Als der Globus explodierte

Essay
zuerst erschienen am 08. Januar 2010 in Frankfurter Allgemeine Zeitung
Ist es Zeit, endlich abzurechnen mit jenen Eltern, deren Welt die DDR war? Bericht aus einer Kindheit, in der die deutsche Einheit ein Kahlschlag war, ein Raubzug, eine Brandrodung.

Es war ein heißer Tag. Einer dieser Tage, die schlimm enden würden. Mit einem Gewitter und garantiert heftigem Donner. Es lag so etwas in der Luft, als mein Vater den Globus aus meinem Regal zog. Er nahm ihn an der Plastikleiste, die um die Erdbiegung gespannt war, und stellte ihn behutsam auf den Teppich. Der Ordnung wegen sagte er noch: Es gibt Dinge, die nicht zusammengehören, fummelte die Plastikleiste ab und trat dann mit dem Fuß auf die Pappkugel. Sein rechter Hausschuh blieb dabei stecken. Dann stopfte er alles zusammen in den Kohleofen, brach einen dieser weißen, nach Benzin riechenden Kohleanzünder und ließ Globus, Hausschuh und Anzünder in Flammen aufgehen. Es war Sommer 1990 in Weimar, ich war fünf Jahre alt, spielte mit Murmeln, und die DDR atmete die letzten Züge.

Ein Rückblick: Der 9. November ‘89 war ein Schock. Die Bilder der Euphorie sind Bilder der anderen. Gerade hatte mein Vater irgendwo auf dem Land ein Agrarinstitut aufgebaut, gerade müssen sie die Felder umgegraben haben, sie für den Winter und das nächste Frühjahr vorbereitet und den Sommer ausgewertet haben. Kleine gesunde Zöglinge werden sie im Gewächshaus herangezogen haben, damit die gerade und stark in den nächsten sozialistischen Frühling wuchsen. In unserem Plattenbauviertel säuselte gerade noch der Wind. Ein paar DDR-Fahnen klimperten vor den Fenstern. Der Geist, der diesen Ort bewohnte, war sehr unfreundlich. In der Mitte der Plattenbausiedlung stand eine Klärgrube, daneben eine schaukellose Kinderschaukel und ein Sandkasten. Von unserer Wohnung in der dritten Etage konnte man auf die gerissenen großen Platten der Klärgrube schauen. Es roch immerzu nach Jauche. Es war wenig abwechslungsreich.

Später, nachdem mein Vater den Globus zertrampelt und angezündet hatte, ging er aus dem Zimmer und hinein in ein langes Schweigen. Er hatte keine Lust mehr, mit irgendjemandem in Verbindung zu treten. Auch sonst wurde es still um uns herum, die einzigen Akademiker in der großen Siedlung. Der Alkoholkonsum stieg gewaltig. Nicht selten lag ein Nachbar morgens im Treppenhaus und suchte vollkommen blau seine Wohnung. Das war das Phänomen, das ich in dieser Zeit beobachten konnte. Vorher betrank sich zwar auch jeder, allerdings wurden dafür Anlässe erfunden, zu denen man zusammen und mit großem Lärm feiern konnte. Jetzt standen die Nachbarn am Tag am Straßenrand und pflegten die neu angelegten Stiefmütterchenbeete und wollten nicht gegrüßt werden. Die Abkürzung ABM war zutraulich in Umlauf. Arbeitsbeschaffungsmaßnahme. Ich glaubte damals, jemand hätte die Menschen beraubt, ihnen etwas, von dem ich nicht wusste, was es sein könnte, weggenommen. Ich hatte das Gefühl, wieder Gerechtigkeit in die Welt bringen zu müssen, und wurde etwas voreilig mit fünf Jahren Kommunistin. Genug Kenntnisse hatte ich mir auf der Straße angeeignet.

