„Der Sommer aber, der Sommer ist ganz besonders berauschend in dieser Gegend“, hatte Gontscharow Oblomows Arkadien am Wolgaufer beschrieben, „… dort findet man klare Tage, mäßig heißen, aber nicht glühenden Sonnenschein und fast drei Monate lang einen wolkenlosen Himmel.“

An fast jedem Abend unserer Reise wurden heilige, ernste, blutige, feierliche Sonnenuntergänge über Mütterchen Wolga gespielt. Pomphafte Theaterstücke der Natur, erstklassige vaterländische Inszenierungen, zu denen mit Genehmigung von Intourist begeisterte Japan-Kameras surrten. Die deutschen Mitreisenden ließen sich durch soviel Naturschönheit nicht verführen, behielten auch jetzt den skeptischen Blick, allen voran der junge Stuttgarter Maschinenschlosser, der seine kniekurze dunkelblaue Gabardinehose nie wechselte. Wo immer wir an Land gingen, fielen ihm Unzulänglichkeiten auf. An jedem Bagger, an jedem Gleis, an jeder Schraube stellte er mit hämischer Bedächtigkeit fest, dass sie verrostet seien, im Verrosten begriffen waren oder verrosten würden, wie unter Zwang. Sein Reisegefährte, ein junger Unternehmensberater, schien in der Welt herumgekommen, war aber ständig mit den ältesten Witzchen über Planwirtschaft bei der Hand, wenn sich jemand auch nur andeutungsweise vom russischen Wirtschaftswunder beeindruckt zeigte.

Die „Nikolai Gogol“ bewegte sich nun zwei Tage ohne Halt auf Wolgograd zu. Anstelle von Frühsport und Gymnastik boten unsere Gastgeber auf dem Deck Schulungen in dialektischem Materialismus, über deren mangelnde theoretische Substanz sich die kenntnisreichen amerikanischen Studenten beklagten. Herr Stutz aus Winthertur suchte mit dem Feld­stecher die Wolgaufer ab. Immer auf der Suche nach Industrien, die die Sowjets uns verheimlichten. Chemie-Werke, Rüstungs­fabriken, Kern-Reaktoren. Sollen die Bomben mehr rechts oder mehr links plaziert werden, fragten wir ihn. Das war das Abgründige in Herrn Stutz: Er plante ständig Militäraktionen. Als Schweizer hatte er zwar ein Gewehr zu Haus, war aber Zeit seines Lebens nicht zum Kriegspielen gekommen. Er war verurteilt, ein Voyeur zu sein. Ein Aufklä­rungsflugzeug wie die Mirage würde die Schweiz in sieben Minuten überfliegen. Um die Schweiz anzugreifen, müssten sich die fiktiven Feinde wieder langsamere Flugzeuge zulegen, setzte er uns auseinander.

Einige von den Ameri­kanern fragten, ob wir, die Deutschen, an Kollektivschuld glaubten. Wir flüchteten auf das untere Deck zu den russischen Mitreisenden. Der Diplom-Ingenieur aus der Stadt Gorki wollte dringend wissen, wieso ein Volk, das Genies wie Schiller und Beethoven hervorbrachte, sich Hitler als Führer gewählt habe. Valentina, ebenfalls Ingenieurin - sie war aus Rostow – hielt eine längere Rede über Revanchismus und Neo-Nazis. Sie verwies auf eine Novelle von Scholochow über einen KZ-Gefangenen (auf Englisch), die uns vor dem Faschismus warnen sollte. Nur Tom verhielt sich merkwürdig still. Nachmittags hatte man ihn und den jungen Fotografen aus Hamburg zum zweiten Mal festgenommen, nachdem sie bei einem Landaufenthalt querfeldein gelaufen waren. Unter Einschaltung von Intourist und der Sicherheitsorgane, die jeden Atemzug von uns überwachten, kamen sie frei. Der Vorgang hatte mehrere Stunden gedauert. Der Kapitän lächelte gequält, als die beiden Ausreißer an Bord zurückgebracht wurden. Später am Abend kniete Tom vor mir auf dem Deck und sang für mich. „Do you want the moon to play with or the stars to run away with”. „Weißt du, Marie“, unterbrach er sich, „Russen sind anders als andere Völker, ihre Herzen sind so groß wie ein Kohlkopf und drinnen so warm wie ein Samowar.” Er kicherte selbstgefällig über seine poetischen Vergleiche. Mit fünfzehn war er aus den Londoner Slums nach Amerika abgehauen, sang dort während der Prohibition in den Speakeasy Kneipen, verdingte sich als Boxer im Fliegengewicht, auch am Mississippi hatte er sich herumgetrieben, ehe er nach London zurückkehrte und ein erfolgreicher Buchmacher wurde. Seine versoffene heisere Stimme trug nicht mehr weit, aber dass er zum Jubiläum seines Parteieintritts die Wolga sehen durfte, trieb ihm wieder einmal die Tränen in die verwaschenen blauen Augen.

