Zu neuen Ufern

Reportage
zuerst erschienen im August 2013 in Geo Special (Ausgabe: Amsterdam, Rotterdam, Den Haag), S. 58-68.

Plötzlich standen da diese Männer. Vor drei, vier Wochen habe er sie unten am Fähranleger gesehen, sagt Casper Oorthuys. Da, wo man in der Bäckerei sein Croissant nicht mit Bargeld bezahlen kann, nur mit Karte und PIN. „Zwei. Sie trugen pinke Hemden.“

Casper Oorthuys, groß, schlank, mit wenigen Haaren, ist 50 Jahre alt und hat ein junges Gesicht. Wenn er überlegt, verzieht er es zu einem Faltenmeer. Was er oft macht. Um danach fokussiert und detailgenau zu erklären. Jetzt lächelt er, wegen der zwei Männer am Fähranleger im Amsterdamer Stadtteil Noord.

Oorthuys ist Künstler, hat ein Riesenfiguren-Theater und steht vor einem drei Meter hohen Drachen aus Pappe, der in seiner Werkstatt von der Decke hängt. Zwei Helfer kleben Stuhllehnen-große Pappstacheln an den Kamm des Riesenviehs. Es wird bald tanzen bei einem Rave. Oorthuys schaut zu, während er mit halb nach hinten gedrehtem Kopf wiederholt: „Pinke Hemden.“ Worauf will er hinaus? Er dreht sich um: „Ich bin Symboldeuter, gehört zu meinem Beruf als Objekt-Theater-Mann.“

Pinke Hemden bedeuten, jetzt kommen die Investoren. Er lacht.

Oorthuys kam 2002 in die 20 Meter hohe Halle der NDSM-Werft, als Besetzer. Hat sich einfach seinen Platz genommen in der Industriebrache. Heute gehört er zur offiziellen und staatlich subventionierten Künstlerkommune. Zurzeit leitet er die sogar. 40 Ateliers, ein doppelstöckiges Containerdorf gebaut in die gewaltige Leere. Über 20000 Quadratmeter Fläche, Hauptbahnhof-Dimensionen. Rauer Betonboden, Rost an den Hallenwänden. Wenn draußen Wolken wandern, dann kommt Licht von schräg oben rein. Einzelne Strahlen. Wie in einer Kathedrale. Schwebender Staub. Es riecht nach Spanplatten.

„Ja. Wir wurden gebraucht, wir wurden benutzt“, sagt Oorthuys. Die Stadtplaner und Politiker haben die Künstler als Trüffelschweine eingesetzt, um Noord aufzuwerten. Um die Gegend interessant zu machen, bewohnbar auch für Leute mit Geld und Ansprüchen. „Aber wir haben auch was davon“, sagt Oorthuys. Die Miete für die Ateliers sei billig. Die Verträge, ursprünglich auf zehn Jahre geschlossen, wurden um weitere zehn Jahre verlängert. „Wir sind der Traum und gleichzeitig der Albtraum der Stadtverwaltung. Machen Ärger und helfen. Kosten Geld und bringen nicht genug. Aber wir machen die Gegend interessant für Männer in pinken Hemden.“

Oorthuys trägt ein kariertes Hemd. Seine Figuren aus Pappe und Spanplatten treten bei Raves in Fußballstadien auf, bei Festivals oder Firmenevents. Oorthuys verdient Geld, beschäftigt Leute, arbeitet für Agenturen. Aus dem Besetzer ist ein ein Geschäftsmann geworden.

Die Fähre zum Hauptbahnhof legt bald ab. Oorthuys will heim. Er deutet noch schnell auf eine andere alte Halle, die gerade saniert wird, damit bald Greenpeace einziehen kann. „Freut mich.“

Und ab. Nach Süden. In das klassische Amsterdam, mit seinen Grachten und backsteinernen Reihenhäusern, das wohlhabende, das touristische Amsterdam. Wer kennt schon Noord? Hinter dem Hauptbahnhof, jenseits des IJ, diesem Ausläufer des Ijsselmeers, hier keine 300 Meter breit, er wirkt wie ein Fluss. Noord ist groß, mehr als ein Viertel der Stadtfläche, auf dem aber nur ein Zehntel der 800.000 Amsterdamer wohnt. In den Statistiken ist es die Gegend mit den ärmsten, fremdesten, unwillkommensten Menschen. Industrieviertel, Brachflächen, Reihenhäuser, Wohnsilos, Leerstand. In Amsterdam, das für seine Wohnungsnot bekannt ist. Klar, dass die Stadtplaner diesen Schatz heben wollen.