Draußen explodierten jedenfalls ekstatische Freudenfeuerwerke, und drinnen sah ich meinen Vater nur noch durch das Aquarium, das im Wohnzimmer den Esstisch vom Sofa trennte. Am Kopf meines Vaters schwammen extrem kleine und stumme Fische vorbei, und wir tranken Pfefferminztee vom Vortag. Es gab bei uns keine Zeitungen, und unsere erste Telefonnummer durfte nicht weitergegeben werden. Mein Vater hatte offenbar Angst, man könnte ihm wegen irgendetwas, wegen eines Geheimnisses, so glaubte ich, zu Leibe rücken. Und mein Vater verließ das Haus nur noch, um zur Arbeit zu gehen. Selbstverständlich gab es kein Institut mehr. Er war jetzt Angestellter in einem Amt der BRD. Sonst veränderte sich wenig: Es gab keine neuen Möbel oder neue Kleidung, keine Auslandsreisen außer nach Bayern, sie kauften nur einen Videorekorder. Wenn er aber dort, auf der einen Seite vom Aquarium, und wir auf der anderen Seite saßen, konnte ich sein Gesicht durch das Aquarium grün und verschwommen sehen. Er guckte in den Fernseher. Dort liefen selten Nachrichten oder das Abendprogramm, sondern immer alte vergnügliche Filme von Videokassetten: Italowestern, Defa-Filme, Komödien mit Manfred Krug und Liselotte Pulver. Um die vierhundert Filme hat er in den nächsten Jahren aufgenommen und von Kassetten Hunderte Male wiederholt. Den „Tiger von Eschnapur“ und „Spiel mir das Lied vom Tod“ genauso wie „Das Wirtshaus im Spessart“ und alle russischen Märchenfilme. Er hat alle Filme notiert, auf der Schreibmaschine und später am Computer lange Listen der Videokassetten-Datenerfassung erstellt: Name, Genre, Spieldauer, Erscheinungsjahr und Zeit der Aufnahme sowie Kassettennummer und eventuell nötige Bemerkungen (Defa, Hitchcock, Schrottplatz).

Das Einzige, was ich mit Sicherheit sagen kann, ist, dass die Zeit nach dem Fall der Mauer eine prägende Erfahrung der Trauer und des Schweigens war.

Für mich ist die DDR so weit weg wie das Inka-Reich Tawantinsuyu. Wobei ich darüber noch etwas mehr weiß, dank einer völlig gegenwartsfremden ostdeutschen Dorfschule, wo bis zu meinem Abitur 2003 niemals etwas über die DDR erzählt wurde. An eines erinnere ich mich allerdings schon. Es war Geschichtsunterricht. Nationalsozialismus.

Lehrer: „Es wäre eine Möglichkeit gewesen, 1933 nicht Hitler an die Macht kommen zu lassen, sondern die Kommunisten. Stalin ist immer noch besser als Hitler.“

Ansonsten wurde um das Thema herumgetänzelt wie um einen Maibaum. Einmal fragte ein Mitschüler nach dem Unterricht die Deutschlehrerin, wie sich das im Osten damals mit den Lehrern verhielt. Ihre Antwort: „Das geht dich, glaube ich, nichts an.“ Möglich. Wir haben also nicht den blassesten Schimmer einer Ahnung. Erich Honecker ist für mich eher eine Karikatur. Mielke kenne ich nur vom Namen, weil sich mit ihm auch ein Witz bezüglich diverser Haushaltsgeräte verbindet. Und was eine Grilletta ist, habe ich auch schon wieder vergessen. Es würde sich also lohnen, mit mir ein DDR-Quiz zu spielen. Ich habe keine Ahnung. Aber ich hätte gern ein paar Antworten:

Warum ist man in die Partei eingetreten? Ist einem die Unterschrift heute peinlich? War die DDR ein Unrechtsstaat oder nicht? Wie hat das den Alltag beeinflusst? Was hat das für den Alltag bedeutet? Galt die Stasi als gefährlich, oder waren das für euch eher, banal gesagt, Pappnasen? Inwiefern galt ein stärkerer Zusammenhalt unter den Menschen? Was ist für euch der größte Unterschied nach dem Mauerfall gewesen? Was ist die radikalste Veränderung für euch? Was hat euch Freiheit bedeutet? Und deren Einschränkung? In Westdeutschland gab es verschiedene Perioden: Die Zeit der RAF, die Kohl-Ära. Gab es bestimmte Phasen auch in der DDR?