Die Sonne ging unter, als wir in Wolgograd ankamen. Sie tauchte den Mamajew-Hügel mit der monumentalen 86 Meter hohen Betonstatue in ein befremdliches Licht. Das Schwert in ihrer Hand stand schwarz und scheußlich vorm Himmel. Dann rutschte die Sonne tiefer, unter die Achselhöhle der Titanin.

Eine Stadt zog am Ufer vorbei. Ein Cauchemar, ein Phantom tauchte auf und verschwand. Man konnte nicht sehen, wo die Stadt anfing und wo sie aufhörte. Dafür ist diese Stadt zu endlos. Sechsundsiebzig Kilometer des Wolgaufers bedeckt sie. Wolgograd zog am Ufer vorbei; Wolgograd, das berühmt wurde als Stalingrad, am 23. August 1942, als 600 deutsche Flugzeuge die Stadt angriffen und selbst die Wolga in Flammen stand, und am 31. Januar 1943, als Generalfeldmarschall Paulus mit einer weißen Fahne aus dem Bunker im Univermag-Kaufhaus kam und neunzigtausend deutsche Soldaten in Gefangenschaft führte. Später wurden es mehr, man schätzt weit über hunderttausend, von denen etwa sechstausend überlebten.

In der Stadt flammten die ersten Lichter auf. Die dicken neoklassizistischen Uferkandelaber leuchteten im Dunst wie prunkvolle Weihnachtskerzen. Wolgograd ist ein sowjetischer Mythos, aber zugleich ist dieser Ort einer der sensitivsten Punkte auf der Landkarte des deutschen Gewissens. Je länger die Schlacht andauerte, desto mehr war sie für Hitler und Stalin zu einer Prestigefrage geworden. Der alte deutsche Herr, der ein Bein im Ersten Weltkrieg verloren hatte, stand in gestraffter Haltung an der Reling, mit seinen Erinnerungen beschäftigt. Einer seiner Söhne war in Stalingrad gefallen, ein Neffe hatte am Heilig Abend bei unerträglicher Kälte, Hunger und Sinnlosigkeit die Waffe gegen sich selbst gerichtet.

Herr Stutz, der Schweizer Weltkriegsexperte, fertigte in seinem Notizbuch eine kunstvolle Lage­bezeichnung über die Standorte der deutschen, rumänischen und sowjetischen Truppen zu Beginn der Schlacht. Professor K. demonstrierte dasselbe mit Streichhölzern. Vom Anlegeplatz aus gingen wir die Avenue der gefallenen Helden hoch. Vorbei an Blumenrabatten und Bänken. An den schmiedeeisernen Gittern der Parks schimmerten frischvergoldet im Lorbeerkranz die Sowjetsterne. Die abendliche Stadt strömte die Hitze zurück wie ein Dschungelboden, der Asphalt war klumpig. Die Avenue endete vor einer ewigen Flamme. Auf den schwarzen Marmorplatten lagen rosa Gartennelken verstreut und frische Kränze. Eine Musik setzte ein. Irgendein Lautspre­cher hinter dem Obelisken. Tschaikowsky vielleicht? Links und rechts des Grabmals zwei Komsomolzen in Uniform, das Gewehr geschultert. Die kindlichen Gesichter konzentriert und unbeweglich, als hätte man ihnen ein Nervengift gegeben. Nur die besten Komsomolzen dürfen Toten-Wache stehen, „ein Tribut an ihre Großväter, die für die lichte Zukunft der Enkel ihr Leben gelassen haben“. 3.500 Gefallene liegen hier, die Opfer des Bürgerkriegs von 1919, als die Kommunisten die Stadt von den Weißgardisten befreiten, erklärt unser Begleiter.