Darum die Künstler. Die Trüffelschweine. Denen die Hipster und Studenten folgen, die Softwareleute und Startup-Gründer, die Agenturbesitzer und Designer. Und denen wiederum folgen die Investoren. Die Männer mit den pinken Hemden. Staatlich gesteuerte Gentrifizierung. Um ein monochrom armes Viertel wieder zu durchmischen.

Wobei: Die ersten Trüffelschweine sind schon wieder auf dem Sprung. Michel Groenewegen, genannt Mike, betreibt den Skater-Park oben in der NDSM-Werft, auf Pfähle gebaut, vier Meter unter der 20 Meter hohen Decke. Groenewegen ist genervt - von den Künstlern. Ihrer Verspießerung. „Als wir kamen, war hier war Wasteland. Entwicklungsland.“ Skater und Künstler hielten zusammen. „Zumindest früher. Heute? Pffffff.“ Das Gemeinschaftsgefühl ist längst zerbrochen. „Heute beschweren sich die wilden Künstler über den Lärm der Skater.“ Der Satz soll ironisch klingen, aber er klingt bitter, wie eine hilflose Frage.

Groenewegen will weg mit seinem Skatepark. Er habe ein neues Gelände gefunden, drüben, auf der anderen Seite, auch im Süden gebe es noch raue unentdeckte Orte. „Hier in Noord ist es vorbei.“ Aber das sei schon ok. Das sei nun mal der Lauf der Dinge. Er komme als erstes und gehe als erstes. Groenewegen deutet auf einen Müllcontainer. Der hat ein Vorhängeschloss. Andere tragen Warnschilder: Hier darf nur reinwerfen, wer seinen Anteil bezahlt. „Es war schön hier“, sagt Groenewegen.

In der Nacht. In seinem schwarzen flachen BMW. Der Mann, tätowierte Muckis, schwarzes T-Shirt, schwarze Jeans, schwarze wilde Haare, wirkt frisch und wild. Es ist nach Mitternacht und Ronald Hooft will mir Noord zeigen, helfen, dieses Viertel zu verstehen. Los geht’s, zweiter Gang, dritter Gang. Vorbei an Reihenhäusern. Alle gleich, kleine eckige Kästen mit Spitzhütchen drauf, alle in Ziegelfarbe, meist blaue oder weiße Fensterrahmen aus Holz. Wenig Licht in den Häusern. Tischgroße Vorgärten. Ein zugenagelter Laden. Amsterdam wirkt hier wie Detroit.

Hooft, der Designer, er hat lange in New York gelebt, deutet auf ein Haus auf der anderen Straßenseite und sagt: „Hier wohnt einer meiner Leute, er ist aus London hergezogen.“ Rechts abbiegen, „hier, da auch, hat gerade ein Kollege aus der Firma gekauft. Noch ist Noord billiger als drüben.“

Ronald Hooft ist einer der Gründer von & Prast & Hoofts Architects. Acht Mitarbeiter, die Hotels, Büros, Boutiquen gestalten. Noch ist das Büro auf der Südseite, nicht weit von den Grachten. Aber er selbst wohnt schon lange in einer umgebauten Werft hier in Noord. Mit Bäumen in der Nähe und Wasser. Er bremst, biegt wieder ab, bis das Auto steht. Motor aus.

Der Wagen steht vor dem Büro von Bjarne Mastenbroek. Ein holländischer Architektur-Star in dieser scheinbar abgerissenen, menschenleeren Gegend? Der Eindruck täuscht. Um die Ecke liegen schon schicke zwei Restaurants am Ufer des IJ, in alten Fabrikhallen, mit hohen Decken, Industrie-Chic, neueste Küche. Hooft deutet auf die andere Straßenseite. Eine alte Fabrik, ein eingeschlagenes Fenster. „Da zieht unsere Firma bald hin. Vertrag hab ich gestern unterschrieben.“ Er zündet den Motor. „Good vibe, good energy, creative feeling, possibilities.“

Hooft fährt mich zur Fähre: Am Rande Noords auf der großen Straße durch ein Gewerbegebiete mit Teppich-, Möbel-, Billig-Laminat-Märkten, Auto- und Küchenhäusern, Matratzen-Discountern. Überall steht das Schild „Sonderangebot“ oder „Rabatt“ oder „Billig“. Kaum zu glauben, dass jetzt alle herkommen wollen. Doch Hooft nickt und erzählt von Blosh. Modefirma, erfolgreich, hipp. „Die sind jetzt auch hier, weil sie da sein wollen, wo es cool ist.“ Er habe die Büros und den Showroom gestaltet. „Noord ist im Blickfeld.“ Als ich aussteige, sagt Hooft auf dem Fahrersitz, „es geht jetzt richtig los hier.“