Ich gehöre zu einer Generation, die in den achtziger Jahren geboren wurde und 1989 zu jung war, die neuen Freiheiten zu nutzen, um sofort das Land zu verlassen, um in Paris oder Bologna oder irgendwo anders zu studieren oder zu arbeiten. Ich teile mit vielen jungen Ostdeutschen, die heute zwischen 24 und 29 Jahre alt sind, die Erziehung durch melancholische, ja, depressive, eingeknickte, krumme, enttäuschte, beschämte, schweigende Eltern und Lehrer. Die Hälfte des Personals in unserem Leben musste ständig in Kuren oder in psychologische Betreuung. Die Einheit war für uns lange ein Raubzug, ein Kahlschlag, eine Zerstörung, eine Brandrodung. Um zu dieser Überzeugung zu gelangen, mussten wir nur heranwachsen und uns umschauen.

Als 1990 die ersten Wahlen stattfanden, gingen meine Eltern wie immer früh aus der Wohnung. Bis heute werden Wahlgänge noch sehr zeitig erledigt, das wäre der Untergang einer Demokratie, sagt meine Mutter, wenn man erst schönes Wetter abwarten würde, um zur Wahl zu gehen. In der nahen Grundschule, dort wo die ersten freien Wahlen in unserer Siedlung stattfanden, wurden auch die ersten Wahlkabinen aufgebaut. Meine Eltern standen mit den anderen Leuten aus unserer Plattenbausiedlung etwas ratlos herum. Die Wahlleiterin winkte sie heran. „Da müsst ihr rein.“ Mein Vater kam mit seinem sauberen Wahlzettel wieder heraus und sagte der verwirrten Wahlleiterin, dass er sich nicht im Stande sähe, in einen der vorgedruckten Kästen ein Kreuz zu zeichnen. Er verstehe das nicht. Und: Wer soll hier wen wählen? Er habe sich für das hier nicht entschieden, die Einheit auf keiner Demo verlangt, nie hinter der Hand derlei gefordert. Nein. Im Gegenteil. Von ihm aus könne das gern wieder rückgängig gemacht werden.

Die Wahlleiterin verzog ihren Mund zu einem sanften Lächeln und sagte: „Das macht nichts, ich hab‘ schon gesehen, dass hier sowieso alle CDU wählen.“ Da müsse er nicht auch noch ein Kreuz machen. Die Leute hatten ihr den Zettel in die Hand gedrückt, statt ihn in die Urne zu werfen. Mein Vater ging nie wieder wählen und verweigert bis heute jede Teilnahme am öffentlichen Leben.

Vor kurzem habe ich ihn besucht. Er schaute sich gerade eine Dokumentation an. Sie hieß „Heiraten in der DDR“. Er schaltete nach einigen Minuten den Fernseher aus und bemerkte, dass er zwar ständig eine DDR im Fernsehen sähe, aber bei ihm eigentlich alles ganz anders gewesen war. Und dass jetzt neuerdings das Heiraten schon so interessant sei. Und wann man eine Dokumentation über den Stuhlgang von Ostdeutschen machen würde. Er sagte auch, dass er sich schon wie ein exotisches Tier im Zoo fühle. Ich wartete versessen auf ein paar Informationen über das exotische Wesen vor mir, aber da musste plötzlich etwas im Garten erledigt werden (im November!).

Aber der Vergleich ist zu harmlos: Die Vergangenheit unserer Eltern ist nämlich kein fremdes exotisches Land. Sie ist wie eine verscharrte Leiche, die nur als Zombie in Form von Talkshows oder Quizshows zu uns zurückkehrt und die wir nicht verstehen. Die Geschichten in, sicher sehr gut recherchierten, Fernsehdokumentationen decken sich nicht mit dem, was wir in den Gesichtern unserer Eltern sehen, aber nicht entschlüsseln können. Wir vermuten nur. Wir wissen nicht, wer unsere Eltern sind, wir wissen nicht, aus welchem Land sie kommen, wir wissen manchmal nicht, was wir ihnen zum Geburtstag schenken sollen. Denn das teure Zeug lehnen sie natürlich ab. Sie kaufen günstig in günstigen Supermärkten, meist Familienpackungen mit zwanzig Prozent mehr Inhalt oder zwanzig Prozent Rabatt auf den Preis. Wenn wir über unser Studium reden, erklären wir ihnen das Studiensystem. Dann schütteln sie mit dem Kopf, als lebten wir auf einem sehr bunten, fernen Planeten. Das kann natürlich sein.