Zehntausend Wagen Schutt hat man aus Stalingrad heraus-gefahren. „Unsere Stadt nannte man nach dem Krieg die Stadt ohne Anschrift, aber Wolgograd hat sich aus der Asche erhoben dank des mächtigen Willens und der Arbeit von Sowjetmenschen“, erklärte unsere Intourist-Führerin Wolja. Ihre Stimme klang wie die eines Schulmädchens, das im Geschichtsunterricht gut aufgepasst hat. Elf Tage vor Beginn der Schlacht war sie in Stalingrad geboren worden, das bis 1961, acht Jahre nach Stalins Tod, seinen Namen trug. Zu Anfang der dreißiger Jahre wurden hier schon 100 000 Traktoren im Jahr produziert, und die Wohnungen der Arbeiter in der Traktorensiedlung hatten allesamt Badezimmer. Dann kam der große Vaterländische Krieg, und heute, nach dem Wiederaufbau, rollten wieder 60.000 Traktoren jährlich vom Fließband, von fröhlichen Arbeitern und Arbeiterinnen zum Wohle des Vaterlandes gebaut, erzählte uns Wolja.

Das neuerstandene Zentrum prägten stalinistische Tempelbauten, in deren schauerlich gelbe Säulen, umbordet von Akanthusblättern aus gelbem Gips, sich der Industrieschmutz hineinfraß. Die gelben Renommiertempel, „die Säulen ohne Seele“, wie sie der Russlandfahrer Wolfgang Koeppen nannte, waren die Antwort auf die Größe und Tiefe des erlittenen Traumas, sie galten als „Krönung sowjetischen Aufbauwillens“, auch wenn an ihrem Baustil die Abwehr der Nachgeborenen sichtbar wurde, die sich in ein auswegloses steinernes Pathos flüchteten. Als Wolja, unsere Führerin, zur Schule ging, entstanden die Säulenwälder, ein Tempel nach dem anderen wurde gebaut.

Die offizielle Führung durch Wolgograd begann in aller Frühe am nächsten Morgen. Die Amerikaner hatten vom Schiff aus telegraphiert und nelkenbe­steckte Kränze bestellt, die sie an der ewigen Flamme nieder­legten. Vom Platz der gefallenen Helden fuhren wir alle Stalin­grad-Denkmäler und -Ruinen des Zweiten Weltkrieges ab, bis zum Mamajew-Denkmal. Der 102 Meter hohe umkämpfte Hügel ist in das größte Gefallenendenkmal der Welt umgestaltet wor­den. Der 70-jährige beinamputierte Herr aus Gießen quälte sich barhäuptig die unzähligen Stufen hinauf, um mit eigenen Augen zu schauen, wo auf diesem Abhang sein Sohn gekämpft hatte. Während der Führung erlitt er einen Sonnenstich. Schweratmend stützte er sich auf einen Mitreisenden, der ihn weiterführte.

Aus der Nähe wirkte die riesige Betonstatue, die wir vom Schiff aus gesehen hatten, noch einschüchternder. „Die Heimat ruft“, lautete der Taufname für die Kolossalfigur mit dem aufgerissenen Mund, den breiten Hüften und hohen schwellenden Brüsten, die wie eine zornige Rächerin vor uns aufragte. Dreißigtausend Soldaten, Russen, Deutsche und andere, waren hier am Mamajew-Hügel gefallen, um jeden Zentimeter Boden wurde gekämpft. Nach der Schlacht war die Erde so voll von Metallsplittern, dass jahrelang kein Gras mehr wuchs.