Ein windiger Nachmittag. Ruud van de Sluis ist in sein Auto gestiegen und 80 Kilometer hergefahren. „Ich hab da drin gelernt“, sagt er und deutet auf ein frisch renoviertes Backsteingebäude mit blauen Schiebetüren, in dem seit kurzem MTV-Benelux residiert. „Das war die Schreinerei der NDSM-Werft.“

Van de Sluis, 68 Jahre alt, will erzählen. Von damals. Er lächelt kummervoll. Er hat Fotos mitgebracht: Männer in Latzhosen und Arbeitskitteln, Metall, Schweißgeräte. Schwarz-weiß. Der traurige Mann, der zu viel lächelt, sagt, er habe akzeptiert, was hier passiert. Er finde es gut. „Als hier nichts mehr war, kamen die Desperados. Drogen, Illegale.“ Er macht eine Pause. „Ist schon gut so.“ Stundenlang gehen wir über das Gelände, vorbei an Ruinen, an alten Kränen, die auf dem Boden liegen. „Früher gab es hier 200 Kräne.“ Er will wieder ein Foto aus seiner Mappe zeigen. Aber der Wind weht zu stark. Van de Sluis lächelt, sagt „nachher“ und geht weiter.

„Damals war hier Rauch, Hitze, Lärm, Gestank. Es war eigen. Ich kann es niemandem beschreiben, manchmal hab ich es noch in der Nase, fühle es.“

Dann schweigt er lange. Es regnet, der Wind quält, van de Sluis sagt, „hier war früher viel mehr Leben“. Sein Vater arbeitete auf der Werft, sein Großvater, sein Bruder, sein Cousin. Seine beiden Töchter lernten hier in den Büros. „Aber für Amsterdamer von drüben war das Sibirien. Die wollten hier nicht leben. Obwohl es zur Stadt gehörte hat die Verwaltung auf dieser Seite der IJ keine Schulen, Clubs und Wohnungen finanziert. Das wurde alles von den Firmen in Noord nach dem Krupp-Prinzip übernommen. Die Werften bauten Wohnungen für ihre Arbeiter.“

Ruud van de Sluis steht mit dem Rücken zu seinem früheren Arbeitsplatz. Deutet auf das Red Bull Büro in dem alten Lagerschuppen mit den spitzen Giebeln: „Das ist für mich Respekt.“ Vor den Klinkerwänden stehen Schiebetüren aus blau lackiertem Stahl. „Sieht aus wie früher. Für mich zeigt das, der Architekt …“ Er setzt neu an: „Das alles macht mich traurig, richtig traurig.“ Die blauen Tore haben keine Funktion mehr, sind nur noch Optik. „Aber ein Zeichen von Respekt. Sie wärmen mein Herz.“

Später, am Fähranleger, im Halbdunkeln, in der Kälte, im Regen, noch einmal: „Ist schon gut so.“

Stadtentwicklung: Stadtentwicklung dauert Jahrzehnte. Wirtschaftskrisen kommen dazwischen, Moden ändern sich, neue Politiker kommen und wollen andere Masterpläne. Stadtentwicklung hat was von Glücksspiel, eher Poker als Roulette, man kann planen und vorausdenken, ist aber, fällt die Kugel auf rot oder schwarz, immer auch vom Zufall ab.

Baltimore, London, Barcelona, Bilbao, Hamburg. Und Amsterdam. Sie alle hatten seit den 1980er Jahren dasselbe Problem - riesige Hafenareale wurden frei in der Nähe der Zentren. Während zugleich Tausende Arbeitsplätze verloren gingen durch die Automatisierung der Containerschifffahrt, das Sterben der Werften. Wie die Brachen beleben? Und wie heimische Wirtschaft beleben?