Ich habe eine letzte, aber sehr lebhafte Erinnerung: Als meine Familie viel später den ersten und einzigen richtigen Auslandsurlaub unternahm, kam es zu einem Zusammenprall gleich mehrerer Planeten, nur diesmal war auch ein französischer Mautbeamter beteiligt, den mein Vater zunächst für einen Grenzbeamten hielt. Dieser fragte nach einem billet. Billet? Was soll das sein, fragte mein Vater auf Deutsch. „Pardon?“ Gegenfrage. Das ging so ein paar Mal hin und her. Ich erinnere mich, wie mein Vater in den Rückspiegel schaute, mit Panik in der Stimme nach Französischkenntnissen in der Familie fragte und begann, mit dem Franzosen überraschend fließend Russisch zu sprechen. Er sagte plötzlich sehr viel auf Russisch. Niemand verstand ihn. Minutenlang ging das so. Es war ein wunderbarer Augenblick. Wir lagen mit dem Auto an der französischen Mautstation, drei Kinder grölen hinten im Auto. Deutsch, Französisch, Achselzucken, Verzweiflung, Russisch, alles ging durcheinander. Hinter uns mit sicherem Abstand (deutsches Kennzeichen) eine extrem lange Schlange. Im Rückspiegel konnte ich sehen, wie meinem Vater die Augen immer weiter aus den Augenhöhlen hervortraten. Dann herrschte totale Stille. Drückende Schockstarre. Kein gutes Zeichen. Wir saßen im Auge des Orkans. Dann quietschten die Räder. Das bilde ich mir der Dramatik wegen natürlich ein. Also: Keine Räder quietschten. Fakt ist: Unsere Köpfe knickten nach vorn. Mein Vater hatte den Rückwärtsgang eingelegt und das Auto dann schnell gewendet. In den folgenden zehn Minuten fuhren wir als Geisterfahrer die französische Autobahn zurück bis zur nächsten Ausfahrt. Mit einiger Verzögerung, wir standen plötzlich lebendig und unverletzt am Rand einer Landstraße, fingen alle an zu schreien.

Seltsames Verhalten. Mir erscheint das eigenartig und logisch zugleich.

Diese Weltfremdheit, diese Unsicherheit, ein Unwille am Improvisieren, Angst vor dem Fremden, die völlige Ortsunkenntnis im Kommunizieren, die gänzliche Verzweiflung an der Umwelt. Es ist geradezu befremdlich, wenn man sich seine ostdeutschen Eltern anschaut. Und dann empfindet man doch immer Mitleid. Weil wir uns selbst als Kinder des Kapitalismus schuldig fühlen und glauben, ihnen wurde etwas genommen und dass sie wahrscheinlich an einem Trauma leiden. Vermutlich ist das der Grund, weshalb viele junge Ostdeutsche die DDR verteidigen. Gehen Sie bitte einmal nach Halle, Leipzig, Eisenach, Brandenburg. Vielleicht nicht gerade in das bürgerliche Milieu, fragen Sie nicht den Zahnarzt oder den Rechtsanwalt, halten Sie sich an den Stadtrand, an die Trabanten, die das Stadtzentrum umkreisen. Oder noch besser: Werfen Sie einen Blick in die Dörfer. Fragen Sie mal junge Ostdeutsche, was sie von der DDR halten. Sie werden Ihnen dies sagen: „Es war nicht alles schlecht damals, schätze ich.“ Dieses „schätze ich“, „glaube ich“ oder „denke ich“ bezieht sich dabei auf die Erkenntnis, nicht selbst am Ort gewesen zu sein. Nicht einmal diese Grundhaltung wird aber dazu führen, dass sie wenigstens gegen das „neue“ System, den Kapitalismus, mit all seinen Drohungen und Zwängen, aufbegehren - das nur nebenbei bemerkt. Aber für unsere Eltern sind wir dennoch der moralische Vorwurf. Mit jeder Frage, die wir ihnen stellen, drücken wir unser ganzes Unverständnis für ihre Vergangenheit aus.