Versteckte Lautsprecher reproduzierten die Geräusche abge­schossener Flugzeuge, Flakgeschütze, Schmerzensschreie… Schluchzende Frauen knieten am Boden, die Steine küssten und Astern vor die klumpi­gen Beton-Füße der Heroen legten. Im „Saal des ewigen Soldatenruhmes“ rauschte eine wohlbekannte Melodie durch den Raum, die „Träumerei“ von Schumann. Unsere Führerin Wolja bemühte sich um eine Erklärung. „Nun, Sie wissen, das Sowjetvolk hat eigene gute Komponisten“, sagte sie, „aber für unser Volk sind besonders teuer die großen Taten des deutschen Volkes in der Kunst. Aber solche ruchlosen Erscheinungen des deutschen Volkes wie der Faschismus drücken ihm ein Schandmahl auf.“

Wolja glaubte an das Gute in den Deutschen und sprach ihnen zumindest die Friedensfähigkeit nicht ab. „Wir befinden uns nun auf dem Platz der Sieger“, erklärte sie und beendete die strapaziöse Tour mit einer gefühlvollen Nacherzählung der Geschichte vom Offizier Pawlow.

Wolja: „Während der Verteidigung 1943 erlitt Pawlow schwere Quetschungen und hat sein Augenlicht verloren. Als er blind war, hat er ein Buch der Erinnerungen an Stalingrad geschrieben, und im Jahre 1965 hat ihn hier ein Professor operiert, danach geschah ein echtes Wunder, er konnte die Stadt wieder sehen, die er mit seinen eigenen Händen verteidigt hat.“

Nicht die sowjetische Unfähigkeit zu trauern, war der eigentliche Schock von Wolgograd, sondern Episoden wie diese, von denen Wolja mit mädchenhaft-idealistischer Stimme erzählte. Vaterlandsliebe heißt in der sowjetischen Propaganda den Tod besiegen. Denjenigen, der sich aufrichtig zur Heimat und zum Staat bekennt, belohnt das Schicksal, er ist kein gewöhnlicher Sterblicher mehr. Er wird unverwundbar. An ihm geschehen Wunder.

Nachmittags zogen wir mit Wolja ins Planetarium, das die Werktätigen der DDR gestiftet hatten, und sahen einen zweistündigen Film über die Schlacht. Vierzig Grad Hitze. Russische Bauersfrauen mit Einkaufsnetzen voller Zwiebeln und Gurken und strammgezogenen Kopftüchern starrten gebannt auf die Leinwand und kauten Äpfel zur Musik von Tschaikowsky. Die Pathêtique voll aufgedreht, sowjetische Soldaten holten ein deutsches Flugzeug nach dem andern vom Himmel. Kanonendonner dröhnte rings aus den Kulissen. „Maschinengewehr um deinen Hals, zehn Granaten in deinen Händen, Heldentum im Herzen…“ Lauter sowjetische Märtyrer starben in den Bunkern von Stalingrad, der gewöhnliche Soldatentod durch Bauchschuss, Verrecken durch Unterernährung und Verhungern, Fleckfieber und Erfrieren war aus dem Bewusstsein der Nachwelt verschwunden.

Die amerikanischen Mitreisenden – pragmatische Leute – filmten, was sie von der Historie sahen. („Look at this lovely ruins, my dear.“) Hier hatte die Muse Klio, die die Vereinigten Staaten so vernachlässigt, blutig zugeschlagen. Fasziniert standen sie, deren Städte nie Trümmerhaufen gewesen waren, vor den ausgebrannten Fenstern der alten Mühle, um die monatelang die Schlacht getobt hatte.

Während des Abendessens erschien ein Kommentator des Wolgograder Fernsehens an Bord. Boris Stepanow, ein gutmütig wirkender, etwas dicklicher Mann mit knallroten Wangen, kam mit seinem Team, um einen einstündigen Dokumentarfilm über die ausländischen Passagiere der „Nikolai Gogol“ zu drehen. Titel: „Gäste der Wolga“. Boris berichtete von seinen eigenen Erlebnissen als Vierzehnjähriger, der damals die Belagerung von Stalingrad miterlebte. Sein Vater, ein ehemaliger Obermaschinist der Stalingrader Traktorenfabrik, kämpfte bei Moskau. Boris und seine Mutter liefen gerade zur Großmutter, als hinter ihnen ihr Haus in der Arbeitersiedlung in Flammen aufging. Von da an hausten sie in den Resten eines zerbombten Kellers, mitten im Kessel zwischen den feindlichen Positionen. Mehrere Male versuchten sie vergeblich, über die Wolga zu kommen, aber das Geschützfeuer hörte nie auf. „Es gab kein Wasser“, sagte Boris, „das war das Grausamste. Die Wolga floss direkt daneben, aber es gab keinen Tropfen Wasser. Wir robbten uns auf dem Bauch an die Pfützen in den Bombenlöchern heran, aber das Wasser darin war verseucht, jeder wurde krank. Die Großmutter hatte keinen Tee zu trinken, sie litt mehr als die andern.“ Er erzählte sehr langsam, unterbrach sich mehrfach und drückte sich ebenso umständlich wie vorsichtig aus. Irgendwann rannen Tränen über seine rotblaugeäderten Wangen. Ich hatte ihn nach dem weiteren Verlauf der Geschichte befragt. Eine Mine hatte die Großmutter zerrissen.