Es gab zig Versuche. Forscher teilen sie ein in „Housing led“, „Office led“ und „Culture led“. Je nachdem, welcher Sektor im Fokus stand. „Housing led“, da ist Göteborg ein Beispiel. Viel sozialer Wohnungsbau. „Office led“: Wie in London, mal einer der größten Häfen der Welt, umgewandelt in ein Büromeer voll  Banken, Versicherungen. Weil die sich die höchsten Mieten leisten konnten. Aber nachts war da niemand, die Geldgegend tot. Jetzt bauen sie in London in das Büroviertel Wohnungen. „Culture led“ - da ist Bilbao der Erfolgs-Prototyp. Hol Stararchitekten! Lass sie spektakuläre Museen bauen, Konzerthallen, Bibliotheken! Dann kommen die Leute. Und die wollen dann auch shoppen, brauchen Hotels und Restaurants. Heute wissen die Stadtplaner: Jede Monokultur ist schlecht, sorg für die richtige Mischung! Weshalb Hamburg nachträglich eine Universität in der Hafencity baut und dort sozialen Wohnungsbau fördert.

Während Amsterdam in Noord versucht, das Trüffelschwein- Prinzip zu perfektionieren. Lass dir Zeit. Mach möglichst wenig. Lass die Künstler und die Kreativen die Arbeit machen. Und mische, mische, mische!

Bierflaschen stehen auf den Tischen, Zigarettenrauch schwebt in der Luft. Neonlicht flimmert. Sie haben früher hart gearbeitet. Das erzählen ihre breiten Schultern, ihre dicken Arme, die vielen Muskeln. Die Männer strahlen Härte aus. Die Kneipenmama kommt, fragt ob ich Bier will. Hat es schon in der Hand. Morgens kurz nach neun. Die Männer spielen Billard. Die Flasche Bier kostet 1,20 Euro, die Tasse Kaffee 70 Cent. Einem alten Holzschuppen in der Nähe des Fähranlegers, wo sich die alten Werftarbeiter dienstags und mittwochs treffen. Morgens um neun.

Baanderij, die Biegerei, haben sie ihre Baracke genannt. „Wir wollten einen Namen, der mit dem Schiffbau zu tun hat“, sagt Ad de Ridder, 78 Jahre alt, sein halbes Arbeitsleben hat er auf der Werft verbracht. Sie wurde 1994 geschlossen. Anfangs trafen sie sich zu vielen, heute sind sie nur noch ein paar. De Ridder deutet auf den Tisch, an dem die meisten sitzen. „Das ist der Alkoholiker-Tisch.“ Plötzlich schimpfen mehrere Männer miteinander. De Ridder erklärt warum: NDSM, die Werft wurde nach dem Zweiten Weltkrieg aus zwei alten Firmen, ADM und NSM, zusammengesetzt. ADM reparierte Schiffe. NSM baute welche. In der Halle, in der heute die Künstler sitzen. „Ich war ein NSMler, bauen ist doch besser als reparieren. Oder?“ Er lächelt. Noch heute ziehen die Arbeiter einander auf. Aus Prinzip. Zum Spaß. Damit sie was zu tun haben.

Fred vom Alkoholiker-Tisch schreit „Wir haben immer rot gewählt. Immer. Noord war rot!“ Als die Werft pleite ging, trafen sie sich in ihrer alten Kantine. Bis dort ein schickes Restaurant einzog, mit einem fünf Meter hohen, zwei Meter breiten Schwarzweiß-Foto, das den Stapellauf der „Oslofjord“ zeigt. Authentizität. Industrieromantik. Die Arbeiter bekamen diese Baracke.

Ad de Ridder trinkt einen Schluck Kaffee, dann tobt er viel zu laut los: „Gedemütigt haben sie uns, als sie uns hierher schickten und unsere Kantine nahmen, um daraus dieses schicke Ding zu machen.“ Fred schreit Unverständliches vom Alkoholiker-Tisch herüber und wischt eine Bierflasche vom Tisch. Die Kneipenmama sagt: „Sie sollten besser gehen.“

Es ist 9.50 Uhr. Die alten, starken Männer sind die letzten von früher. Sie passen nicht in die neue Welt, und sie wissen es. Liegen am Ufer wie gestrandete Wale.

Vor der Tür der Banderij, den Zorn der Männer noch im Nacken, schaue ich mich um. Vorn der Fähranleger. Dahinter das HEMA-Gebäude, ein machtverströmender Neubau, in dem der holländische Supermarktkonzern seit kurzem seine Zentrale hat. Dahinter die Kranspoor, ein Büroriegel aus Glas auf einem 270 Meter langen Gerüst, über das früher die Kräne am Kai entlangfuhren. Ein Klassiker der neuesten Architektur, 2007 eröffnet, die Firmen darin tragen Namen wie morecreative, deleo, conclusion oder eastmen. Kleingeschrieben. Drumherum ist noch Brache, aber die Straßen sind schon angelegt, sie heißen Hardware-, Digital-, Monitor-, Modem-, Plotter-, Display-, Printer-, Scannerstraat, es gibt den Computer- und den Diskettenweg.

