Warten Sie nicht auf die Nackten und die Vögel

Ausstellungskritik
zuerst erschienen am 15. März 2015 in Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung, S. 38
In London wird der Designer Alexander McQueen gefeiert. Ein Ausstellungsbesuch mit seiner Vertrauten Ann Ray

Am Anfang dieser Geschichte stehen sich ein Junge und ein Mädchen gegenüber und schauen auf ihre Füße. Es ist ein Januartag im Paris des Jahres 1997, Avenue George V Nummer 3, im Atelier des französischen Couture-Hauses Givenchy. Vielleicht lag noch Schnee. Der Junge ist Alexander McQueen, 27 Jahre, britischer Modedesigner. Übertalent! Enfant terrible! Hooligan! Bad Boy! Ein Mensch wie eine junge Bulldogge: wuchtig, aber immer in Bewegung; die Schultern ein wenig zu hoch gezogen; laut, mit einem Lachen, so dreckig und befreit, wie es sein weit aufgerissener Mund zuließ. Ein Silbenschleifer und Wortverschlucker. Ein Taxifahrersohn aus dem Londoner East End. Schauen Sie sich alte BBC-Dokus an, schließen Sie die Augen und hören Sie Alexander McQueen sprechen und lachen. Sein rohes Äußeres mag erschreckt haben, aber seine Stimme verrät, wie unfassbar jung er damals war für einen Job als Kreativdirektor, für 14 Kollektionen im Jahr, für Haute Couture, Prêt-à-porter, für den Kampf gegen die Kritiker, die vor allem seine schlechten Zähne schockierten und ihn als „hässlich“ bezeichneten. Die Ära der Supermodels, der makellosen sportgestählten Schönheiten, die Sachlichkeit von Minimalisten wie Helmut Lang und Jil Sander hatte gerade angefangen, die Modepresse zu langweilen, und dieser Brite war der Tellerwäscher, auf den sie gewartet hatten. Er gab der Schönheit neue Kleider.

„Er war noch ein Baby“, sagt Anne Ray, ihr Blick haftet auf einer der vielen Kleiderpuppen im Londoner Victoria & Albert Museum, auf denen McQueens Kleider, Roben, Jacken und Mäntel für die Retrospektive „Savage Beauty“ aufgezogen sind. Sie sieht müde aus, auf der Gala am Abend zuvor ist es spät geworden, ihre großen blauen Augen tropfen fast auf ihre Wangen, aber ihr Pony ist frisch geföhnt. Der kopflose Puppenkörper, vor dem sie haltmacht, trägt einen Frock Coat mit dezentem pinkfarbenem Karo auf grauem Grund. Typisch McQueen, ein historischer Herrenschnitt für einen Frauenkörper. Der Mantel stammt aus Rays eigenem Kleiderschrank.

Sie war das Mädchen, das zu Boden schaute, im Januar 1997 selbst erst 26 und beauftragt, eine Saison lang McQueens Arbeit für Givenchy zu dokumentieren. Ihr erster Impuls: Das wird nichts. „Er lief wie ein Boxer, aber das störte mich nicht. Was mich einschüchterte, war sein Talent.“ Denn auch wenn er noch ein Junge war, die Schneider und Näherinnen im Atelier Givenchy lagen ihm von dem Moment an zu Füßen, da er das erste Mal ein Stück Stoff in die Hand nahm. „Es herrschte absolute Ruhe. Er sagte: Stecknadel. Schere. Wie ein Chirurg. Ich habe nie wieder einen Designer mit so viel Präzision arbeiten sehen“, sagt Ray.

Von diesem Tag an war sie an seiner Seite. An Lees Seite. Das war sein eigentlicher Vorname. Alexander nannte ihn nur seine Mentorin, die „Vogue“-Stylistin und verarmte Aristokratin Isabella Blow, die 1991 für 5000 Pfund seine erste Kollektion aufkaufte - der Legende nach lieferte McQueen sie in Mülltüten aus. Sie nahm sich drei Jahre vor ihm das Leben. Alexander, wie Alexander der Große. Für Ann Ray war er nur Lee. Sie verbinden 13 Jahre, 26 Saisons, 35.000 Analogfotos. Sie verwaltet sein Leben in Bildern. Aus 400 von ihnen hat sie vor drei Jahren das Buch „Love Looks Not with the Eyes“ gemacht. Dreizehn hat das Victoria & Albert Museum erworben. Der Katalog zur Ausstellung „Savage Beauty“ ist voll von ihnen. Von Rays Bildern aus McQueens Innenräumen, aus seinen Ateliers, erst bei Givenchy, dann in London in seiner eigenen Firma, hinter den Kulissen, Backstage. Obwohl sie nicht als Backstage-Fotografin bezeichnet werden will. Weil das nach Champagner klingt. „Aber das trifft es nicht. Es war viel mehr als das. Es ging darum, das Wesen seiner Kunst einzufangen. Und das konnte ich am besten in diesen hektischen 15 Minuten während seiner Schauen, weil nur dann seine Wahrheit galt: seine Models, sein Make-up, seine Haare, seine Kleider. Wenn seine Vision lebendig wurde.“

Und genau das ist es, was der Retrospektive „Savage Beauty“, die im Jahr 2011 bereits in kleinerem Umfang im New Yorker Metropolitan Museum gezeigt wurde, fehlt. Das Leben. Der Sinn für die Intensität von Alexander McQueens eigenem Erleben von Mode. Die Performance, die er mit Kleidung verband. Seine Schauen waren Spektakel, mit Wölfen oder rubensgleichen Nackten mit Gasmasken auf der Bühne. Und natürlich zeigt das Victoria & Albert Museum seine unglaublichen Kleider, die vielen Roben aus Abertausenden Federn, denn McQueen liebte Vögel und hielt selber Falken. Die mit Rosen gespickten Silberbustiers und das Tartan seiner schottischen Familie, auch sie werden in thematisch gestalteten Räumen kontextualisiert. Aber sie sind tot. Sie gehören niemandem. Weil der Designer seltsam abwesend ist. Keine Videos, keine Zeichnungen, keine Korrespondenzen oder einige der vielen tausend Blicke hinter die Kulissen, die Ann Ray geworfen hat.

Vielleicht wollten die Kuratoren vom Victoria & Albert Museum dem ewigen Boulevardisieren seines Schaffens ein Ende bereiten. Gerade erst sind zwei indiskrete Biographien erschienen. Nur ist McQueen ohne McQueen vor allem zeitlos schön, aber eben nicht McQueen, der mal gesagt hat, dass es ihm am liebsten wäre, die Leute würden nach seinen Schauen kotzen gehen. Dessen messerscharfe Silhouetten noch jeder Frau den Rücken begradigt haben, damit sie aufrecht durchs Leben geht. Und nicht gebückt wie die verprügelten Frauen seiner Kindheit. So beschreibt es jedenfalls Ray, die ein schwarzes Jackett von ihm trägt, dass sie anzieht, wenn sie sich nicht einschüchtern lassen will. Sie sagt, McQueen habe ihr Leben verändert. Ihre Bilder sind der zärtliche Beweis dafür. Und dafür, dass McQueen nicht nur hart gearbeitet und genauso hart an sich gezweifelt hat, sondern dass er treu war. Was in der Mode selten ist. Und diese Treue halten ihm seine ehemaligen Mitarbeiter und Weggefährten, über den Tod hinaus. Direkt nach seinem Selbstmord gab nur einer seiner ehemaligen Liebhaber ein Interview. Mit dem damit verdienten Geld flog er nach Südamerika, wo er von einer Spinne gebissen wurde und starb.