Professor K. genoss die Begegnung mit Wolgograd, warum auch nicht. Professor K. lehrte Geschichte in Miami und seine Hornbrille hielt sich an Fakten. Er hatte die Vampire von Wolgograd nicht fliegen gesehen. Sechshunderttausend (vielleicht auch mehr) tote Sowjetsoldaten werden in Wolgograd, das als Stalingrad berühmt wurde, künstlich beatmet, künstlich stigmatisiert und den Touristen vorgeführt. Länger als ein Vierteljahrhundert ist die Schlacht vorbei, aber im Umkreis von hundert Kilometern stoßen die Bauarbeiter immer wieder auf Skelette, viele von ihnen können nicht mehr nach ihrer Nationalität identifiziert werden. Siebenundzwanzig Millionen sowjetische Bürger, Soldaten und Zivilisten, starben während des Zweiten Weltkriegs.

„Wir sind wieder ‚Gäste der Wolga‘, meine Lieben, back from hell“, hörte ich Professor K. zu seinem Nachbarn sagen. Hinter uns auf den Bänken und Liegestühlen an Deck glimmten Zigaretten. Arme fuchtelten durch die Luft. Könne Lenin ein echter Marxist gewesen sein, da doch feststehe, dass er viele Schriften von Marx gar nicht gekannt habe? Die amerikanischen Russisch-Studenten kehrten vom Anblick der ausgebrannten Panzer, die in Wolgograd als Mahnmal stehen, zurück zu den wirklich wichtigen Fragen. Der sozialistische Realismus – die überdimensionalen Muskeln und klobigen Fäuste der Sowjethelden, die Kraftmeierei und die blockhaften Schädel in Bronze und Beton – das sei nichts anderes als der unverwundbare amerikanische Superman in sowjetischer Ausgabe. „Wie wäre es, wenn wir zur Abwechslung mal etwas großartig finden würden“, hielt ihnen Professor K. entgegen, „zum Beispiel das russische Wetter, man sollte es exportieren. Wirklich, ich wünschte, wir hätten eine solche trockene Luft in Miami, vielleicht hätten wir dann auch weniger Ärger mit den Studenten.“ Er stopfte seine Pfeife und grinste in sich hinein.

Wir wollten irgend etwas unternehmen, und warum eigentlich nicht in Wolgograd. Irgend etwas musste doch in einer Millionenstadt los sein. Etwas, was sich unter­schied von den Freundschaftstreffen mit den Werktätigen, die Intourist für uns arrangiert hatte. Linda, eine der Amerikanerinnen, schwärmte von „My Fair Lady“ auf Russisch. Seit dieser Inszenierung in Kiew liebe sie die Russen, auch wenn es sich bei der Aufführung um ein kulturelles Missverständnis gehandelt habe. Wir versuchten es im Wolgograder Kulturpark. Der Tanzplatz war mit Holzbohlen ausgelegt und von einem zwei Meter hohen Zaun umge­ben. Eine Altherren-Combo spielte, aber keiner tanzte.