Aber die Vergangenheit bleibt noch sicher begraben. Sie wurde gut wegretuschiert und übermalt, restauriert. Wer heute durch ostdeutsche Städte spaziert, den muss es befremden, wie hübsch sauber und bunt doch dieses Ostdeutschland ist. Grau? Welches Grau? Die Häuser sind doch pastellrosa - ohnehin eine schlimme Farbe, die nur wenigen, vor allem aber keinem Haus steht; oder pastellgrün, vergoldete Renaissancetürmchen lachen in die von grünen Kastanien gesäumten Alleen, lange glatte Einkaufspassagen laden zum Wochenendshopping ein, glitzernde Bars sind darauf versessen, den nächsten Tequila Sunrise zu zaubern. Selbst aus den Plattenbausiedlungen sind die Graustufen herausgesogen. Das Schweigen unserer Eltern findet also auch im Stadtbild einen Komplizen. Wir kennen die Geschichten nicht, wir wissen nicht einmal, wie die DDR aussah.

Und nun fragen Sie zu Recht: Was wollen wir dann? Warum das Ganze hier?

Ich möchte keinen Sitzkreis mit Ostdeutschen abhalten, erstens. Keinen Parteitag der Gefühle und Erinnerungen. Und zweitens: Die Freude über dieses Deutschland wächst nicht, wenn man uns mit vielen euphorischen Bildern aus dem Fernsehen dazu nötigt. Sie decken sich nicht mit der Realität. Diese Bilder sind nur der Ersatz für die fehlende Erinnerung, für eine fehlende Sprache. Sie sind Trugbilder, ein Schein, die Halluzination eines Happy Ends. Sie sind die unangemessene falsche Fährte. Denn für die DDR haben wir noch keine Sprache, keine Begriffe gefunden.

Ich werde oft gefragt, ob sich diese Generation mit der 68er-Jugend vergleichen ließe, die ihrerseits von den Eltern gefordert hatte, mit der Nazivergangenheit aufzuräumen. Ob wir ähnliche Forderungen formulieren können oder sollten, werde ich gefragt, ob das Schweigen über die DDR vergleichbar sei mit dem Schweigen über die Nazivergangenheit. Nichts läge weiter auseinander als diese zwei Beispiele aus der deutschen Geschichte. Es ist vielmehr ein vulgärer Gedanke. Nicht nur für Ostdeutsche. Auch für das unendliche Leid der im Nationalsozialismus verfolgten Juden, Kommunisten, Kritiker oder der zum Tode geweihten Schwachen. Kein Ostdeutscher hat überdies seinen Nachbarn per Denunziation in den Tod geschickt. Der Staat ist in der DDR kein Verführer gewesen, der die Massen blendete, und kein Ostdeutscher behauptet im Nachhinein, er sei geblendet worden von einer dämonischen Ideologie. Das heißt: Wir stellen keine Schuldfrage. Das Phänomen aber, in einer Diktatur zu leben und sich offenbar darin wohl zu fühlen und dabei auch das Leid von Gegnern oder Kritikern so weit auszublenden - das möchte ich nicht nur aus einem Geschichtsbuch erfahren.

Und wenn wir auch keine Schuldfrage stellen, dürfte uns mit den 68ern immerhin eines verbinden: Die Lebensrealität der Eltern ist eine ganz andere, weil sich die Gesellschaft ruckartig verändert, ein System das andere abgelöst hat. Und das Schweigen darüber ist dann vor allem eine hohe und dicke Mauer, die uns von unseren Eltern trennt.