Blick weiter nach rechts: im Hintergrund die Halle der Künstler. Vorn ist MTV, daneben die alte Werft-Schmiede, in die neben Greenpeace auch Pernod Ricard zieht. Noch weiter rechts eine Baustelle für neues altes Hotels namens Brooklyn, dazu die renovierten Schuppen mit den Red Bull Büros und einer Firma namens Frontier Strategy, wo junge Menschen mit Stöpseln im Ohr vor Apple-Bildschirmen sitzen, in der weißen Welt der Zukunft, und Dateien bearbeiten und versenden.

Je virtueller die Arbeitswelt wird, desto mehr sehnt sie sich nach den rostigen Industriekulisse. Rost und Staub sei durchaus wichtig für die IT-Branche, sagt Noords Bürgermeister Kees Diepeveen. Er ist zuständig für Stadtentwicklung. „Die Atmosphäre hilft. Das Raue, das mögen die Firmen, das ist modern und hipp, das lässt sich gut filmen und fotografieren.“ Gut, ja, hier sei die Miete billiger als auf der anderen Seite des Flusses. Deswegen seien sie auch gekommen. Er sagt, es laufe sehr gut. Die Bankenkrise habe gebremst, ein paar Projekte hätten gewackelt. Aber es gehe weiter. Als nächstes werde es Wohnbebauung geben. Deshalb kommen nun die Männer mit den pinken Hemden.

Bürgermeister Diepeveen will noch über das Eye sprechen. Sei ihm sehr wichtig. Klar, denn das Eye ist das Amsterdamer Leuchtturmprojekt. Endlich fällt das Lieblingswort der Stadtentwickler auf der ganzen Welt. Es steht für eine effektive, simple Idee: Baue etwas Auffälliges, einen Eiffelturm der Neuzeit, da hin, wo die Leute bisher nicht hinkamen. Noord zum Beispiel. So ein Leuchtturmprojekt wertet eine Gegend auf. Du brauchst dafür Architekten, die es krachen lassen. Die dafür sorgen, dass die Kritiker jubeln oder schimpfen, Hauptsache sie verwenden das Bild vom landenden Raumschiff in ihren Texten. Die Leute sollen neugierig gemacht, volle Busse gelockt werden.

Für Amsterdam hat das österreichische Büro Delugan Meissl, das zuvor das Stuttgarter Porsche Museum entworfen hatte, das Eye gestaltet, das holländische Filmmuseum. Schneeweiß, asymmetrisch, hat es was von einem Schwan oder einer Muschel oder einem Auge oder was aus einem Science Fiction Szenario, ach was, es wirkt wie ein Raumschiff. Ist Ausdruck eines starken Willens zum Wahrzeichen. So auffällig, dass es, jede Stadt will ja ihr Leuchtturmprojekt haben, herausragt aus der weltweiten Inflation der Leuchtturmprojekte. Es steht direkt neben dem alten Shell-Tower in Amsterdam Noord. Investoren haben den gerade gekauft. Er wird umgebaut zu irgendetwas mit dem Wort Kreativität im Namen. Und aus der flachen Kantine daneben macht die Stadt ein Kulturzentrum.

Davor liegt der zweite Fähranleger Noords. Das Eye hat vier Kinos und einen Ausstellungssaal, aber es kommen nicht nur die Cineasten. Das Foyer und die Cafeteria sind voller Menschen, im Museumsshop herrscht Souvenierkäufer-Gedränge und die Cafeteria ist groß. Ihre Decke kathedralenhoch, ihr Kaffeetassengeklapper liefert ein entspannendes meditatives Grundgeräusch. Ein Kammerorchester probt auf der Bühne für das Konzert im Foyer heute Abend. Plötzlich hören die Musiker auf zu spielen. Menschen raunen. Die Artiana, ein Kreuzfahrtschiff, fährt vorbei, ganz nah am gigantischen Fenster direkt am Fluss. Menschen gehen zu der Glasscheibe. Die Kinder rennen. Etwa 50 Männer und Frauen fotografieren und Filmen durch die Scheibe.

Ich nehme die Fähre auf die andere Seite. Zurück ins alte Amsterdam. Es dämmert. Blicke zurück. Das EYE, der Shell-Tower daneben. Die Lichter gehen an. Viele Lichter.