Junge Mädchen, 16-jährige Verkäuferinnen aus dem großen Kaufhaus Univermag, saßen auf den Bänken und probten die Wirkung ihrer lidstrichverstärkten Blicke. Polizisten gingen herum und führten einige der Jugendlichen ab. Die Combo machte Pause. Ein blecherner Lautsprecher ersetzte sie, endlich spielte man Pop-Musik. Alle begaben sich auf die Tanzfläche, Mädchen tanzten mit Mädchen. Niedlich in ihren selbstgeschneiderten Miniröcken, aber ein wenig verlegen bewegten sie sich zögernd durcheinander wie in Zeitlupe. Ohne Schwung, ohne Ekstase, aber sie tanzten, und Eric Burdon sang „Ring of Fire… Anschließend die Beatles, die einzigen Proletarier, von denen eine Bewusstseinsrevolution ausging: Back in the USSR, boy, how happy we are, boy… Grausam verzerrt und verstümmelt schepperte der Beatles-Song aus den Boxen, die Ironie des Textes, die Anklänge an die Beachboys, waren nur noch zu ahnen, mitten im Song gingen die Lichter aus: Schluss der Vorstellung. Auf dem Rückweg zum Schiff kamen wir an einem geöffneten Schönheitssalon vorbei. Die Tür stand auf, an langen Tischen saßen die Kundinnen, die Hände zur Maniküre ausgestreckt, ein Knacken von Nagelscheren erfüllte den Raum. Draußen totenstille, menschenleere Strassen, Inbegriff von Ruhe und Ordnung. Wir bereisten ein außerordentlich gesittetes Land: brav, puritanisch, ohne (sichtbaren) Generationenkonflikt, und so eingeschläfert wie der mumifizierte Lenin in seiner Dunkelkammer auf dem Roten Platz in Moskau.

Wir entfernten uns von der Stadt. Die Schornsteine des Stahlwerkes „Roter Oktober“ husteten eine orangefarbene Schmutzwolke in den Himmel. Unser Dampfer, die „Nikolai Gogol“ schlich durch die Fahrrinne und vibrierte ganz sacht. Der Steppenwind vom Wolgograder Ufer ondulierte das Wasser zu kleinen aufgeregten Wellen. Wir verließen die Wolga an diesem Abend, um hinüber nach Rostow am Don zu kommen. Vorsichtig glitten wir auf die enge Zementschlucht der Schleuse zu, die uns in den Kanal zum Don bringen sollte. Der Strom ist seit langem der Technik unterworfen, angeschwollen zu riesigen Stauseen, die die Industriegebiete mit Energie versorgen. In der Bar duldete man ab zehn Uhr abends das Abspielen von ein paar zerkratzten Jazzplatten, und auf dem oberen Deck lief ein Film mit englischen Untertiteln, „Anna Karenina“, der zweite Teil.

Einen Tag, nachdem wir Wolgograd verlassen hatten, kam Boris Stepanow vom Wolgograder Fernsehen noch einmal aufs Schiff. „Es ist kein Geheimnis“, sagte Boris, „dass Widersprüche zwischen unseren Ländern bestehen.“ Aber eins habe ihn besonders erschreckt. Dann zitierte er angebliche Artikel aus deutschen Zeitungen. „13-jährige Schüler werden in ihren Sommerferien in militärische Ausbildungslager gebracht, wo man ihnen Gewehre gibt und sie für den Krieg trainiert.“ Aus seiner Stimme klang Besorgnis und Angst. Er glaubte, was die sowjetische Propaganda über die Bundesrepublik sagte.

Wir fuhren noch etwa zwei Tage den Don hinunter, durch die Kosakensteppen nach Rostow, wo wir am letzten Abend ein ganz neues Schiff zu sehen bekamen. Man hatte alle Bezüge und Schondecken von den Möbeln entfernt und sie in die Wäscherei gegeben. Herr Stutz aus Winterthur beschäftigte sich weiterhin mit dem Schlachtenverlauf im Kessel von Stalingrad, ohne zu neuen Erkenntnissen zu gelangen. Der Ulmer Grafiker wisperte den anderen deutschen Mitreisenden zu, russische Spitzel und der KGB seien hinter uns her, die unser Gepäck beschlagnahmen wollten. Tom war bis obenhin voll mit einem Gesöff, das er selber während der Reise erfunden hatte. Ein Drittel georgischer Wein, gemischt mit zwei Dritteln Wodka. Sein Cut, den er zum Abschied angelegt hatte, war getrocknet und gebügelt worden und sah immer noch honorig aus, der dazugehörige Zylinder trieb irgendwo auf der Wolga und schwamm längst auf und davon. Tom war glücklich über den Verlauf unserer Reise – in seinem ewigen Rausch hatte er als einziger den süßen, den wunderbaren Sozialismus in Russland gesehen.